»Wade hatte also nicht nur die Hauptrolle in einer großen Hollywoodproduktion übernommen«, sagt Fleet, »sondern hat auch auf seinen Weltruhm hingearbeitet, während er eine heimliche Beziehung mit seinem männlichen Mitbewohner hatte und heimlich mit seiner Freundin verlobt war. Außerdem hat er sich in seiner Freizeit ritterlich einen Machoregisseur vorgeknöpft, weil der sich an seine heimliche Promigeliebte rangemacht hat.« Fleet pfeift. »Der Typ muss deutlich besser organisiert gewesen sein als ich.«
»Er muss wirklich sehr beschäftigt gewesen sein«, stimme ich zu, während ich den zivilen Dienstwagen durch einen Haufen wild gewordener Reporter in Richtung des St. Kilda Hotel steuere, wo Wades Hinterbliebene wohnen. »Auch wenn wir nicht wissen, ob das mit Ava tatsächlich mehr war als bloße Freundschaft.«
Ich spüre Fleets Missmut. Er muss es für ausgeschlossen halten, dass Wade mit der schönen Schauspielerin kein Verhältnis hatte.
»Wir wissen eine ganze Menge nicht«, brummelt Fleet. »Da ist mir doch jederzeit der nette, schlichte Obdachlosenmord lieber.«
Ich setze zu einer kritischen Antwort an, bremse mich aber. Ich möchte nicht, dass sich die Spannungen zwischen uns weiter hochschrauben.
Fleet, der darauf bestanden hat, dass ich zum Hotel der Wades fahre, schaut jetzt grummelig aus dem Fenster, während sein Privathandy immer mal wieder mit einer neuen SMS auf seinem Schoß vibriert.
»Willst du die nicht abrufen?«, frage ich steif.
Zur Antwort kommt nur ein Grunzen.
Wir schleichen die St. Kilda Road entlang, die Scheibenwischer auf Höchststufe, um mit dem Starkregen mitzuhalten. Die Radiomoderatoren reden über die Polizeiarbeit im Fall Jacoby. Sie verwenden das Wort »mutmaßlich« inflationär und bleiben gerade mal noch im gesetzlich erlaubten Rahmen. Aus ihrer Perspektive – in der es nur ums Drama geht – klingt es nach einem glamourösen Fall, ganz im Gegensatz zu den Stapeln von Papierkram im Dienstzimmer der Ermittler und Nans frustrierter Schilderung der Zeugenaussagen, die sämtlich in Sackgassen führen.
Leider haben wir trotz aller Ressourcen, die wir hineingesteckt haben, wenig Stichhaltiges in der Hand. Unterdessen gefallen sich die Medien darin, Sasha, die Hauptzeugin, als schwer suchtkrank nach jahrelangem Drogenmissbrauch hinzustellen. Die Entdeckung, dass die Tote, Ginny Frost, Anfang des Jahres einen Selbstmordversuch unternahm, war auch wenig zuträglich. Trotz aller hoch entwickelten Kriminaltechnik, mit der wir unsere Fälle heutzutage wissenschaftlich fundiert beurteilen können, geht es am Ende doch hauptsächlich darum, wer was gesehen hat; wir brauchen unbedingt ein weiteres Augenpaar, gerne jemand Zuverlässigen, um Sashas Beobachtung in jener Nacht erhärtet zu bekommen.
Der junge blonde Mann, der laut Sasha Jacobys Streit mit Ginny ebenfalls mitbekommen haben soll, hat sich nie gemeldet. Und Jacoby leugnet, an dem Abend überhaupt auf dem Balkon gewesen zu sein. »Sie war eine sehr problembehaftete junge Frau«, pflegt er bedauernd zu sagen.
»Hörensagen«, murmle ich.
»Tickst du noch richtig?«, grunzt Fleet, während er rabiat auf sein Handy eintippt.
»Ich hab nur an den Fall Jacoby gedacht. Dass es da wirklich bloß um seine Aussage gegen die des Callgirls geht.«
»Ist das denn in solchen Fällen verdammt noch mal nicht immer so?«
»Wohl schon.«
»Tja, würde wahrscheinlich weiterhelfen, wenn sich der geheimnisvolle Fremde, den die Frau gesehen haben will, nicht in Luft aufgelöst hätte.«
Fleet hat recht. Obwohl sie sehr betrunken war und seine Gesichtszüge in dem dunklen Schlafzimmer nicht erkennen konnte, hat Sasha eine recht brauchbare Beschreibung des jungen Mannes abgegeben – circa Mitte zwanzig, blond, sportlich –, doch offenbar kann sich kein anderer Gast des Abends an ihn erinnern. Die meisten sind um die vierzig oder fünfzig, und wie es der Zufall will, gibt es keine Überwachungskameras im Penthouse-Stockwerk oder den Aufzügen. Auch auf den Überwachungsvideos aus dem Eingangsbereich war niemand zu erkennen, der zu Sashas Beschreibung gepasst hätte. Sehr zu Jacobys Freude sieht es immer mehr danach aus, dass es sich bei dem mysteriösen Fremden um eine Ausgeburt von Sashas Fantasie handelt.
Im Versuch, die Heizung aufzudrehen, hämmere ich auf die Knöpfe am Armaturenbrett ein. »Gott, ist das kalt.«
»Gewöhn dich dran«, sagt Fleet unheilverkündend. »Sie rechnen mit Schnee in den Bergen an diesem Wochenende. Da krieg ich doch glatt Heimweh.«
»Bist du nicht von hier?«, frage ich überrascht. Gewöhnlich halte ich mich für die einzige Zugezogene.
»Nö«, sagt Fleet und würgt das Thema ab.
Ich achte wieder auf die Straße. »Okay, wo fahr ich also hin?«
»Zu so ’nem Angeberschuppen an der Fitzroy Street. Da hinten links rein, nach dem abgestellten weißen Auto.«
Ich lenke uns unbeholfen auf den schmalen Parkplatz. Draußen kommen wir wieder an einer Journalistenmeute vorbei, aller Augen auf ihre Handys fixiert, und an ein paar Kameramännern, die ihre Objektive auf den Hoteleingang ausgerichtet haben.
»Wie Sterlings Geschwister wohl sind?«, sage ich.
Fleet zuckt die Achseln, die Finger wieder an seinem Handy.
Dramatisch läuft Wasser an der Glaswand hinter dem Rezeptionsbereich herab, und eine Frau mit glänzendem Pferdeschwanz und strahlend weißem Lächeln begrüßt uns. »Checken Sie ein?«, erkundigt sie sich.
»Nein«, beeile ich mich zu antworten, während Fleet süffisant grinst. »Wir möchten zur Familie Wade. Wir sind von der Kriminalpolizei.« Ich zeige ihr meine Dienstmarke.
Ihr Lächeln versiegt. »Aber natürlich. Diese armen Menschen. Was für eine Tragödie.« Sie beugt sich verschwörerisch vor. »Ich hab grade online gelesen, dass er und seine Freundin sich erst vorige Woche verlobt haben. Das ist ja so traurig.«
Fleet hüstelt demonstrativ.
»Nun ja, wie auch immer, es ist furchtbar«, sagt die Frau, offenbar darauf reagierend, geht zur anderen Seite der Theke und greift zu einem Telefonhörer. »Ich sage ihnen Bescheid, dass Sie da sind.«
»Verlobungsnachrichten verbreiten sich wie Lauffeuer«, murmelt Fleet mir zu.
»Da es sonst keine neuen Entwicklungen in dem Fall gibt, werden die Medien sich wohl auf alles stürzen, was sie in die Fänge kriegen.«
»Wie die Krokodile«, stimmt er mir zu. »Aber wahrscheinlich hat Lizzie es ihnen gesteckt.«
Das gibt mir zu denken. »Muss wohl so sein. Die Medien waren ihr seit dem Mord auf den Fersen. Vielleicht hat sie sich einfach gedacht: raus damit. Sie wird wollen, dass die Leute es wissen.«
Er dehnt den Nacken. »Oder Sterling hat es jemand anderem gesagt, und derjenige ist damit zur Presse gegangen.«
»Ich frage mich, ob die Wades es schon wissen.«
»Sie können jetzt direkt zu ihnen«, sagt die junge Frau, die den Hörer auflegt. »Einfach da entlang. Zimmer drei, das erste auf der rechten Seite.«
»Danke«, sagt Fleet und schenkt ihr ein charmantes Lächeln. »Bestimmt werden wir es gleich erfahren«, sagt er zu mir.
Mir ist beklommen zumute, während wir durch den Flur gehen. Die Wades hatten jetzt Zeit, den Tod ihres Sohnes zu verarbeiten, und werden wahrscheinlich in der Trauerphase angelangt sein, in der ihnen das Sprechen schwerfällt und sie mit offenen Augen ins Leere starren. Für mich gibt es keine tiefere Trauer als die von Eltern um ein Kind.
Ohne auf mein Zögern einzugehen, streckt Fleet die Hand aus und klopft rasch an die Tür. Kurz darauf wird sie von einem rundgesichtigen jungen Mann geöffnet, dessen Blick zwischen uns hin und her schießt, ehe er fest mit dem Boden verhaftet bleibt. Das verwaschene graue T-Shirt, das er trägt, wird von seinen Körperwölbungen fast gesprengt. Seine Haare haben zwar die gleiche Farbe wie die von Sterling, sind aber dünn und schlaff. Das muss Paul Wade sein, nicht der Schwiegersohn Rowan.
Fleet reicht ihm die Rechte und stellt sich vor. Paul gibt ihm wortlos die Hand und kratzt sich dabei am Nacken.
»Detective Sergeant Woodstock«, sage ich und halte ihm meine Hand hin.
»Die anderen sind drinnen.« Pauls Stimme klingt wie ein leises Grollen. Er ignoriert meine Hand und geht durch den kurzen Flur voraus.
Fleet zieht geräuschvoll etwas Luft ein, während wir ihm folgen.
Der Hauptraum ist ein Wohnzimmer mit offener Küche. Kühlschrank, Backofen und Spüle glänzen in Edelstahl; die Arbeitsflächen sehen nach einem teuren modernen Stein aus.
Die Wades wirken hier völlig fehl am Platz. Matthew trägt ein Flanellhemd und eine Jeans mit hohem Bund. Er hockt auf einem Küchenstuhl und starrt auf die Theke. Seine Frau sitzt auf dem Sofa neben einer üppigen Frau um die dreißig. Melissa, nehme ich an. Sie massiert April rhythmisch kreisend den Rücken und schaut unglücklich drein. April zittert am ganzen Leib. Paul sitzt nicht weit von den Füßen seiner Mutter auf dem Boden, an einen Sessel gelehnt, den Blick auf den stumm geschalteten Fernseher gerichtet, in dem eine Kochsendung läuft. Ich frage mich, ob er unter Schock steht.
Ein Handy klingelt.
»Sie entschuldigen mich«, murmelt Matthew, zieht es aus der Tasche und verschwindet in einem Nebenzimmer.
Ich gehe hinüber und setze mich neben April. »Wie geht es Ihnen, Mrs. Wade?«
Sie scheint mich nicht zu hören.
»Sind das Ihre Kinder?«, frage ich.
Sie nickt mechanisch, und die Frau neben ihr sagt: »Ich bin Melissa.«
Matthew kommt wieder. »Sorry. Ein paar Nachbarn versuchen sich um die Farm zu kümmern. Manche Dinge können nicht warten. Die Tiere.«
»Bitte entschuldigen Sie sich nicht, Mr. Wade«, sage ich.
»Haben Sie Neuigkeiten?« In seiner Frage schwingt ein verzweifelter Ton mit, den ich bewusst überhöre.
»Noch nichts Konkretes«, sage ich ruhig, »aber wir haben eine große Sondereinheit auf den Fall Ihres Sohnes angesetzt. Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um den Täter zu fassen.«
Fleet nimmt sich einen Stuhl, der vor einem kleinen Schreibtisch steht, dreht ihn um und setzt sich rittlings darauf. »Und wie heißen Sie?«, fragt er den Mann, der offensichtlich Sterlings Bruder ist.
»Das ist Paul«, sagt Matthew. »Und das Melissa. Unsere anderen Kinder.«
Pauls Gesicht bleibt ausdruckslos. Als Melissa aufsteht, um mir die Hand zu geben, fällt mir auf, dass sie außergewöhnlich groß ist.
Mir kommt es immer seltsam vor, dass Leute, die aus dem gleichen Genpool zusammengesetzt sind, sich trotzdem so völlig unterschiedlich entwickeln können. Sterlings Geschwister sind beide blond und haben die gleiche Augenfarbe wie die, die ich gestern an die Decke der Leichenhalle starren sah. Aber die Proportionen ihrer Gesichter sind anders, und irgendwie wirkt der berühmte großäugige Blick ihres Bruders an ihnen fremd und kalt. Ihre Haut ist sonnengebräunt, aber ihre Körper sind dick und teigig, zeugen von Alkohol und Überernährung.
»Mr. Wade«, sage ich zu Matthew, »das muss jetzt eine sehr schwere Zeit für Sie sein.« April schluchzt leise in ihre Hände. »Ist Ihnen seit unserem gestrigen Gespräch irgendetwas eingefallen, was Sterling gesagt hat, das jetzt wichtig erscheinen könnte – etwas, das ihn bekümmert hat?«
»War es nicht einfach irgendein verrückter Fan?«, meldet sich Paul mit ländlichem Akzent zu Wort. »Das sagen doch alle in den Nachrichten.«
Melissa schnäuzt sich laut in ein Papiertaschentuch.
»Es könnte ein Fremder gewesen sein«, räume ich ein, »aber wir dürfen nichts außer Acht lassen. Die Situation ist sehr ungewöhnlich. Wir sind uns so gut wie sicher, dass es ein vorsätzlicher Angriff war, was uns zur Annahme eines Motivs führt. Es könnte jemand gewesen sein, den ihr Bruder wissentlich oder unwissentlich gegen sich aufgebracht hat.«
»Hat er irgendetwas über seine beruflichen oder persönlichen Beziehungen verlauten lassen?«, fragt Fleet. »Sich wegen irgendwas Sorgen gemacht?«
Matthew schüttelt den Kopf. »Ich bin im Geiste alles noch mal durchgegangen, hab mich zu erinnern versucht, worüber wir geredet haben, aber man kann ja nicht ahnen, dass man sich später mal an so was erinnern muss.« Er klopft sich sanft mit der Faust vor die Brust, wie um einen Knoten zu lösen. »Wir haben über die Farm gesprochen. Er hat immer danach gefragt, auch wenn es ihn nicht interessiert hat.«
»Wie ist es mit Ihnen, Paul? Haben Sie in letzter Zeit mit Ihrem Bruder gesprochen?«, fragt Fleet.
»Ich? Nö. Wir hatten wenig miteinander zu tun. Hatten uns nichts zu sagen.«
»Er hat vor ein paar Wochen angerufen, als ich gerade bei Mum und Dad war«, fällt Melissa ein. »Ich hab mich etwas mit ihm unterhalten. Hab ihn nach dem Film gefragt. Meinem Mann gefällt diese amerikanische Schauspielerin.«
»Es war bestimmt nicht leicht, einen so berühmten Bruder zu haben?«, versuche ich es.
»Man gewöhnt sich dran«, sagt Paul achselzuckend.
»Wann sind Sie beide hier angekommen?«, frage ich, verblüfft von Pauls Dumpfheit.
»Gestern«, erwidert Melissa. »Dad hat mich Mittwochabend angerufen und mir gesagt, was passiert ist. Ich hab noch einiges für die Kinder hergerichtet, damit sich mein Mann Rowan ein paar Tage allein um sie kümmern kann, und bin hergeflogen.« Sie wirft April einen Blick zu. »Ich hab gewusst, dass Mum völlig fertig sein würde.«
»Sie sind nicht zusammen angereist?«, frage ich beiläufig.
»Nein, ich wohne in Karadine, in der Nähe meiner Eltern«, antwortet Melissa. »Paul war in Castlemaine. Ich hab ihn angerufen, nachdem ich mit Mum telefoniert hatte.«
»Wohnen Sie in Castlemaine, Paul?«, frage ich.
»Nö, ich bin da nur Haussitter für einen Kumpel. Ich streich sein Haus, während er im Ausland ist. Ich ziehe viel durch die Gegend, je nachdem, wo ich Arbeit krieg, wissen Sie?«
»Und was arbeiten Sie so?«, fragt Fleet, der offenbar von Paul bestätigt bekommen möchte, was Matthew uns gesagt hat.
»Bloß Aushilfsjobs. Streichen, Zäune bauen – was halt gerade gebraucht wird.«
»Sind sie schon mit der, äh, Operation fertig?«, wirft Matthew ein und klammert sich am Sofarücken fest.
»Ja«, antworte ich. »Die erste Obduktion wurde gestern durchgeführt. Die Gerichtsmedizinerin wird ihren Bericht in wenigen Tagen abliefern. Auf Wunsch können Sie Einsicht beantragen, aber ich muss Sie warnen, dass derartige Auskünfte häufig sehr schmerzlich für die Hinterbliebenen sind.«
April lässt ein ersticktes Schluchzen hören. Melissa nimmt ihre Hand.
»Haben Sie irgendwas gefunden?«, fragt Matthew. »Irgendwas Verwertbares?«
»Vorläufig noch nicht«, sagt Fleet, und ich versuche nicht daran zu denken, was Mary-Anne gerade mit dem Leichnam ihres Sohnes anstellen könnte, während wir hier miteinander reden.
Sie nicken, und ich sehe den Schmerz in ihren zerfurchten Gesichtern bei der Vorstellung schlimmster Schrecken.
»Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Lizzie Short?«, frage ich sie. »Oder zu Sterlings Mitbewohner, Brodie Kent?«
Aprils Schluchzen hat nachgelassen, aber ihre Schultern zittern noch beängstigend.
Matthew wirft seiner Frau einen ratlosen Blick zu. »Wir sind Lizzie natürlich ein paarmal begegnet, wenn wir zu Besuch herkamen. Und Sterling hat sie einmal zu Besuch mit zu uns nach Hause gebracht.« Matthew ringt die Hände. »Sie wirkt wie ein nettes Mädchen, aber wir kennen sie kaum. Und Brodie haben wir nur einmal getroffen. Voriges Jahr, bevor er eingezogen ist. Er wirkte sehr, äh, überkandidelt.«
Wie Matthew das sagt, lässt auf Homophobie schließen. Mir wird klar: Falls Sterling seine sexuelle Orientierung bewusst geheim hielt, dann vielleicht nicht nur aus Rücksicht auf seine Karriere, sondern auch wegen seiner Familie.
April sagt ruhig: »Brodie ist bestimmt ein netter junger Mann, aber ganz anders als Sterling. Er wirkt auf uns so überspannt. Aber für uns war es immer sehr anstrengend hier.«
»Und wie ist es mit Ihnen beiden?«, fragt Fleet die Geschwister.
»Wir haben sie kennengelernt«, sagt Melissa. »Also Lizzie. Vor Jahren.« Sie wischt sich die rot geränderten Augen. »Sie machte einen sehr netten Eindruck.«
»Paul?« Fleet lässt nicht locker.
Er zuckt die Schultern. »Sie ist hübsch.«
»Und haben Sie Brodie kennengelernt?«, frage ich.
Sie schütteln den Kopf.
»Lizzie hat uns gesagt, dass sie und Sterling vor Kurzem Heiratspläne geschmiedet haben«, verkündet Fleet und sieht dabei von April zu Matthew. »Die Medien haben schon Wind davon bekommen. Wussten Sie davon?«
Paul murmelt etwas vor sich hin.
Aprils Kopf schießt hoch, ihr Blick wird plötzlich scharf. »Heiratspläne?«, wiederholt sie tonlos. »Aber sie waren doch noch so jung.«
Matthew wirft seiner Frau einen besorgten Blick zu. »Er hat uns nichts davon gesagt.«
»Lizzie hat uns gesagt, dass sie es noch geheim gehalten haben«, versichere ich ihm. »Sie wollten es erst nach den Dreharbeiten bekanntgeben.«
»Wir haben gedacht, sie wollten zusammen ins Ausland gehen«, murmelt April und kneift sich wiederholte Male in den Daumen. »Lizzie machte einen sehr ehrgeizigen Eindruck.«
»Offenbar wurden Sterling wirklich Rollen in Hollywood angeboten«, sage ich. »Fällt Ihnen irgendwer ein, der etwas gegen seine Auswanderung gehabt haben könnte?«
»Wir«, sagt April leise.
Ein Weilchen schweigen alle. Paul ist rot geworden, was sich aber schwer deuten lässt. Den Blick hält er wieder auf den Fernseher gerichtet.
Wie um das Schweigen zu brechen, klopft Fleet mit dem Fuß auf den Boden. »Haben Sie sich mit den Beaufords in Verbindung gesetzt?«
Ich sehe, wie sich Pauls Blick verfinstert.
»Na ja …« Matthew zögert. »Noch nicht. Wir mussten mit so vielen anderen Leuten reden.«
»Das ist verständlich«, versichere ich ihm.
»Aber wir haben es fest vor. Ich weiß, dass Sterling sich noch mit ihnen getroffen hat, und sie waren immer sehr gut zu ihm.« Er sieht hilfesuchend seine Frau an, doch Aprils leerem Blick ist deutlich anzumerken, dass sie dem Gespräch nicht mehr folgt.
Das Diensthandy meldet sich in meiner Tasche. Ich ziehe es weit genug heraus, um das Display sehen zu können. Isaacs. »Bitte entschuldigen Sie mich«, sage ich zur Familie und schlüpfe in den Flur. »Sir?«
»Sind Sie noch bei den Wades?«
»Ja, Sir«, antworte ich, verblüfft, dass er so mit der Tür ins Haus fällt.
»Na, dann machen Sie Schluss und kommen hierher zurück. Wir haben ein Geständnis.«
»Wirklich?«
»Wir sind uns noch nicht sicher. Es ist anonym, aber wir nehmen es ernst. Der Mann macht einen seriösen Eindruck. Rufen Sie mich auf dem Rückweg an.«
»Ja, Sir«, sage ich.
Als ich ins Zimmer zurückkomme, geht mein Puls auf hundertachtzig, die Erwartung einer möglichen Auflösung hämmert mir durch alle Glieder.
»Und was passiert jetzt?«, sagt Matthew gerade zu Fleet.
»Wir suchen den Täter, und …«
»Wir müssen aufbrechen«, verkünde ich, bemüht, mir die Aufregung nicht anhören zu lassen.
»Wir bleiben in Verbindung«, sagt Fleet und wirft mir einen verdutzten Blick zu. Als er am Sofa vorbeigeht, sehe ich zu meiner Überraschung, dass er April beruhigend eine Hand auf die Schulter legt und Melissa zulächelt. »Bitte rufen Sie uns an, wenn Ihnen etwas einfällt, das zur Lösung des Falls beitragen könnte«, sagt er sanft. April blickt dankbar zu ihm auf.
»Diese Reporter waren heute Morgen immer noch vor dem Hotel«, sagt Matthew, als er uns zur Tür bringt.
»Ja, sie werden wahrscheinlich dableiben, bis Sie abreisen«, sage ich ihm. »Nicht vergessen, wenn sie sich danebenbenehmen, können wir sie verwarnen. Geben Sie uns einfach Bescheid. Aber Mr. Wade, ich muss Ihnen leider sagen, dass die Medien den Tod Ihres Sohnes noch eine ganze Weile gnadenlos weiterverfolgen werden.«
»Wir wissen einfach nicht, was wir ihnen sagen sollen.« Wie ein Kind reibt er sich mit beiden Fäusten die Augen. »Unser Sohn hat sich in dieser Welt ausgekannt. Wir verstehen rein gar nichts davon.«
»Damit kennt sich niemand gut genug aus, Mr. Wade«, sage ich, trete in den Hotelflur hinaus und wende mich ihm wieder zu. »Es ist in jedem Fall schwer.«
»Da haben Sie natürlich recht. Aber Sterling, der hat sich vor jeder Kamera wohlgefühlt. Er stand gern im Mittelpunkt. April und ich hatten solche Angst, als die Sache mit der Schauspielerei losging. Wir haben uns Sorgen gemacht, wir könnten ihn verlieren. Etwa wegen Drogen. Und dass er ausgebeutet werden könnte. Nie hätten wir gedacht, dass wir ihn auf diese Weise verlieren würden.« Matthew krampft die sonnengegerbten Hände an die Hosennaht. »Und jetzt kommen all diese Leute damit an, wie viel er ihnen bedeutet hat. Davon wird mir schlecht. Gar nichts hat er ihnen bedeutet. Nicht so viel wie uns.«
Ich denke an Mary-Anne, die am Obduktionstisch den Tränen nahe war.
»Es tut mir sehr leid, Mr. Wade. Es muss furchtbar sein, dass sich all diese fremden Leute einbilden, sie hätten Ihren Sohn gekannt.« Da erst merke ich, wie ernst es mir damit ist, dass mich diese öffentliche Zurschaustellung von Trauer wütend macht, der Anspruch persönlicher Beteiligung, den jeder auf Wades Tod erhebt. Wie ich da neben seinem Vater stehe, erscheint es mir einfach nur grotesk.
»Danke«, sagt Matthew erschöpft; selbst in der Trauer lässt sich sein Anstand nicht unterkriegen. »Wir sind nur einfache Leute vom Land. Nichts davon haben wir je gewollt.«