Der Baumbewuchs verdichtet sich, während ich mich im Mietwagen Smithson nähere. Ich ziehe die Sonnenblende runter, um mich vor dem ungefilterten Licht zu schützen. Ich habe das Gefühl, nicht genug Luft ins Auto zu bekommen, und fummle wieder am Armaturenbrett herum. Ich hatte mir überlegt, vom Flughafen die Straße durchs Hinterland zu nehmen; es dauert genauso lange, aber die Straße ist kurvig und weniger beliebt. Tatsächlich bin ich als Einzige hier unterwegs. Einen verrückten Moment lang denke ich, dass ich vielleicht völlig allein auf der Welt bin, niemand außer mir übrig ist, alle verschwunden sind. Nach einer schlaflosen Nacht und meinem frühen Aufbruch bin ich so müde, dass es schmerzt. Ich umklammere das Lenkrad, meine blassen Hände von feinen Adern durchzogen. Sie sehen nicht so aus wie die Hände einer Mutter oder gar wie Hände, die es mit einem Mörder aufnehmen könnten.
Die Wades sind seit der Beerdigung unerreichbar. Paul Wades Handy ist seit Mittwoch ausgeschaltet; die Nachrichten, die wir auf seinem Anrufbeantworter und dem seiner Eltern hinterlassen haben, bleiben unbeantwortet. Melissas Mann Rowan ging gestern Nachmittag zwar an sein Handy, legte aber auf, kaum dass wir uns vorgestellt hatten. Sterlings Angehörige sind abgetaucht.
»Wir müssen mit Paul Wade sprechen«, sagte ich zu Isaacs, als Fleet und ich ihn gestern Nachmittag in seinem Büro erwischten. »Er hat uns dreimal angelogen – uns liegen jetzt Beweise vor, dass er zur Zeit des Überfalls in Tatortnähe war. Außerdem wissen wir nicht, wann er in Melbourne eingetroffen ist. Er sagt, dass er manchmal in seinem Transporter übernachtet, also könnte es jederzeit seit Sonntagabend gewesen sein. Vielleicht ist er zu Wochenbeginn gekommen, als Miller überfallen wurde.«
Isaacs beugte sich vor und umfasste die Kanten seines Schreibtischs. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass Paul Wade Walter Miller kannte?«
»Dazu haben wir nichts gefunden. Aber es sieht so aus, als hätte der Kerl ohne ersichtlichen Grund ziemlich viel Zeit in Melbourne verbracht. Er hat selber keinen richtig festen Wohnsitz, von daher könnten sie sich also begegnet sein.«
»Und Sie sind sich sicher, dass Paul mit seiner Familie nach Karadine zurückgefahren ist?«, fragte Isaacs.
»Ziemlich sicher«, erwiderte Fleet. »Wir warten noch auf die Rückmeldungen der Airlines. Wir haben die Polizei in Castlemaine zur Adresse seines Freundes geschickt, und dort ist er jedenfalls nicht.«
»Na gut«, sagte Isaacs. »Schicken Sie einen Polizisten hin, um ihn zu befragen. Und finden Sie raus, warum die Familie nicht mit uns redet.«
»Ich hab mir gedacht, ich könnte hinfahren«, sagte ich und meldete mich wie in der Schule. »Es ist nicht weit von meiner Heimatstadt, und ich müsste dieses Wochenende sowieso in einer Familienangelegenheit hin.«
Kurzes Schweigen. Mit gesenktem Blick griff ich zu meinem Notizblock und stand auf, als wäre es damit schon entschieden.
»Okay«, sagte Isaacs, »Sie fliegen morgen nach Karadine. Wann können Sie wieder hier sein?«
»Am Montag, Sir«, antwortete ich und kämpfte schon mit der ersten Nervosität beim Gedanken an die Heimfahrt.
Als ich zur bekannten Weggabelung komme, bremse ich ab. Hohes Gras umwuchert die Zaunpfosten. Mitten auf der Straße vor mir tut sich eine große Krähe an den Innereien eines toten Kängurus gütlich. Rechts liegt Smithson, etwas weiter dahinter Karadine. Nach links geht es ins Landesinnere. In die rote Wüste. Ins Nichts. Ich schaue zwischen den Straßen hin und her und bleibe mit laufendem Motor stehen, obwohl niemand kommt.
*
Ein paar Kilometer vor Smithson fahre ich rechts ran und rufe abermals im Farmhaus der Wades an. Ich versuche es auf Pauls Handy, dann auf Melissas. Immer noch geht keiner ran.
Ich umfahre die Hauptstraße nach Smithson, möchte diesen Besuch bei den Wades hinter mich bringen, ehe ich Dad und Ben überrasche. Ich stelle mir vor, wie sehr Ben sich freuen wird, dass ich morgen zu seinem Fußballturnier kommen kann. Ich verzehre mich regelrecht danach, ihn zu umarmen, aber es hat auch etwas Berauschendes, es noch ein paar Stunden hinauszuzögern.
Eine Staubwolke fliegt hinter mir auf wie ein Rauchzeichen. Zu beiden Seiten säumen mächtige Eukalyptusbäume die Straße, und die Felder sind mit Kühen und Pferden gesprenkelt. Ich passiere etliche altersschwache Briefkästen an den Mündungen zu Zufahrtsstraßen, die sich in der Ferne verlieren.
Ich erreiche das Anwesen der Wades, dessen Tor im Unterschied zu allen anderen an der Straße geschlossen ist. Ein paar Blumensträuße lehnen beiderseits an den Holzpfosten. Kurz bevor ich in die Auffahrt einbiege, ziehe ich die Handbremse, springe rasch raus, öffne das Tor und sammle die Blumen auf. Nachdem ich sie vorsichtig auf den Beifahrersitz gestapelt habe, steuere ich den Wagen langsam über den schnurgeraden Fahrweg, bis wie eine Oase ein Rondell aus üppigem Grün erscheint. Beim Näherfahren sehe ich ein gedrungenes Steinhaus, das zwischen etlichen Bäumen auf sattem Rasen steht. Zur Linken erstrecken sich ein paar Hektar malerischen, wenn auch trockenen Farmlands. Hinter dem Haus steigen die Berge gemächlich an.
Ich parke hinter einem ramponierten Nutzfahrzeug und betrachte das Haus, das genauso aussieht, wie ein Farmhaus aussehen sollte: Allerlei Kräuter gedeihen in fruchtbaren Beeten im Schutz der Dachüberhänge, vorne begrenzt von einer bunt gemischten Phalanx aus Wildblumen.
Noch bevor ich aus dem Auto steigen kann, schwingt die Haustür auf, und Melissa tritt mit finsterer Miene auf die Schwelle. »Nein«, sagt sie, lehnt sich mit ganzem Körper vor und schüttelt eine ausgestreckte Hand in meine Richtung.
»Hallo, Melissa«, sage ich ruhig und schirme mein Gesicht gegen die Sonne ab.
»Bitte«, sagt sie. »Uns reicht’s.«
»Ich muss mit Paul sprechen.«
»Nein. Kein Gerede mehr über Sterling.« Sie fährt sich durchs schlaffe Haar und schiebt es sich aus dem roten Gesicht. »Wissen Sie, wie das für Leute wie meine Eltern ist? So etwas haben sie nicht verdient.«
»Ich muss mit Paul sprechen«, wiederhole ich. »Wenn er sich weigert, hier mit mir zu reden, muss ich ihn nach Melbourne mitnehmen.«
»Warum?«
»Können Sie ihn bitte holen? Oder kann ich reinkommen?«
Sie schnaubt. »Warten Sie hier.«
Ich setze die Sonnenbrille auf, sammle die Sträuße und lege sie auf ein schattiges Rasenstück. Ans Auto gelehnt, atme ich die unwahrscheinlich saubere Luft mit einem Dufthauch nach Blumen und Gras ein. Gesprächsfetzen wehen in meine Richtung, ehe die Tür wieder aufschwingt und Melissa auf mich zukommt, den laschen Paul im Schlepptau.
»Hallo, Paul«, sage ich. »Wir müssen uns nur kurz unterhalten.« Ich sehe mich um. »Setzen wir uns da drüben hin.« Ich zeige auf eine Holzbank etwas seitlich vom Haus. »Melissa, Sie brauchen nicht dabei zu sein.«
»Ich sollte sowieso besser zu Mum zurück«, erwidert sie und wirft Paul einen besorgten Blick zu. »Melden Sie sich, wenn Sie, äh, irgendwas brauchen.«
Als sie weg ist, sehe ich Paul in die Augen, der wirkt, als hätte er sich verschluckt.
»Wir wissen, dass Sie in der Innenstadt waren, als Ihr Bruder überfallen wurde, Paul. Ganz in Tatortnähe.«
»Stimmt ja gar nicht«, sagt er trotzig.
»Und ob das stimmt. Wir haben Sie auf Video.«
Er knetet die Hände im Schoß, den Blick auf das Gras vor uns geheftet.
»Warum lügen Sie uns immer weiter an, Paul?«, sage ich.
»Brauche ich einen Anwalt?«, fragt er schließlich.
»Das ist Ihre Entscheidung«, antworte ich. »Mir wäre es recht, wenn wir das unter uns klären könnten, aber wenn Ihnen das lieber ist, können wir den offiziellen Weg gehen, und Sie suchen sich einen Rechtsbeistand.«
»Ich will nicht nach Melbourne zurück.«
»Schon in Ordnung«, sage ich. »Aber Sie müssen mir sagen, was Sie am Mittwoch, dem fünfzehnten August, in der City gemacht haben. Wir wissen, dass Sie bis gegen sechzehn Uhr mit Joanne zusammen waren, aber wir haben einen Videofilm, auf dem Sie etwa fünfzehn Minuten nach dem Überfall auf Ihren Bruder vom Tatort weggehen. Was haben Sie dort gemacht, Paul?«
Er klatscht beide Hände neben sich auf die Holzbank. »Ich weiß es nicht.«
»Haben Sie versucht, in Sterlings Nähe zu kommen, Paul?«, rate ich. »Wollten Sie ihm etwas sagen?«
»Ich weiß nicht«, wiederholt er.
»Waren Sie sauer auf ihn?«
»Irgendwie schon.« Er stampft auf. »Aber darum ging es nicht. Es hört sich blöd an, wenn ich versuchen würde, es zu erklären.«
»Tja, fangen wir einfach damit an, was Sie dort gemacht haben.« Keine Antwort. Ich seufze. »Okay, wir wissen also, dass Sie und Sterling am Sonntagabend vor seinem Tod miteinander gesprochen haben. Sind Sie deshalb nach Melbourne gefahren? Hat er dabei etwas gesagt, das Sie verärgert hat?«
Paul zieht mit der Stiefelspitze einen Strich durch die Erde und blickt einmal rasch zum Farmhaus. Dann springt er auf, und es platzt aus ihm heraus: »Wir haben Geld gebraucht, klar? Mels Kind muss auf eine Förderschule meilenweit weg von hier.« Er zeigt um sich. »Mum und Dad geben es nicht zu, aber das Haus verfällt zusehends, und die Farm ist ein Sauhaufen. Sterling bringt uns irgendwelches schicke Zeug mit, das kein Mensch braucht, wenn er zu Besuch kommt, und denkt, damit hat sich’s. Echt jetzt, das war doch ein Witz.«
Ich halte mich zurück, lasse ihn seine Wut austoben.
Dann setze ich ruhig an: »Sie haben Sterling also angerufen, um ihn um Geld zu bitten?«
Paul wirkt selbst überrascht, dass er steht, und weiß mit seinen Händen nichts anzufangen. »Dad wird bald sechzig. Ich hab gedacht, wenn wir sagen, wir brauchen Geld für seinen Geburtstag, könnten wir es vielleicht für ein paar Reparaturen verwenden.«
»Warum haben Sie ihn nicht einfach direkt darum gebeten? Ihm erklärt, was mit der Farm los ist? Er hätte es doch sicher verstanden.«
»Er hat sich schon so für was viel Besseres gehalten. Wir wollten seine Drecksalmosen nicht.«
»Ich verstehe ja, dass Sie kein Mitleid wollten, aber er war ein Familienmitglied.«
»Geht Ihnen das nicht in den Kopf rein? Wir wollten seine Hilfe nicht«, faucht Paul zornesrot, »aber wir haben sie wirklich gebraucht.« Er beugt sich bedrohlich zu mir vor. »Wissen Sie, wie schwer es ist, so ein Leben wie das hier zu schultern?«
»Bestimmt sehr schwer«, sage ich.
»Schwer!«, höhnt er. »Landwirtschaft ist die Hölle, und Sterling hat uns von Anfang an hängenlassen! Er hat auf der Farm zwar nie einen Finger gerührt, aber in jedem Scheißinterview davon geschwafelt. War gut fürs Image, wenn es ihm in den Kram gepasst hat.« Die Ringe unter Pauls Augen glühen förmlich.
»Was hat er gesagt, als Sie ihn um Geld gebeten haben?«
»Ich hab gesagt, wir wollten eine Party für Dad geben, und dass wir eine Kaution für den Festsaal brauchten, und da fing er an, von dem ganzen Zeug zu brabbeln, das wir unternehmen sollten, und hat die Sache praktisch an sich gerissen, und da bin ich halt ausgerastet. Der hatte ja keine Ahnung. Ich hab gesagt, er solle einfach mit dem Geld rüberrücken, Mel und ich würden schon für alles andere sorgen, und da hat er sich mächtig aufgeregt und gefaselt, wir würden ihn immer außen vor lassen und er wollte auch seine Ideen dazu beisteuern. Als ob es nur um ihn ginge.«
»War er bereit, Ihnen das Geld zu geben?«
»Schon«, gibt Paul zu. »Er hat gesagt, er würde es mir überweisen.«
»Von welcher Summe reden wir?«
»Fünf Riesen.«
»Okay, Sterling war also einverstanden, Ihnen etwas Geld zu geben. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Sie in der Stadt waren, Paul.«
Er tritt auf der Stelle und wühlt sich in den Haaren. »Ich weiß es nicht! Ich weiß bei so vielen Dingen nicht, warum ich sie tue.« Er schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn und gibt ein primitives Grunzen von sich. »Ich bin ein Idiot.«
Ich sehe mir sein verquollenes Gesicht an, und er tut mir unwillkürlich ein wenig leid.
Auf dem angrenzenden Feld wird ein Traktor angeworfen, und das Aufröhren des Motors zieht über die Weiden zu uns herüber. Die Sonne steht hoch am Horizont, und mir ist feuchtkalt in der Jacke. Bei so viel freien Flächen um mich her wird mir etwas beklommen zumute.
»Ich wollte mir bloß ansehen, wie der Film gemacht wird«, sagt er schließlich.
»Sie wollten sich die Dreharbeiten ansehen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht!« Er sieht mich flehentlich an. »Ich wollte es wohl einfach bloß sehen. Mein Bruder ist ein berühmter Filmstar, und ich verdien keine zwanzig Kröten die Stunde mit Scheißhilfsarbeiten.« Er wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn, ehe er sich wieder schwer auf die Bank fallen lässt und den Kopf in beiden Händen vergräbt. »Alle fragen mich ständig, was Sterling so macht, und ich hab halt gedacht, es wär cool, einmal sagen zu können, dass ich da war. Dass ich einen VIP-Pass hatte und als Zuschauer live dabei war. Hört sich jetzt scheißbescheuert an.«
»Erzählen Sie mir, wohin Sie gegangen sind«, sage ich.
»Ich hab meinen Transporter in der Nähe vom Kricketstadion geparkt und bin dann zur Ecke Spring Street und Flinders gegangen, wo die ganzen Absperrungen waren.« Er leckt sich über die gesprungenen Lippen. »Da waren überall Leute, aber ich hab mich bis nach vorn durchgeschoben und konnte den Regisseur sehen – der saß oben auf so einem fahrbaren Kran und hatte einen kleinen Bildschirm, auf dem man schon irgendwie erkennen konnte, wie der Film aussehen würde.«
»Haben Sie gesehen, wie Sterling angegriffen wurde?«
»Na ja, irgendwie schon. Ich wusste nicht, was Sache war, bis alle losgeschrien haben. Ich hab vor allem Lizzie gehört, und dann sind die Leute durchgedreht, aber ich wusste nicht, was wirklich passiert war.«
»Warum sind Sie nicht geblieben? Wenn Sie gemerkt haben, dass Ihrem Bruder etwas zugestoßen ist, wollten Sie sich dann nicht um ihn kümmern?«
Paul sieht mich schulterzuckend an. »Weiß nicht. Hab’s halt gelassen. Wir sind nicht wie normale Brüder.«
»Sie sind ziemlich oft nach Melbourne gekommen, Paul, stimmt’s?«
»Ab und zu.«
»Haben Sie je Sterling gesehen, vielleicht ohne dass er es gemerkt hat?«
»Ich hab gewusst, wo er gewohnt hat«, antwortet Paul.
»Soll das ein Ja sein?«, frage ich nach.
»Ich hab ihn manchmal gesehen.«
»Wann sind Sie vorige Woche nach Melbourne gekommen, Paul?«
»Am Montag«, gibt er zu. »Ich bin gern dort. Da kann ich in der Menge allein sein. Hier in der Gegend fragen mich alle ständig nach Sterling – da gibt’s kein Entkommen. Selbst in Castlemaine haben die Leute gewusst, wer ich bin. In Melbourne kann ich sozusagen einfach untertauchen.«
Ich spüre, dass sich an der Tür des Farmhauses etwas bewegt, und erkenne Melissas Umriss hinter dem Fliegengitter.
»Haben Sie je mit Ihrem Bruder gesprochen, wenn Sie in Melbourne waren, Paul?«, frage ich.
»Nein.« Er schüttelt heftig den Kopf. »Überhaupt nicht.«
»Warum haben Sie ihm dann hinterherspioniert?« Ich lasse nicht locker. »Warum sich an ihn gehängt?«
»Weiß auch nicht«, sagt er und sieht mich unglücklich an. »Ich wollte es wohl einfach mit eigenen Augen sehen. Sie wissen schon, sein Leben. Ich hatte immer das Gefühl, das hätte ich sein können.«