Als Isaacs schon die Tür schließt, quetscht sich Fleet ins Besprechungszimmer. Er nickt in meine Richtung, worauf ich zur Erwiderung den Kopf senke und mir lose Haarsträhnen aus dem Gesicht streiche. Der frische Zigarettengeruch, der ihn umgibt, setzt mir zu.
Breitbeinig vorn im Raum stehend, beginnt Ralph mit einführenden Worten zum Fall Miller. Wir haben etwas unscharfes Videomaterial von einem nahe gelegenen Parkplatz aufgetrieben, auf dem eine verschwommene Gestalt um die Zeit des Angriffs auf Walter rasch eine Ecke des Bildschirms durchquert. Es scheint sich um eine junge männliche Person zu handeln, passend zu der Beschreibung, die wir von Lara haben, vielleicht etwas über mittelgroß, was das Feld kaum eingrenzt. Walter selbst hatte offenbar keine Feinde. Seine dürftigen Krankenunterlagen verzeichnen nur eine leichte Lernbehinderung. Er scheint ein Einzelgänger gewesen zu sein und sich bislang aus Schwierigkeiten herausgehalten zu haben. Die erste Obduktion ergibt eine einzelne tiefe Stichwunde in der Brust und Prellungen am Schlüsselbein, wo ihn der Mörder wahrscheinlich mit dem Unterarm gegen die Tunnelwand gedrückt hat.
Beim Betrachten der grausigen Fotos versuche ich alles andere außer den Spuren von Gewalteinwirkung auszumachen: die fahle faltige Haut, das Spinnennetz von Adern, den zerzausten Bart und die schmutzigen, abgebrochenen Fingernägel.
Nachdem Ralph uns auf den neuesten Stand gebracht hat, schließt Isaacs sich ihm vorne im Raum an. Zunächst sieht er die kleine Gruppe nur an, ohne etwas zu sagen, und ich spüre, wie wir alle verlegen werden. Ich schlage die Beine übereinander und wieder auseinander, versuche meinen grummelnden Magen zum Schweigen zu bringen.
»Wir wissen zwar, dass unser Opfer obdachlos war, und das schon seit Langem, aber nicht«, sagt Isaacs und sieht von einem zum anderen, »ob er aus diesem Grund getötet wurde.«
Dank Calvin, der mich kurz vor der Besprechung informiert hat, weiß ich, worauf Isaacs hinauswill. Vor etwa zwei Jahren wurden in ganz Melbourne vermehrt Obdachlose zusammengeschlagen. Damals stürzten sich die Medien auf die Story, ein Journalist übernachtete sogar eine Woche lang auf der Straße und berichtete von der »vordersten Front der Armut«. Einer der vier Überfallenen erlag seinen Verletzungen, und die ganze Stadt war monatelang aufgescheucht. Obwohl einige Überfälle von Überwachungskameras festgehalten wurden, wurden die Täter bedauerlicherweise nie gefasst. Damals schien die wahrscheinlichste Erklärung, dass sich die Schläger an wehrlosen Opfern abreagieren wollten, die sie auf der Straße gefunden hatten: einsam, schwach und verletzlich, ohne Angehörige, die sie zu Hause erwarteten. Ohne Beschützer.
»Tja, einen Raubüberfall können wir jedenfalls ausschließen«, sagt Fleet und grinst über seinen eigenen Witz.
Isaacs sieht ihn lange mit ausdrucksloser Miene an, ehe er sagt: »Ich gebe der Presse heute Nachmittag die Anzahl der zusätzlichen Streifenpolizisten durch, die wir nachts einsetzen werden.« Er lässt seinen Blick aus grauen Augen durch den Raum wandern und fährt fort: »Fleet, Woodstock und Senna, Sie holen mit Myers Aussagen in Obdachlosenunterkünften und von Zeugen vom Hörensagen ein.«
In der Reihe vor mir nickt Chloe Senna, sodass die gerade Schnittkante ihres dichten blonden Haars auf den Schultern auf und ab wippt. Versonnen streicht sie sich über den schwangeren Bauch. Fleet setzt sich rechts von mir etwas um und tritt mich seitlich gegen den Schuh.
Ralph räuspert sich. »Wir haben drei andere Obdachlose identifiziert, die öfter in Millers Gesellschaft waren, und glauben, dass zwei davon ihn am Tag vor seiner Ermordung getroffen haben. Natürlich brauchen wir so bald wie möglich ihre Aussagen. Und wir brauchen einen genau aufgeschlüsselten Überblick über Millers Gewohnheiten und Aufenthaltsorte. Wir müssen wissen, ob irgendwer ihn schikaniert hat oder ob er in letzter Zeit in irgendwelche Streitereien verwickelt war oder etwas erwähnt hat, das mit seinem Mord zu tun haben könnte. Nach Möglichkeit will ich am Freitag Berichte sehen.« Ralph wirft sich in die Brust und genießt es, Anweisungen zu erteilen.
Isaacs nickt die Maßnahmenliste anerkennend ab. »Es ist ein Jammer, dass wir wegen des Jacoby-Falls immer noch unterbesetzt sind, aber wir müssen uns eben nach der Decke strecken«, sagt er. Nach einem vielsagenden Blick auf Nan verirrt sich sein Blick in meine Richtung. »Ich will nicht, dass wir Jacoby aus den Augen verlieren.«
Neben mir unterdrückt Fleet ein Rülpsen.
Ich bin mir nicht sicher, in welche Gruppe ich eigentlich gesteckt wurde. Wahrscheinlich muss ich Fleet mit den Aussagen von Millers Bekannten helfen, doch Isaacs scheint auch von mir zu erwarten, dass ich Nan im Fall Jacoby unterstütze.
Bevor ich ihm zustimmen kann, rattert Isaacs eine Liste von Aufgaben herunter, die er Fleet und mir zusätzlich zu Myers’ Anweisungen erteilt; unter anderem sollen wir das Videomaterial der Überfälle von 2016 besorgen. Isaacs scheint hauptsächlich mich im Blick zu haben, und ich werde das Gefühl nicht los, etwas falsch gemacht zu haben. All meine Energie, die ich vorhin zusammengenommen hatte, ist verpufft, und ich blicke mich nach den anderen um, überzeugt, außen vor zu sein. Frustriert sehe ich mir erneut Millers Obduktionsfotos an. Ich will den Fall leiten, doch Isaacs traut mir das offensichtlich nicht zu, obgleich ich als Erste am Tatort war. Mit zusammengebissenen Zähnen befürchte ich eine entsetzliche Sekunde lang, gleich in Tränen auszubrechen.
Es ist schwer hier, gestehe ich mir ein. Schwerer, als ich gedacht hätte. Es gibt keine Sonderbehandlung, kein ermutigendes Zuzwinkern von Jonesy. Kein Knuddeln mit Ben nach Feierabend. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob ich einen Riesenfehler gemacht habe. Manchmal überlege ich schon, wozu das alles. Ich bin Mutter eines Sohnes, den ich offensichtlich nicht betreuen kann und dessen Vater möglichst wenig mit mir zu tun haben will. Mein altes Leben, das einzige, das ich je hatte, ist über tausend Kilometer weit weg. Es gibt nichts, worauf ich mich freue, merke ich, ein Gedanke, der sich mir wie ein Laserstrahl ins Hirn bohrt. Und unterdessen gehe ich mit Fremden ins Bett, gebe mich für jemand anders aus, als ich bin, während ein durch und durch guter Mann Interesse an mir bekundet. Draußen vor dem Fenster wendet eine Krähe den Kopf hin und her und beäugt mich so lange über den Schnabel hinweg, bis ich wegsehen muss.
Ich bin mit wahrer Leidenschaft Polizistin, verspüre den instinktiven Drang, für Gerechtigkeit zu sorgen; aber Verbrechen gänzlich auszumerzen, wäre auch nichts für mich – Tod und Schrecken sind mein Antriebsmotor. Ich habe sonst nichts: keine Hobbys, nichts, um über kurz oder lang meine Freizeit auszufüllen. In einer utopischen Welt rein harmonischer Güte wäre ich aufgeschmissen. Ich weiß wirklich nicht, was aus mir werden würde, wenn Schluss wäre mit Morden, Schmerzen und Verletzungen. Im tiefsten Inneren hege ich den Verdacht, dass dann auch mit mir Schluss wäre. Zum Glück scheint sich die Menschheit die größte Mühe zu geben, dafür zu sorgen, dass sich mir in nächster Zukunft keine derartige Perspektive bietet. Wir haben einfach zu viel Freude daran, unseren Mitmenschen wehzutun.
Isaacs bittet Nan um ein kurzes Update für die anderen im Fall Jacoby. Da der nun schon fast sechs Wochen alt ist, beginnen alle die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass er ungelöst bleiben könnte. Der Übergang ist regelrecht spürbar: Hoffnung und Optimismus verbreiten einen bestimmten Geruch, Niedergeschlagenheit riecht ganz anders. Nan hat allerdings meine Hochachtung: Der felsenfesten Überzeugung, dass sie ihren Täter schnappen wird, ignoriert sie standhaft den immer penetranteren Geruch nach Aussichtslosigkeit, der von ihren Kollegen ausgeht.
Der Fall Jacoby ist eins dieser komplizierten Rätsel, wie man sie sich als junge idealistische Ermittlerin mit unerschütterlichem Glauben an das Rechtssystem erträumt. Einem Haufen skeptischer Detectives, die das Spielchen mittlerweile in- und auswendig kennen, geht er einfach nur auf den Keks. Eines Sonntagmorgens liegt eine Tote am Fuß eines Luxusapartmenthauses. Rasch stellt sich heraus, dass sie aus der Penthousesuite gestürzt ist, wo sie am Vorabend an einer Weihnachten-im-Juli-Party teilnahm. Ginny Frost war ein siebenunddreißigjähriges Callgirl. Die Leichenschau gab wenig her, aber einige ihrer Verletzungen deuten darauf hin, dass sie hinuntergestoßen wurde.
Zu allem Überfluss ist Frank Jacoby Eigentümer der Suite, ein pensionierter oberster Richter Ende sechzig. Charmant und mit besten Verbindungen, hat er die reichen und Mächtigen fest in der seidengefütterten Tasche. Er ist mit der Wissenschaftskoryphäe und Künstlerin Ivy Strachan verheiratet, was ihn noch nie von einem »gesunden Interesse an der bunt gemischten Frauenwelt« abgehalten hat, wie er sein Schürzenjägertum in einem der vielen Verhöre umschrieb, die Nan mit ihm führte.
»Wenn diese Wände reden könnten, würden sie uns lauter schmutzige Geschichten erzählen«, lautet Nans Urteil, während sie den schier endlosen Stapel Fotos durchsieht, die jeden Quadratzentimeter der Wohnung festhalten.
Doch die Wände können nicht reden, ebenso wenig wie es auch nur einer der Gäste tun will, die an der aufwendigen, von Jacoby in jener verhängnisvollen Nacht veranstalteten Party teilnahmen. Als einziger Hinweis liegt uns die Aussage von Ginnys Freundin Sasha Cryer vor, die in jener Nacht – aus dem Fenster eines Gästezimmers – gesehen haben will, wie sich Jacoby und Ginny auf dem Balkon stritten. Leider ist Sasha auch ein Callgirl und drogensüchtig, und der gut aussehende Blonde, der den Streit nach ihren Worten ebenfalls bezeugen könnte, ist entweder wie vom Erdboden verschluckt oder eine Ausgeburt ihrer Fantasie.
Mir entgeht nicht, dass selbst Nans stets ungebrochen resolute Entschlusskraft dank Jacobys hartnäckigen Leugnens, seiner treu ergebenen Kumpane und passiv-aggressiven Drohungen gegen unser Dezernat bröckelt. Die Medien sind auch nicht eben hilfreich – abstruseste Theorien und schlüpfrige Recherchen fluten seit Wochen die Zeitungstitelseiten und sozialen Medien, wobei die generelle Inkompetenz der Kriminalpolizei eine nicht wegzudenkende Komponente sämtlicher Storys ist.
Jetzt präsentiert Nan die letzten Ansatzpunkte in diesem Fall; es geht fast ausschließlich darum, den fehlenden Zeugen aufzustöbern. Ich zupfe an einem Stück Nagelhaut herum. Als ich es abbeiße, schmecke ich zu meiner eigenen Überraschung Blut. Unauffällig sauge ich an dem Finger. Ich mag den Kupfergeschmack. Doch dann merke ich, dass Isaacs mich mit gerunzelter Stirn ansieht. Sofort ziehe ich den Finger aus dem Mund und konzentriere mich pflichtschuldigst auf meinen Notizblock.
Mit einem Blick auf Fleet frage ich mich, ob auch er sauer ist, dass ihm nicht die Leitung des Falls Miller übertragen wurde. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass wir ausgeschlossen werden – dass Isaacs mit uns spielt, zwar Größeres mit uns vorhat, aber erst, wenn er meint, dass wir dem gewachsen sind.
Seufzend wende ich mich wieder Nan zu. Ich finde sie zwar abweisend, würde aber gern enger mit ihr zusammenarbeiten; vielleicht würde dann etwas von dem Glanz, der sie offenbar in Isaacs Augen umgibt, auf mich abstrahlen.
»Alles klar, an die Arbeit«, sagt Isaacs. »Ich erwarte einen richtigen Vorstoß, um Jacoby festnageln zu können. Entweder wir finden diesen fehlenden Zeugen, oder wir müssen damit abschließen. Ich weiß nicht, ob wir dann eine interne Untersuchung abwenden können, aber wir geben unser Bestes. Und lassen wir diesem Obdachlosen Gerechtigkeit widerfahren. Falls die Sache mit den alten Überfällen zusammenhängt, will ich es wissen. Sind alle bereit?«
Ein vielstimmiges »Ja, Sir« begleitet seinen Abgang.
Fleet schiebt sich grob an mir vorbei, immer noch nach Zigarettenrauch riechend, unterwegs zum Parkplatz. Verärgert und mit schmerzendem Finger sehe ich ihm hinterher, ehe ich mich wieder an meinen Schreibtisch setze, um mir unscharfe Videoaufnahmen gesichtsloser junger Männer anzusehen, die ihre Mitmenschen bewusstlos schlagen.