Montag, 20. August

8.05 Uhr

»Womit haben wir es hier also zu tun?« Isaacs ist als Einziger im Raum auf den Beinen, und er wirkt heute genauso angespannt wie gestern gegen Mittag, als er auf die Wache kam, um sich meine Theorie anzuhören. »Na?« Er stützt die Hände auf eine Stuhlrückenlehne, lässt die Schultern sinken und sieht uns einen nach dem anderen an.

Den auffordernden Blicken nach zu urteilen, die Ralph und Billy mir zuwerfen, steht wohl fest, dass ich antworten soll.

Ich öffne den Mund, aber Fleet kommt mir zuvor. »Wir haben mit Mary-Anne gesprochen. Sie hält es für möglich, dass Woodstock recht hat und die beiden Verbrechen von ein und derselben Person begangen wurden.«

Ich sehe ihn an, überrascht, dass er sich so für mich in die Bresche schlägt. »Ja«, mache ich weiter. »Mary-Anne meint, die Mordwaffe im Fall Wade könnte dieselbe sein, die Walter Miller getötet hat. Die Wunden stimmen überein, aber wir warten noch auf die Ergebnisse vom Bluttest. Was es zu bedeuten hat, wenn es tatsächlich derselbe Täter war, wissen wir noch nicht.«

Isaacs zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen, als hätte er Schmerzen. »Und wir können die Testergebnisse nicht früher bekommen?«

»Wir haben gefragt. Hoffentlich erhalten wir das Ergebnis in den nächsten Tagen«, antwortet Fleet.

Isaacs schließt kurz die Augen und gibt einen dezenten Grunzlaut von sich. »Okay, aber bis dahin gibt es keine stichhaltigen Beweise für einen Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen, stimmt’s?«

Ich merke, dass mein Herz wie verrückt klopft. Auf meiner Haut liegt ein Schweißfilm, es ist nicht genug Sauerstoff in der Luft, und aller Augen sind auf mich gerichtet, was es mir schwermacht, die richtigen Worte zu finden. Ich setze mich aufrecht hin und stelle mir bildlich vor, dass ich meine Nerven zügle. »Nein, Sir, keine stichhaltigen Beweise, nur das, worüber wie gestern gesprochen haben. Vor allem die räumliche und zeitliche Nähe. Und dass beide Verbrechen dreist und ohne vorhergehende Provokation begangen wurden.« Isaacs holt Luft, um mich zu unterbrechen, daher rede ich hastig und entschlossen weiter. »Mir ist klar, dass der Fall Wade anders aussieht, aber beide Taten wurden an sehr öffentlichen Orten verübt. Fast wie Hinrichtungen. Vielleicht ist das eine Gemeinsamkeit.«

Ich möchte unbedingt, dass meine Theorie stimmt und wir einen deutlichen Fortschritt machen. Hoffentlich hört niemand außer mir den leicht flehenden Unterton in meiner Stimme.

»Es könnte ein Serientäter sein«, meldet sich Chloe zu Wort; als sie auf ihrem Stuhl hin und her rutscht, fängt sich das Licht in ihrem Haar.

Isaacs scheint das nicht zu gefallen. »Nichts deutet darauf hin«, sagt er bestimmt.

»Allerdings geben mir die krassen Gegensätze zwischen Walter Miller und Sterling Wade zu denken«, sage ich zur Gruppe. »Schließlich haben die beiden so gut wie nichts miteinander gemeinsam. Dafür habe ich eigentlich keine Erklärung, es sei denn, der Täter hätte beide gekannt.«

»Vielleicht haben wir es mit einem Sammelkiller zu tun«, meint Calvin. »Vielleicht ist es eine kranke Challenge, unterschiedliche Menschentypen zu überfallen. Könnte was aus dem Internet sein.« Er sieht sich Beifall heischend um. »Ihr wisst schon – Obdachloser, Promi, Pfarrer, Kind.« Er schluckt. »Das Wahllose könnte die Strategie sein.«

Auch wenn mir Calvins Theorie nicht behagt, hatte ich selbst kurz etwas Ähnliches überlegt. Aber als ich sehe, wie Ralph ein höhnisches Grinsen unterdrückt, verkneife ich mir einen Kommentar.

»Wissen wir mit Bestimmtheit, dass es keine Verbindung zwischen Wade und Miller gibt?«, fragt Nan. »Wade hat nicht irgendwann ehrenamtlich in der Obdachlosenhilfe gearbeitet oder irgend so was?«

»Da müssen wir noch weiter recherchieren«, erwidere ich, »aber bislang hat sich nichts ergeben. Natürlich könnten sie einander irgendwann begegnet sein, ohne dass es dokumentiert ist.«

»Vergessen wir all das jetzt mal eine Minute«, sagt Isaacs und fegt meine lästige Theorie vom Tisch. »Wie weit sind wir mit allem anderen?«

Wieder sehen alle mich an. »Wir arbeiten uns durch eine Riesenmenge an Informationen. Hauptsächlich Alibis. Zugegeben, wir wissen nicht, ob wir den Täter auf dem Radar haben, aber was uns bekannte Personen angeht, so haben wir immer noch keine Bestätigungen für den genauen Verbleib von Brodie Kent und Paul Wade zum Tatzeitpunkt. Fleet und ich möchten uns Paul näher ansehen, auch wenn er uns nicht unbedingt verdächtig vorkommt. Wir würden ihn gerne vernehmen, und zwar mit härteren Bandagen, um zu sehen, was dabei herauskommt. Selbst einige andere Personen aus dem Umfeld lassen sich nicht völlig ausschließen. Ava James behauptet zum Beispiel, allein in ihrem Wohnwagen in der Nähe gewesen zu sein. Uns wurde auch noch berichtet, dass jemand Wade Wochen vor seinem Tod gefolgt ist.« Ich halte inne und sehe mich im Raum um. »Und dann ist da noch der Streit zwischen Wade und Riley Cartwright am Sonntag. Wie relevant der ist, können wir noch nicht einordnen.«

Fleet fällt ein: »Mit dem restlichen Filmteam kommen wir nicht weiter. Den Befragungen nach zu urteilen, sieht es so aus, als wäre eine zusätzliche unbekannte Person in Wades Nähe gewesen, die wir aber vom Videomaterial her nicht identifizieren können. Wir haben eine Masse Zeugenaussagen, die uns absolut gar nichts bringen. Die Security-Firma behauptet, dass es an dem Nachmittag zu keinen Übertretungen kam – aber was sollen sie auch sonst sagen. Alle mussten sich beim Ein- und Austritt an- und abmelden, es wäre also schwierig, aber nicht unmöglich gewesen. Und die Hintergrundchecks haben höchstens Bagatelldelikte in der Vergangenheit ergeben. Wenn unser Mann Hilfe von einem Insider hatte, wird sich das schwer ermitteln lassen.«

Ich seufze innerlich beim Gedanken an den Datenberg, durch den wir uns noch wühlen müssen.

»Na gut, na gut«, sagt Isaacs und hält eine Hand hoch, wie um unsere Inkompetenz abzuwehren. Er legt seine untere Gesichtshälfte in eine Hand und zieht die Haut nach unten. »Ralph und Billy, Sie machen am Fall Miller weiter wie gehabt. Ich weiß, dass Sie jetzt sowieso weniger Kapazitäten haben, und will nicht, dass der zu kurz kommt. Wenn diese neue Theorie keine Ergebnisse zeitigt, müssen wir Ihre Einheit nächste Woche weiter verkleinern.« Er sieht erst mich an und dann zur anderen Seite des Raums. »Nan, Calvin, ich möchte, dass Sie diesem möglichen Zusammenhang nachgehen. Halten Sie Woodstock und Fleet den Rücken frei, damit sie ohne Ablenkung andere Perspektiven auf den Fall Wade ausloten können. Chloe, Sie bleiben zur Unterstützung beim Fall Wade.«

Mein Kopf ruckt, noch bevor ich den Sinn von Isaacs Worten ganz erfasst habe.

»Wir stecken immer noch ziemlich tief im Jacoby-Morast«, sagt Nan düster. »Die Angehörigen von Sasha Cryer haben sich mit den Frosts zusammengetan und drängen auf eine gerichtliche Untersuchung, die sie wahrscheinlich bekommen werden, jetzt nach ihrem Selbstmord.«

»Also ich möchte, dass Sie beides schultern«, gibt Isaacs zurück. »Unsere Ressourcen sind begrenzt, und man hat mir von oben deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich mit dem begnügen muss, was da ist.«

Nan nickt rasch, während ihr Gesichtsausdruck zu erkennen gibt, dass sie sich mit der allgemeinen Hoffnungslosigkeit der Truppe, ihrer spartanischen Ausstattung und unserem trübseligen Leben abgefunden hat.

»Gut«, sagt Isaacs. »Haltet mich alle mit neuen Erkenntnissen auf dem Laufenden. Und kein Wort davon an die Medien – ich will keine Reportagen mehr sehen, in denen die Sicherheit der Stadt angezweifelt wird.«

Die anderen erheben sich, und ich springe ebenfalls auf. Vor Frust habe ich die Fäuste geballt. Mit einer Hand auf meiner Schulter dirigiert Fleet mich aus dem Zimmer, weg von den anderen. So bugsiert er mich bis zum Parkplatz raus. Die kalte Luft trifft mich wie ein Wasserstrahl, packt meinen Brustkorb und verdrängt stoßartig den Rest warmen Atem.

»Was ist?«, fauche ich. »Warum sind wir hier draußen?«

Fleet klopft eine Zigarette aus seinem Päckchen. »Weil ich nach unserer ganz speziellen anfeuernden Chefansprache eine rauchen muss. Und du dich einkriegen.«

Ich verschränke abwehrend die Arme. Ohne Jacke ist es eiskalt hier draußen. Der Wind hat Einfallstore in meinen Kleidern gefunden und sticht mir in die Poren.

»Mir geht’s gut«, sage ich und stampfe auf der Stelle.

»Sicher doch«, sagt Fleet und verschwindet hinter einer Rauchwolke. »Du bist so was von begeistert, dass Isaacs deinen Hinweis Nan und ihrem treuen Labrador zum Weiterverfolgen hingeworfen hat.«

»Warum vertraut er uns nicht?«, sage ich mit ekelhaft weinerlicher Stimme.

»Vielleicht, weil wir ihm noch keinen Grund dazu geliefert haben«, sagt Fleet schroff, aber mit nettem Lächeln. Gleich darauf werden auch meine Mundwinkel von einem Lächeln angehoben, und ich verdrehe die Augen darüber, wie kindisch das von mir war.

Fleet zwinkert mir zu. »Komm schon, Woodstock, du bist neu hier, und ich bin ein Wackelkandidat, wir haben also was zu beweisen.« Mit zusammengekniffenen Augen saugt er das letzte bisschen Rauch aus der Kippe. »Aber das Gute ist, wir haben nicht viel zu verlieren.«

»Wir knöpfen uns trotzdem den Miller-Bezug vor, okay?«, versuche ich es.

»Klar. Das wird unser Nebenjob«, sagt er lachend.

»Kann ich eine abhaben?«, frage ich nach einer Weile.

Er nickt und versteckt sein Lächeln nicht ganz, als er sie mir reicht. »Übrigens«, sagt er, während ich sie mir anzünde, »findest du es nicht seltsam, dass die Wades ihn hier beerdigen?«

»Doch, schon, ich hätte gedacht, dass sie ihrem Sohn in ihrer Heimatstadt das letzte Geleit geben wollten, aber in Melbourne war wohl sein Lebensmittelpunkt. Außerdem werden sie es hinter sich bringen und dann in aller Ruhe nach Karadine zurückfahren wollen. Wahrscheinlich möchten sie nicht, dass sie dieses ganze Blitzlichtgewitter bis nach Hause verfolgt.«

Fleet kratzt sich durchs Hemd den Bauch. »Kann sein. Ich bin gespannt, wie sie damit fertigwerden, dass seine Pflegefamilie da sein wird.«

»Sicher nicht einfach, wenn man seine Kinder mit anderen Leuten teilen muss«, sage ich. Mir zerspringt das Herz im Leib, wenn ich mir vorstelle, dass Ben mich durch eine andere Frau ersetzt, was bei der Situation, für die ich verantwortlich bin, durchaus im Bereich des Möglichen liegt.

»Nein, sicher nicht«, sagt Fleet und schaut auf sein Handy. »Mein Gott, einunddreißig Hotline-Anrufe seit gestern!«

»Verrückt, oder?«, antworte ich und trete von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte zu verscheuchen.

»Allerdings«, sagt er. »Hast du die Kisten im Besprechungsraum gesehen?«

»Nein.«

»Die ITler haben Sterlings sämtliche Social-Media-Posts des letzten halben Jahres ausgedruckt. Und alle seine Privatnachrichten. Und alle E-Mails, die an Wendy geschickt wurden. Dazu kommen die Briefe auf Papier, per Post. So einen Riesenhaufen Müll hab ich noch nie im Leben gesehen.«

Ich stelle mir alle diese Leute vor, die in ihren Zimmern oder Büros, in Straßenbahnen oder Klassenzimmern hocken und einem Mann, dem sie nie begegnet sind, Liebeserklärungen, Hassbotschaften und alles dazwischen senden.

»Heftig«, murmle ich.

»Genau«, sagt Fleet. »Und ich hab letztes Jahr nicht mal eine Weihnachtskarte gekriegt.« Er räuspert sich und spuckt gezielt auf den Boden. »Sorry«, sagt er mit wenig reuigem Schulterzucken und geht wieder rein.

Ich marschiere im gleichen Takt hinter ihm drein, bemüht, mit seinen langen Schritten mitzuhalten, und bemerke, wie sich eine vorwitzige Haarlocke oben in seinen Hemdkragen stiehlt. Mag sein, dass der Fall Wade ins Bodenlose ausufert, doch ich habe zum ersten Mal seit Langem das Gefühl, einen Verbündeten zu haben.