Der Wind mischt den Regen auf, Laub und Müll wirbeln in wildem Tanz vor den Bürofenstern. Nachdem ich mich stundenlang mit dem Betrachten von Videoaufnahmen der Hassverbrechen von 2016 abgeplagt habe, stürze ich mich zur Ablenkung in das Abenteuer, dem Hinweis auf eine Unterkunft nachzugehen, in der Walter Miller Ende Juli ein paar Tage gewohnt haben soll. Einer seiner Freunde hat Chloe gesagt, dass Walter dort in Schwierigkeiten geriet, weil er sich mit einem Mitbewohner anlegte, doch ich mühe mich vergeblich ab, jemanden von der Belegschaft zu finden, der das bestätigen kann. Ich kann mich gerade noch beherrschen, mitten im Gespräch ins Telefon zu seufzen, gebe der Person am anderen Ende meine Kontaktdaten, bedanke mich und lege auf.
Gerade recke ich meine Arme über den Kopf, drauf und dran, mit meinen Neuigkeiten zu Ralph zu gehen, da scheint ein Ruck durch den Raum zu gehen. Ein elektrischer Schauer überläuft meine bloßen Arme, sodass sich die Härchen aufstellen. Ich ziehe die hochgekrempelten Ärmel bis zu den Handgelenken runter und schaue nach draußen. Alles ist still; der Wind hat sich gelegt. Auf den Bürgersteigen türmen sich matschige Laubhaufen. Die Leute halten ihre Regenschirme vom Kopf ab, um festzustellen, ob es noch regnet oder ob nur Tropfen von den Bäumen und Vordächern fallen. Das Licht steckt zwischen Tag und Nacht fest, ist von einer gespenstischen Farbe, wie mit Rauchschwaden gesättigt, so wie Regenbogen aus verunreinigtem Sonnenlicht entstehen.
Ohne Vorwarnung jault auf einmal die Telefonzentrale hinter mir: Der Terroralarm geht los, und die Kollegen reagieren mit den eingeübten Maßnahmen. Mit aufgerissenen Augen geraten alle in Bewegung. Ein Hauch von Gefahr liegt in der Luft.
Mit einer Tasse in der Hand kommt Fleet aus der Teeküche zurück und bleibt mit amüsiertem Gesichtsausdruck stehen, um sich das hektische Treiben anzusehen. Isaacs stürmt auf sein Büro zu, Telefon am Ohr. Ich zucke zusammen, als er die Tür hinter sich zuknallt. Der Nervenkitzel, der mich erfasst hat, scheucht mich vom Stuhl hoch.
Ich gehe zu Fleet, der mit gerunzelter Stirn lässig seinen Tee schlürft. »Die Kacke ist am Dampfen«, sagt er überflüssigerweise.
Eine junge hübsche Polizistin bleibt neben uns stehen, etwas atemlos. »Da ist was im nördlichen Zentrum passiert«, sagt sie. »Meine Freundin ist Journalistin, und sie hat mir gerade geschrieben.«
»Na toll«, sagt Fleet. »Wir lassen doch gern den Experten den Vortritt, wenn es um Kriminalität in der Stadt geht.«
»Schau mal«, murmle ich.
Isaacs reißt seine Bürotür auf und winkt hastig mit einer Hand Nan, Calvin, Fleet, Chloe und mich zu sich. Wir machen uns alle auf den Weg.
Sein Handy klingelt wieder, und er hebt fluchend eine Hand, um uns aufzuhalten, während er sich in einen kleinen Besprechungsraum in der Nähe seines Büros zurückzieht. Wir bleiben verlegen im Kreis um seine Bürotür stehen, warten wie unartige Kinder. Wir hören Bruchstücke seines Gesprächs, harsche kurze Worte, überlagert vom Klingeln der Bürotelefone und Stimmen, die Anrufer beruhigen.
Isaacs taucht wieder auf, und wir trotten folgsam hinter ihm drein.
Ich betrete sein Büro als Letzte und ziehe die Tür hinter mir zu. Isaacs faltet aufgeregt die Hände, sieht uns alle der Reihe nach an.
»Was ist los?«, fragt Fleet unbekümmert.
»Ein Terroranschlag?«, fragt Nan, den Rücken gerade, angriffslustig, bereit, jedwedes Schlamassel aufzuräumen, das ihre Mitmenschen diesmal wieder angerichtet haben.
»Nein«, sagt Isaacs. »An der Ecke Spring und Collins hat es einen Vorfall gegeben. Am Filmset. Ein Erwachsener wurde vor gut zwanzig Minuten niedergestochen. Er schwebt in Lebensgefahr und wurde eilig ins Krankenhaus gebracht.«
»Die große Actionszene«, sage ich und denke an die Meldung in den Nachrichten und mein Gespräch mit Macy.
»Ja«, sagt Isaacs und wendet sich mir zu. »Der Vorfall ist live während einem ihrer Drehs passiert, oder wie immer das heißt. Ein Schauspieler wurde verletzt.«
»Dann ist es also auf Film?« Fleet prustet los. »Irgendwie komisch.«
Isaacs fährt fort, als hätte er nichts gehört. »Der Verletzte ist Sterling Wade. Ich muss euch wohl kaum sagen, dass das eine sehr große Sache ist.«
Schweigen breitet sich aus, doch der Raum knistert vor Spannung. Den Namen Sterling Wade kenne ich – er ist der Filmstar, den meine Freundin Candy ihren »weißen Gott« nennt. Es dauert etwas, bis ich im Geiste das Bild eines makellosen jungen Mannes vor mir sehe. Mir fällt ein, dass Candy einmal erwähnte, seine Eltern wohnten in einem Ort in der Nähe von Smithson, als sie scherzte, sie wolle sich zum Weihnachtsessen zu ihnen einladen.
Chloe schluckt hörbar, die Augen weit aufgerissen.
»Der Typ aus The Street?«, sagt Calvin langsam. »Für den schwärmen meine Töchter.«
»Ja. Wie ich höre, sind schon gut hundert aufgelöste Teenies am Drehort und lassen sich nicht vertreiben. Zum Krankenhaus pilgern sie auch schon.«
Nans Augen werden schmal. Weibliche Teenager sind die menschliche Spezies, die sie am wenigsten ausstehen kann. »Großer Gott«, murmelt sie.
»Wurde noch jemand verletzt?«, frage ich.
»Sieht nicht danach aus. Aber da unten herrscht absolutes Chaos. Über dreihundert Maskierte liefen da rum, in Zombiekostümen, dazu die Filmcrew und Schaulustige, sodass eine vollständige Erfassung aller Anwesenden so gut wie unmöglich ist.«
»Wissen wir Näheres, wie es passiert ist?«, frage ich weiter.
»Die Berichte der Security-Firma, die uns erreichen, sind nicht eindeutig, aber ich behandle es vorerst als Verdachtsfall, auch wenn es vermutlich irgendein Unfall war. Ein Problem mit einer Filmwaffe oder vielleicht ein psychisches Problem bei einem von der Besetzung, aber wir müssen unserer Sorgfaltspflicht Genüge tun und den Sachverhalt genau aufklären. Besonders wenn es eine Sicherheitslücke gab.« Isaacs rollt mit den Schultern. »Wir müssen jeden offiziell befragen, der in Wades Nähe war, und den Tatort so rasch wie möglich durchkämmen.«
Ich habe von schlimmen Unfällen gehört, die an Filmsets passieren: defekte Requisiten oder verunglückte Stunts, dumme Streiche mit schlimmen Folgen. Man kann sich leicht vorstellen, was alles schiefgehen könnte bei so vielen Leuten, die unter Zeitdruck so dramatische Szenen fertigstellen.
Fleet reibt sich die Hände. »Okay, also, wer macht was?«
Nans helle Augen leuchten im gelben Bürolicht. Mit ihrem kurzen grauen Haar sieht sie wie ein wilder Wolf aus.
Isaacs blickt aus dem Fenster. »Woodstock und Fleet haben die Leitung«, sagt er nach kurzem Zögern. »Senna zur Unterstützung. Ihr geht da jetzt mit voller Konzentration ran. Wenn es sich als einfacher Unfall herausstellt, könnt ihr morgen wieder zum Tagesgeschäft zurückkehren. Aber falls es komplizierter ist, reicht ihr eure anderen Fälle weiter, und zwar auch den Fall Miller.« Es hat den Anschein, als wollte Isaacs noch etwas hinzufügen, ließe es dann aber bleiben. Sein Telefon klingelt erneut, und er redet eine Minute lang ruhig mit dem Anrufer.
Endorphine jagen sich in meinem Körper. Obwohl ich weiß, dass es sich bei dieser Angelegenheit wahrscheinlich um einen Unfall handelt, wundert mich Isaacs Entscheidung ein wenig. Und ich spüre die Überraschung im Raum. Ich sehe Fleet an, der meinen Blick auffängt und mir zuzwinkert.
Isaacs legt auf, und ich kann förmlich sehen, wie ihm das Adrenalin durch die Adern jagt. Es durchströmt uns alle. Ich möchte etwas sagen, ihm versichern, dass ich an Bord bin und mir den nächsten logischen Schritt schon überlegt habe, doch er kommt mir zuvor.
»Fahrt zum Krankenhaus«, sagt er zu mir und Fleet. »Redet mit jeder Person, die gesehen hat, was passiert ist, und mit den Sanitätern, die ihn eingeliefert haben. Anscheinend sieht es nicht gut aus für den jungen Wade.«
*
»Ich kann nicht mehr mit deiner Traurigkeit leben, Gemma«, sagte Scott unvermittelt eines Abends Anfang Dezember zu mir, nachdem er Ben ins Bett gebracht hatte.
Ich schaute blinzelnd von einem Zeitschriftenartikel auf, den ich überflogen hatte, und wunderte mich, wieso Scott nicht sah, dass auch ich kaum damit leben konnte.
»Wir müssen unser Leben wieder auf die Reihe kriegen«, sagte er. »Ich will, dass du gehst. Sonst gehe ich.«
Am nächsten Tag zog ich aus. Ich meldete mich krank, packte eine kleine Tasche, brachte Ben zur Vorschule und fuhr zu Dad.
Als er zur Tür kam, sah er mich mit meiner Tasche da stehen. Er hielt mich im Arm, während ich weinte. All die Tränen, die sich über Jahre hinweg angestaut hatten, flossen aus mir raus und schwappten an mein Knochengerüst, bis es weich und labberig wurde. Ich konnte keinen anderen Gedanken fassen als »wir haben es nicht geschafft« und wusste schon nicht mehr, ob ich es dachte oder sagte. Selbst als ich mich ausgeheult hatte, redete ich tagelang kaum noch ein Wort.
Unsere Trennung wühlte all den alten Schmerz wieder auf. Ich weinte um Mum, die mir so plötzlich entrissen wurde, als ich erst vierzehn war. Um meinen toten Freund von der Highschool, Jacob. Darum, wie ich Scott behandelt hatte, wie das mit Felix geendet hatte, um meine Fehlgeburt und mein gebrochenes Herz. Am allermeisten weinte ich um Ben und das Chaos, das ich aus seinem Leben machen würde.
Drei Wochen später zog ich bei Dad aus und in ein kleines Mietshaus nicht weit von meiner Arbeit ein. Scott und ich einigten uns mit zusammengebissenen Zähnen auf eine Umgangsregelung mit Ben. Scotts Entschlossenheit machte mir Angst, aber ich war ihm auch dankbar – ich hatte nicht seine Stärke und musste mir von ihm zeigen lassen, wie sich das alles praktisch regeln ließ. Zeigen, dass es funktionieren würde.
Wir hatten keine Ringe abzunehmen. Keine Papiere zu unterschreiben oder Namen zu ändern. Sondern konnten uns umstandslos voneinander trennen, als hätte es unsere Beziehung nie gegeben.
Ich kümmerte mich mit neuer Energie um Ben, wollte die mit ihm verbrachte Zeit sinnvoller denn je nutzen. Wir manövrierten uns durch Weihnachten, und ich erledigte schlafwandlerisch meine Arbeit, schlug mich durch die furchtbaren Verbrechen, die dämlichen und alles dazwischen. Aber Smithson wurde immer beengender für mich, und die Panikattacken, gegen die ich schon immer angekämpft hatte, gewannen die Oberhand. Jede Nacht, die ich in dieser Minihütte wach lag, lastete das Kleinstadtgerede auf mir. Die endlose Weite des Buschlands langte durch die papierdünnen Wände nach mir. Tagsüber verhöhnte mich das weite Flachland mit seinen einsamen Straßen. Mein Bedürfnis nach Ben nahm gefährliche Züge an. Mein Geist driftete in immer gefährlichere Gefilde ab, bis ich mich davor fürchtete, mit ihm allein zu sein. Mich fürchtete, von ihm getrennt zu sein. Scott wurde es unheimlich, er machte sich Sorgen. Mag sein, dass er eine Zeit lang Bedenken hatte, mir unseren Sohn zu überlassen – und ehrlich gesagt war ich selbst nicht frei davon.
Drei Monate nach unserer Trennung nahm Jonesy mich zur Brust und setzte sich zu einem ernsthaften Gespräch mit mir zusammen. »Ich hab Neuigkeiten«, sagte er und begann mir eine Stelle im höheren Dienst der Kriminalpolizei von Melbourne zu beschreiben, die frei geworden war.
»Ihre Arbeit ist immer noch herausragend, Woodstock«, sagte Jonesy. »Ich verlasse mich mehr, als ich sollte, auf Sie. Aber ich will nicht dabei zusehen, wie Sie mir hier eingehen.« Und mit einem tiefen Blick aus wässrigen Augen: »Das geht so nicht weiter.«
Ich setzte mich an die Bewerbung und raffte all meine Energie für die Vorstellungsgespräche zusammen.
Als ich die Zusage bekam, empfahl Jonesy mir nachdrücklich anzunehmen. Mein Körper spielte verrückt vor Angst – er wusste vor mir, dass ich gehen würde, dass ich es musste und dass mich das zerreißen und zugleich retten würde.
»Aber ich kann hier nicht weg«, sagte ich, Bens Gesichtchen lebhaft vor Augen.
Jonesy sah mich nur traurig an; er nahm bereits Abschied.
Ich traf Mitte Mai in Melbourne ein und wurde von sattgrünen Rasenflächen, kahlen Bäumen und Regenmänteln mit Tupfen in Metallicfarben begrüßt, die offenbar der modische Hingucker geworden waren, ohne dass ich es mitbekommen hatte. Da stand ich nun vor meinem voll möblierten Apartment, vom kalten Wind gepeitscht und feinem Nieselregen besprüht, beidseits von Leuten angerempelt, die es so eilig hatten, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich war völlig verwirrt, fühlte mich aber auf wilde, herzklopfende Art lebendig.
Der Abschied von Ben war, als würde mir ein Pfahl durchs Herz gerammt. In meiner Erinnerung ist die eine Einstellung, die ich immer und immer wieder vor mir sehe, von Todeshauch umweht. Mein wunderschöner Sohn, schon immer ein ernsthaftes Kind, stand neben Dads Auto, seine Hand in meiner, und sah mich an mit einem Blick, der mich bis ins Mark traf. In dem Moment wurde die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt. Ich bat ihn um Erlaubnis, und er gab mir seinen Segen. Bestimmt verstand er, dass ich gehen musste.