Samstag, 25. August

14.59 Uhr

Mein Herz will keine Ruhe geben, während ich das kurze Stück zu meinem alten Haus fahre. Ich fühle mich wie auf Droge, jede Faser meines Körpers gereizt, die Räder in meinem Kopf schwirren förmlich, so schnell, dass ich eigentlich an nichts mehr denken kann.

Mit quietschenden Reifen biege ich in meine alte Straße ein und atme einen jähen Schluchzer weg, während ich ein paar Meter von dem Haus halte, das jetzt Scott gehört. Mit vor den Mund geschlagener Hand sehe ich mich im Rückspiegel an und lasse den Gefühlsansturm vorüberziehen. Ich weiß, dass es kindisch ist, lächerlich. Mum ist seit so vielen Jahren tot, und Dad hat ein Recht auf Glück. Ich wohne nicht mal mehr hier. Was stimmt nicht mit mir? Ich rede mir selbst gut zu und liste alle Gründe auf, warum diese Ehe wünschenswert ist, doch meine Hände hören nicht auf zu zittern, und ich bin den Tränen gefährlich nahe.

Hinter mir biegt Scotts Auto in die Straße ein. Unerklärlicherweise hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass die beiden nicht da sein könnten. Er stellt den Wagen in der Einfahrt ab und springt raus, um Ben vom Rücksitz zu holen. Ben kommt mit einem Fußball in den Händen zum Vorschein, strampelt mit den kurzen Beinchen und bringt Scott zum Lachen, bis er ihn absetzt. Er flitzt über den vorderen Rasen, dreht sich dann um und ruft Scott etwas zu.

Scott ruft zurück, ehe er sein Handy anstellt, mit dem Daumen über das Display scrollt und es wieder abstellt. Er sieht wie ein netter Mann aus. Ein netter Typ. Er hat immer noch etwas Umgängliches, Freundliches, selbst nach allem, was ich ihm angetan habe. Sein Haar ist putzig verwildert. Er ist mittelgroß, von mittlerem Körperbau, ein Durchschnittstyp. Und ein weitaus besserer Mensch als ich.

Er bückt sich und bedeutet Ben, ihm den Ball zuzukicken.

Ich steige aus, blinzle in die Sonne, während Scott losprescht, um zurückzuschießen. Beide drehen sich zu mir um, als ich die Autotür zuschlage. Scotts Blick trifft auf meinen, und er kommt mit dem Kopf wieder auf Augenhöhe mit mir. Mit leicht gerunzelter Stirn setzt er sich in Bewegung.

Ich hebe die Hand zum Gruß, als besuchte ich einen entfernten Verwandten. Als ich sie wieder senke, sackt sie mir klatschend an die Hosennaht, und ich muss mich zusammenreißen, damit mir die Tasche nicht von der Schulter rutscht. Ich fühle mich hilflos.

»Gem«, sagt Scott, und die Jahre unserer Nähe münden in diesen einen vertrauten Klang.

»Mum!«, ruft Ben, rennt über den Rasen und springt mir in die Arme. Als ich ihn hochhebe, bilden sich Knitterfalten um Scotts Augen, aber ich kann nicht erkennen, ob liebevoll oder verärgert. Das konnte ich noch nie.

Scott kommt rüber und legt mir betont brüderlich einen Arm um die Schulter. »So eine Überraschung«, sagt er in neutralem Tonfall.

»Mum! Mum! Mum!«, ruft Ben immer wieder. »Wir haben nicht gewusst, dass du kommst.«

»Ich hab es ja selber kaum gewusst«, sage ich.

»Was machst du hier?«, fragt Scott.

Ich setze Ben wieder ab und halte seinen kleinen Kopf in beiden Händen. Ich verspüre eine so heftige Sehnsucht nach ihm, dass ich nicht weiß, wohin mit mir.

»Ich musste mit jemandem reden, der hier in der Gegend wohnt, da hab ich mir gedacht, ich besuche euch. Und ich hab gehört, dass morgen jemand eine ganz besondere Fußballvorführung hat.«

»Kommst du zum Turnier, Mum?«

Lächelnd küsse ich ihn auf die Nasenspitze. »Ja, Schätzchen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Ach was«, sagt Ben, und der Knoten in meinen Eingeweiden löst sich allmählich auf. »Guck mal, wie weit ich den Ball schießen kann, Mum«, sagt er und wetzt über den Rasen davon.

Scott und ich sehen Seite an Seite unserem kleinen Jungen zu.

»Fährst du am Montag nach Melbourne zurück?«

»Ja.«

»Ben wird sich unheimlich freuen, wenn du morgen da bist, weißt du.«

»Ja. Ein Glück, wie sich das ergeben hat.«

»Aber du hättest mir vorher Bescheid sagen sollen, dass du kommst. Du kannst hier nicht einfach so unangemeldet aufkreuzen, Gem.«

»Tut mir leid.«

Ben schießt in seinem imaginären Spiel ein Tor und läuft jubelnd im Kreis.

»Wirst du deinen Vater besuchen?«, fragt Scott.

»Von da komm ich gerade«, sage ich, während die Nervosität wieder in mir hochkocht. »Er hat mir gesagt, dass Rebecca und er verlobt sind und sie bei ihm eingezogen ist.«

»Ah«, macht Scott und zieht den Kopf ein.

»Du hast es gewusst!«, rufe ich gekränkt.

»Ich hab ihren Ring bemerkt«, sagt Scott kleinlaut.

»Was bist du bloß für ein verdammt schlauer Detektiv«, sage ich gallig.

Scott sieht aus, als wollte er etwas erwidern, überlegt es sich aber anders. Während sein Blick weiter auf Ben ruht, sagt er: »Ich hab eigentlich noch zu arbeiten, warum bleibst du also nicht bei Ben, und dann gehen wir später zusammen essen, wenn es dir passt? Wir wollten sowieso ausgehen.«

»Klingt toll«, sage ich, froh, dass er es mir so leicht macht.

»Gut, prima.« Wir stehen verlegen herum, bis Scott Ben zuruft: »Hey, kleiner Mann, Mum spielt jetzt mit dir Fußball. Ich hab noch zu tun.«

Ben nickt glücklich. »Mum, du stellst dich an den Briefkasten, und ich zeig dir, wie weit ich schießen kann.«

Ich schiebe alle anderen Gedanken beiseite, nicke und trotte an meinen Platz, für diesmal damit zufrieden, mich herumkommandieren zu lassen.