Freitag, 31. August

7.16 Uhr

Ich werde von einem ungeduldigen Piepston geweckt und sehe eine reinweiße Wand vor mir. Der Schmerz hat sich in meinem Kopf eingenistet, aber das quälende Pochen der vergangenen Nacht wird von der Handvoll Tabletten, die man mir aufnötigte, unterdrückt.

Der hellblaue Vorhang am Fußende des Bettes raschelt, und das lächelnde Gesicht einer Krankenschwester erscheint. »Ah, gut, Sie sind schon wach. Was macht der Kopf?« Ihre Stimme kommt mir bekannt vor, und mir fällt wieder ein, dass sie mich nachts in gewissen Abständen geweckt, meinen Namen gesagt und mir mit einer Taschenlampe in die Pupillen geleuchtet hat.

Ich schlucke, versuche Spucke in meinen trockenen Mund zu bekommen. »Schon okay.«

»Sie Ärmste«, bekundet sie fröhlich.

Alles strömt wieder auf mich ein: Fleets Fahne, als er mich bedrängte; Joshs Geständnis. Die Hand an meinem Hinterkopf, bevor ich gegen die Wand gestoßen wurde.

»Wie spät ist es?«, frage ich die Krankenschwester.

»Viertel nach sieben«, sagt sie.

Sachte setze ich mich auf. In meinem Sichtfeld formieren sich weiße Pünktchen zum Schneesturm, doch am Schmerz scheint das kaum etwas zu ändern.

»Ich muss weg«, sage ich, unterdrücke ein Gähnen und rutsche auf die andere Bettseite.

Sie runzelt die Stirn und beißt sich auf die Unterlippe. »Sie sollten wirklich noch ein paar Stunden bleiben. Wir behalten Leute gern unter Beobachtung, die sich bei einem schlimmen Sturz den Kopf angeschlagen haben.«

»Mit mir ist alles bestens«, versichere ich ihr und rapple mich auf.

»Haben Sie denn jemanden in der Nähe? Eine Person, die sich um Sie kümmern kann?«

»Klar«, sage ich und lächle ihr rasch zu.

Nachdem sie mich einmal durchgecheckt hat, wuselt sie zu anderen Patienten weiter. Ich ziehe mich an und drücke mir versuchsweise gegen die Schläfe. Dann ziehe ich den Vorhang auf und verlasse die Station. Ich unterschreibe, dass ich auf eigene Verantwortung gehe, und springe in ein Taxi.

In meiner Wohnung angekommen, finde ich sie zu meiner eigenen Überraschung ganz genauso vor, wie ich sie am Vortag morgens verlassen habe. Die Decke, die ich Fleet gab, liegt noch gefaltet über der Sofalehne. Frodo sperrt töricht das Maul auf und hofft, Futter möge hineinfallen. Ich inspiziere mich im Badezimmerspiegel: Ein ausufernder blauer Fleck verdunkelt meine Schläfe. Zum Glück liegt der größte Schaden seitlich am Kopf und wird von den Haaren verdeckt, auch wenn ein feiner Riss direkt über dem Ohr am Haaransatz entlang verläuft und sich ein blaues Auge ankündigt. Ich wasche den Bereich sanft unter einer lauwarmen Dusche und überschminke die blau-lila Flecken notdürftig mit Make-up.

Ich überlege, was eigentlich geschehen ist. War es ein Zufallsangriff oder eine Art Drohung? Die von derselben Person ausging, die Ava überfallen hat? Gibt es da irgendeinen Zusammenhang? Vorsichtig kämme ich mir die Haare und starre mein Gesicht im Spiegel an, denke über die Möglichkeit nach, dass es eventuell mit Jacoby zu tun haben könnte. Ich schlucke und fühle mich wieder wie die letzte Idiotin. Die Stimme kam mir nicht bekannt vor – ich will nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dass es Josh gewesen sein könnte.

Josh. Die ätzende Erniedrigung frisst sich wieder in mich, während mir einfällt, wie ich mich von ihm täuschen ließ. Ich frage mich, ob er schon im Polizeirevier ist. Wird er sich wirklich stellen? Mein Ultimatum war unmissverständlich, und er wirkte fast erleichtert, dass ich ihn zur Rede gestellt hatte, als könnte er selbst kaum abwarten, die ganze dumme Geschichte zu beenden. Ein Teil von mir glaubt, dass er nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Aber ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wie weit sein Täuschungsmanöver geht, wie viel Einfluss sein Onkel und Jacoby auf ihn haben.

Ich weiß nur das eine: Ohne Joshs Aussage gibt es kaum einen Beweis dafür, dass Jacoby Ginny Frost vom Balkon gestoßen hat. Vielleicht hat er gestern Nacht mit seinem Onkel gesprochen; vielleicht haben sie etwas ausgeheckt, wie sie damit verfahren werden.

Mitten in meiner Besorgnis höre ich eine SMS auf meinem Diensthandy ankommen: Fleet fragt, ob ich zu der Einsatzbesprechung komme. Ganz genau so eine SMS hätte er mir vor zwei Tagen geschickt. Bevor er die elementarste Grenze überschritten hatte.

Mein Atem beschleunigt sich, und ich fürchte schon, eine Panikattacke zu bekommen. Doch während ich mich am Badezimmerschrank festklammere, lässt der Schreck nach und verflüchtigt sich zusehends.

Dass ich nicht weiß, was Josh vorhat, erschwert es mir, über mein weiteres Vorgehen zu entscheiden. Beichte ich Isaacs unsere Beziehung und riskiere, mich zu blamieren, oder stelle ich mich unwissend? Wenn Josh keine Zeugenaussage macht, muss ich zum Angriff blasen, die Truppe auf ihn hetzen, und kann womöglich auf kürzestem Wege in Schimpf und Schande nach Smithson zurückkehren.

Und da habe ich noch nicht einmal angefangen, mir zu überlegen, was ich wegen Fleet unternehmen soll.

Mit zitternden Fingern schreibe ich zurück, dass ich auf dem Weg bin. Ich föhne mir das Haar, lasse es aber offen, um die Spuren des gestrigen Überfalls zu kaschieren. Ich schlüpfe in den Mantel und gehe mit zusammengebissenen Zähnen aus der Tür, verdränge entschieden den hartnäckigen Nachhall der Hand an meinem Hinterkopf und meiner damit verbundenen Todesangst.

»Du lieber Himmel, was ist denn mit dir passiert, Woodstock?«, bemerkt Fleet und sieht mich erschrocken an, und ich wüsste gern, ob er denkt, womöglich hätte er mir das angetan.

»Bin hingefallen«, sage ich kurz und knapp.

Mein Körper hat sich nicht unter Kontrolle, reagiert auf seinen, als ginge Elektrizität von ihm aus. Rückblenden der Minuten in meinem Schlafzimmer jagen mir durch den Kopf.

Gerade will er noch etwas sagen, als hinter uns ein Tumult entsteht. Nan und Calvin werden in Isaacs Büro gerufen. Josh, denke ich. Isaacs wirft mir einen kühlen Blick zu, und ich sehe im Geiste meine Karriere an mir vorüberziehen, als seine Tür zufällt.

»Was da wohl los ist?«, sagt Fleet, der aufsteht und sich reckt. »Puh! Mir geht’s heute tausendmal besser als gestern.« Er lächelt mir verlegen zu. »Ich werde allmählich zu alt für Zechtouren unter der Woche.« Und unterwegs zu unserem Besprechungszimmer: »Kommst du?«

Mit bleiernen Gliedern schnappe ich mir meinen Notizblock und gehe mit ein paar Schritten Abstand hinterher, versuche, mir seine Lässigkeit zu erklären. Weiß er noch, was er getan hat? Und, schießt mir der Gedanke durch den Kopf, spielt es eine Rolle?

»Kopf hoch!«, ruft er über die Schulter zurück, und ich starre seinen Hinterkopf an und stelle mir vor, ihn gegen die Wand zu knallen.

Niemand sagt etwas zu meinem geschwollenen Gesicht, aber etliche Blicke lassen keinen Zweifel daran, dass ich die blauen Flecken nicht so gut überschminkt habe, wie ich dachte.

»Gut«, sage ich weitaus begeisterter, als mir zumute ist. »Detective Fleet war gestern nicht da, also setzen wir ihn kurz in Kenntnis. Ravi, bitte tragen Sie uns den Tagesbericht vor, und dann bitte den neuesten Stand hinsichtlich Alibis und Filmmaterial.«

Während Ravi spricht, schalte ich ein wenig ab; meine Sicht verschwimmt etwas, während ich auf die dunklen Teppichfasern starre. Ich merke schon, dass es keine wesentlichen neuen Erkenntnisse gibt, anders als bei dem Durchbruch, der Nan und Calvin offenbar gerade in den Schoß fällt.

Fleet unterbricht Chloe und blafft das Team mit seinen Fragen an, offenkundig genervt davon, dass es immer noch kein Lebenszeichen von Brodie gibt. Mir wird klar, dass er ihn von Anfang an nicht mochte; ich erinnere mich, wie unangenehm ihm Brodies gefühlsbetonte, unbeherrschte Liebes- und Trauerbekundungen waren.

Fleet teilt die Leute zum Tageseinsatz ein, bevor alle aufstehen. Ich gehe zur Anschlagtafel, starre auf die beiden Toten, und ein Gefühl von Schuld überläuft mich kalt. Wir übersehen da etwas. Ich stehe da, während mir die Hitze zu Kopf steigt und das Pochen in meinem angeschlagenen Schädel wieder loshämmert, und denke daran, wie Wade und Miller in Pfützen ihres eigenen Blutes zu Boden gingen. Das hätte in der letzten Nacht leicht mir zustoßen können; ein Menschenleben lässt sich in so kurzer Zeit auslöschen.

Ich fahre heftig zusammen, als Chloe meinen Arm streift, während sie sich reckt, um ein Überwachungskamerafoto der Menge anzuheften: Sie sehen zu, wie Wade in den Krankenwagen geschoben wird.

»Sorry«, sagt Chloe.

»Kein Ding, ich war kurz weggetreten.«

Ich betrachte das Foto. Es sieht aus wie ein altes Schlachtengemälde mit dem gefallenen Helden Wade im Vordergrund.

»Wie geht es Ihnen?«, frage ich Chloe und lasse meinen Blick auf ihren dicken Bauch wandern.

Sichtlich erfreut ob der Nachfrage, bläst sie die Backen auf. »Gar nicht mal so übel. Ich bin nicht mehr ganz so beweglich wie sonst, aber es geht mir gut. Ich möchte so lange es geht weiterarbeiten.«

Sie pinnt noch ein Foto an die Tafel, wobei ihre Ringe in mein Blickfeld geraten. Ich erinnere mich an den liebevollen Blick Rebeccas auf ihren Verlobungsring und die wehmütige Trauer in Lizzies Gesicht, als sie ihren betrachtete. Durch die verschwommenen Schmerzattacken auf meine Schläfe fügen sich Gedankensplitter zusammen.

»Schöne Ringe«, sage ich zu Chloe.

»Ach ja. Danke. Ja, ich mag sie.«

Ich erinnere mich an das Juweliergeschäft, an dem ich am Vorabend vorbeikam, all die hübschen Edelsteine aus dem Fenster geräumt, nur die Werbung noch da.

»Chloe«, sage ich, »kann ich Sie um einen Gefallen bitten?«

»Natürlich.« Sie streicht sich die Haare aus der Stirn und mustert mich kritisch. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich zu aufdringlich bin, aber geht es Ihnen auch wirklich gut? Mir ist Ihre Verletzung aufgefallen.« Ich sehe die Sorge in ihrem Blick und kann nur staunen, wie leicht es ihr fällt, ihr Mitgefühl zu zeigen.

»Bestens«, sage ich wegwerfend und weiche zurück. »Ich möchte, dass Sie einen alten Fall ausgraben – einen Hausbrand weiter unten an der Küste vor über acht Jahren, bei dem eine Frau ums Leben kam.«

*

Krank vor Sorge wegen Joshs Aussage gehe ich die Treppe zum Parkdeck im zweiten Stock hoch und quetsche mich durch die Autoreihen zur kleinen Aussichtsplattform mit Blick auf die Straße durch. Geschützt vor Wind und neugierigen Blicken zünde ich mir eine Zigarette an und lehne mich an die Wand. Brodies blasses, flehendes Gesicht lässt mir keine Ruhe. Mein Instinkt sagt mir, dass er in Gefahr ist.

»Na so was, hier draußen steckst du also«, poltert Fleet.

Ich lasse meine Zigarette fallen. Unbegreiflicherweise treibt mir das die Tränen in die Augen.

»Kein gutes Zeichen, wenn du in der Arbeit rauchst«, sagt er.

Ohne etwas zu erwidern, drücke ich mich in die Ecke, will möglichst viel Abstand zwischen uns bringen.

»Wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragt er, zündet sich eine an und blickt mir forschend ins Gesicht.

»Alles gut.«

»Mir kannst du nicht erzählen, dass du hingefallen bist.« Seine dunklen Augen blicken freundlich, die Stimme hört sich ehrlich besorgt an.

Etwas platzt in mir, und zu meinem Entsetzen entgleiten mir die Gesichtszüge, die Tränen lassen sich nicht aufhalten.

»Woodstock, was ist los?« Er kommt zu mir und legt mir verlegen eine Hand auf die Schulter.

»Fass mich nicht an«, sage ich und ducke mich seitlich weg.

Er tritt mit hochgehaltenen Händen zurück. Um ihn her fällt ein Ascheregen nieder. »Schon gut, schon gut.«

Eine Zeit lang schweigen wir beide. Der Wind pfeift um die Betonpfeiler, als wartete er ab, was als Nächstes kommt.

»Sagst du mir wenigstens, was du hast?«, fragt Fleet. »Oder willst du nur, dass ich gehe?«

»Ich weiß, wer der gesuchte Jacoby-Zeuge ist«, sage ich. Ich kann es nicht mehr für mich behalten; schließlich wird ja doch alles herauskommen.

Er zieht die Augenbrauen komisch in die Höhe. »Ach ja?«

Ich blicke auf die brennende Zigarettenspitze. »Es ist ein Typ, mit dem ich zu tun hatte. Ich glaub, er wird sich heute stellen. Wahrscheinlich ist er genau jetzt da.«

Fleet scheint kurz darüber nachzudenken. »Hast du es gewusst?«

Ich sehe ihm in die Augen und rasch wieder weg, komme mir dümmer als je zuvor vor. »Nein, erst seit gestern.« Ich wische mir die letzten Tränen weg. »Aber das wird nicht gut aussehen. Ich tauche überall in seinen Handyverbindungsdaten auf.«

»Wird er was über dich erzählen?«, fragt Fleet. »Hast du ihm versehentlich irgendwelche Informationen gesteckt?«

»Ich glaub nicht. Er hat gesagt, er würde nichts erzählen, aber ich werde mich da schon noch rechtfertigen müssen.« Ich mache ein Würgegeräusch. »Ich komm mir so dämlich vor.«

Fleet nickt nachdenklich. Plötzlich verzieht sich sein Mund zu einer Grimasse. »Hat dieser Kerl dich verletzt?« Er zeigt auf meinen Kopf. »Scheiße, den bring ich um, wenn er das war.«

Ich denke daran, wie Fleet sich an meinen Körper presste, an seinen heißen Schnapsatem auf meiner Wange, seine Finger, die sich in meinen Unterleib wühlten. Ich spüre, wie die Hand letzte Nacht meinen Hinterkopf gepackt hielt, gefolgt vom Schock des Zusammenpralls mit der Hauswand.

Ich will nur, dass das alles weggeht. Kopfschüttelnd dränge ich mich an Fleet vorbei. »Ich muss nach Hause«, sage ich, während ein Wolkenbruch niedergeht.

*

Niemand ist in der Nähe, als ich mir meine Sachen von meinem Schreibtisch schnappe und ins Gewitter hinausrenne. Der Regen fällt in Strömen, pladdert in die Rinnsteine und haucht altem Gerümpel neues Leben ein. Im Nu bin ich klatschnass, taub bis ins Innerste. Ich bin am Ende. Ich brauche Schlaf.

Zu Hause wickle ich mir ein Handtuch um die nassen Haare, spüle ein paar Schmerztabletten mit Wasser runter und krieche ins Bett, lasse mich in das beruhigende Summen der Bewusstlosigkeit gleiten.

Kurz nach halb vier wache ich in genau derselben zusammengerollten Position auf. Das Pochen in meinem Schädel hat sich zurückgemeldet, doch ich fühle mich so ausgeruht wie lange nicht mehr. Draußen hängt ein Regenschleier über der Stadt.

Ich trinke mehr Wasser, setze mich ans Fenster und frage mich, was aus mir werden soll. Die Nachforschungen zu Josh könnten mich meine Stelle kosten. Oder zumindest meinem Ruf einen argen Dämpfer verpassen. Vielleicht stimmt ja, was ich zu Fleet gesagt habe – vielleicht sollte ich wirklich nach Hause fahren, zurück nach Smithson, und aufhören, so zu tun, als käme ich mit diesem Leben hier klar.

Ein Blitz durchzuckt den Himmel, dicht gefolgt von dumpfem Donnergrollen. Wie von den Wetterkapriolen angestoßen, klingelt mein Diensthandy.

»Detective Woodstock«, melde ich mich, als ich sehe, dass es eine Polizeinummer ist.

»Ich bin’s – Chloe.«

»Ja?« Erleichtert, dass es nicht Isaacs ist, registriere ich dennoch die Anspannung in ihrer Stimme.

»Ich hab mir den alten Fall mit dem Brandopfer angesehen. Ich weiß nicht, worauf Sie gehofft haben, aber es ist kein eindeutig geklärter Fall.«

»Erzählen Sie mir alles darüber«, sage ich. Ich will an alles andere als an Joshs perfektes Gesicht denken.

»Also Brandstiftung wurde nie ausgeschlossen, auch wenn die Untersuchung nichts Stichhaltiges ergeben hat. Wie Sie ja wissen, ist Lizzie Shorts Mutter gestorben. Sie kam nicht aus ihrem Schlafzimmer raus. Ihr Sohn Kit hingegen konnte sich mit nur leichten Verletzungen retten.«

»Wo war Lizzie?«

»Sie hat bei einer Freundin übernachtet.«

»Warum konnte Brandstiftung nicht ausgeschlossen werden?«

»Es ließ sich nicht zweifelsfrei feststellen, ob Brandbeschleuniger benutzt wurde. Die Ermittler fanden Spuren von Chemikalien im Carport, seitlich am Haus neben Jenny Shorts Schlafzimmer. Das Haus war ziemlich heruntergekommen, da kann es auch sein, dass ein Kurzschluss oder so die Ursache war – oder dass sich jemand in den Carport geschlichen und das Feuer gelegt hat. Jenny hatte damals einen kriminellen Freund. Es gab Vorfälle von häuslicher Gewalt, und sein Alibi wurde nie bestätigt.«

Ich lasse mir das durch den Kopf gehen, den Blick weiter auf die dunkelgrauen Wolken gerichtet.

»Hat die Polizei damals den Freund als möglichen Brandstifter verhört?«, frage ich

»Das schon, aber für eine Verhaftung hat es offenbar nicht gereicht«, sagt Chloe. »Außerdem hatte es in der Vorwoche ein weiteres Feuer gegeben. Ein alter Schuppen ein paar Straßen vom Haus der Shorts entfernt wurde angezündet, als die Familie nicht in der Stadt war, und da sich die Umstände ähnelten, stellte sich die Frage, ob in der Gegend ein Feuerteufel umging.«

Ich denke an Kit Shorts beschützenden Griff um die hängenden Schultern seiner Schwester im Krankenhaus. Das ungemachte Bett an dem Tag, als wir Lizzie in ihrer Wohnung aufsuchten, in dem auf beiden Seiten jemand geschlafen hatte.

»Chloe«, sage ich unvermittelt, »Sie haben definitiv keine Zahlung in Lizzies Bankbelegen gefunden, die für diesen Verlobungsring gewesen sein könnte, oder?«

»Nicht in den letzten zwei Jahren. Wir haben alle ihre Konten überprüft. Von den Wades kam er mit Sicherheit auch nicht – wir haben seine Eltern gefragt. Oder von den Beaufords. Er muss den Ring bar bezahlt haben. Falls er nicht gestohlen ist.« Sie lacht kurz auf.

»Oder ein Geschenk war«, sage ich.

»Ein Geschenk?«, wiederholt sie und versucht zu ergründen, was ich meine.

»Sie haben ein Foto von dem Ring, nicht wahr?«

»Ja. Lizzie war so freundlich, auch wenn sie partout nicht verstanden hat, was das mit dem Mord an Sterling zu tun haben sollte.«

»Das weiß ich auch noch nicht genau«, sage ich, »auch nicht, ob sie irgendwas verbrochen hat. Aber ich möchte, dass Sie alles über Jenny Short ausgraben, was Sie finden können, besonders Fotos, auf denen ihre Hände zu sehen sind.«

*

Der Regen hört so plötzlich auf, wie er angefangen hat. Ich dusche und ziehe mich an, will unbedingt aus der Wohnung. Die Luft ist eiskalt und feucht, und Leute in Anzügen auf dem Weg ins Wochenende werfen besorgte Blicke gen Himmel. Die Obdachlosen haben sich an die Hauptdurchgangsstraßen verzogen, wo sie sich unter größeren Vordächern von Läden zu den stoischen Straßenmusikern gesellen. Ich erreiche die Lobby des Hotels, in dem ich schon ein paarmal war, bestelle ein Getränk und lasse mich in die herrlich weichen Sesselpolster sinken.

Gestrige Szenen geistern mir durch den Kopf, und alles gipfelt im Zusammenprall meines Kopfs mit der Backsteinmauer. Doch während mir der Wein durch die Kehle rinnt, schiebe ich die Erinnerungen beiseite und konzentriere mich auf meine Theorie, die allmählich Gestalt annimmt.

Ich erinnere mich an Kit Shorts Ausruf, er komme direkt vom Flughafen, als er im Krankenhaus eintraf, weiß aber nicht mehr, ob das überprüft wurde. Hat er uns etwas vorgemacht? Mir geht auf, dass Kit jedes Mal, wenn ich ihn traf, Körperkontakt mit seiner Schwester hatte. Ist ihre enge Verbindung nicht normal, oder interpretiere ich da etwas hinein? Ist er von Lizzie besessen, fühlt er sich durch ihre tragische Kindheit und Jugend an sie gefesselt?

Ich frage mich, ob Sterling Kit seine Heiratspläne verraten hat. Vielleicht hat Kit ihm den Verlobungsring seiner Mutter für den Antrag gegeben. Hat Kit dann herausgefunden, was seiner Schwester entgangen war – dass Sterling ein Verhältnis mit Brodie hatte? Hat er Sterling aus dem Weg geräumt?

Hat er Brodie etwas angetan?

Ich trinke meinen Wein aus und bestelle noch einen. Der pulsierende Schmerz in meinen Schläfen stachelt mich an. Ich hole mein Notizbuch heraus und entwerfe die Zeitachse.

Hat die Verlobung diese ganze Sache ausgelöst? Aber wie passt der Überfall auf Walter Miller ins Bild? Vielleicht hatte Sterling irgendwie damit zu tun. Könnte er mit Kit gemeinsame Sache gemacht haben? Lizzie gibt an, in der Nacht, als Miller überfallen wurde, zu Hause gewesen zu sein, aber was, wenn sie lügt und ihren Freund und ihren Bruder deckt? Oder vielleicht waren Sterling und Brodie in etwas verwickelt, und sie schützt beide. Oder wir sehen alles ganz falsch – Sterling könnte Miller überfallen haben. Könnte das der Grund für seine Ermordung sein?

Ich drücke den Stift in die Notizbuchseite, sehe mir die Liste der Namen und Daten an. Bei Mord geht es immer darum, sich einen Vorteil zu verschaffen. Wer profitiert von Sterlings Tod? Alles liegt offen zutage, ich weiß es – ich erkenne nur einfach nicht, wie die einzelnen Teile zusammenpassen.

»Ist der Platz noch frei?«

Ich schaue auf und sehe einen Mann mit gepflegten goldbraunen Haaren und Krähenfüßen um die blauen Augen.

»Äh, ja«, sage ich.

»Sie sehen beschäftigt aus«, sagt er. »Kein Problem, ich muss auch arbeiten. Ich wollte bloß nicht den ganzen Abend auf meinem Zimmer hocken.«

Ich nicke höflich, ohne von meinem Notizbuch aufzusehen.

»Das ist das Blöde am Alleinreisen«, redet er gleich darauf weiter. »Wenn man jung ist, hört es sich so toll an, aber am Ende ist man manchmal ziemlich einsam.« Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas und schaut lächelnd zu mir hoch.

Ich erwidere sein Lächeln.

Er holt seinen Laptop hervor und tippt die nächste Viertelstunde mit gerunzelter Stirn munter drauflos.

Ich lasse mich in meine Gedanken zurückfallen, spiele alle Puzzleteile einzeln nacheinander durch.

»Müssen Sie die Nacht durcharbeiten?«, fragt der Fremde.

»So ungefähr«, sage ich.

Mein Handy klingelt. Isaacs.

Ich werfe dem Fremden einen entschuldigenden Blick zu. »Hallo«, sage ich mit wackliger Stimme.

»Woodstock. Fleet hat mir gesagt, dass Sie sich heute krankgemeldet haben?«

»Ja, Sir.«

»Ich brauche Sie morgen hier«, redet er entschieden weiter. »Treffen wir uns um elf Uhr. Wir müssen ein paar Dinge besprechen. Sie sind doch dazu in der Lage?«

»Ja, Sir«, sage ich, während er auflegt.

Das war’s, denke ich. Eisiger Schrecken kriecht mir von den Zehen hoch in den ganzen Körper.

»Alles in Ordnung?«, fragt der Mann.

»Was?«, erwidere ich.

»Sie sehen so aus, als könnten Sie einen Drink vertragen.« Er legt seinen Laptop auf dem Couchtisch ab und beugt sich in unmissverständlicher Absicht vor. »Lassen Sie sich von mir auf ein Glas einladen. Vielleicht können wir uns gemeinsam eine Pause von der Arbeit gönnen.«

»Ich will nichts trinken«, fauche ich, schnappe mir mein Notizbuch und stehe auf.

»Scheiße, Lady«, sagt er und weicht demonstrativ zurück, den Mund zu einer höhnischen Grimasse verzerrt. »Ich wollte Ihnen bloß einen ausgeben. Sie brauchen sich gar nicht so als Eiszapfen zu gerieren.«

Als ich weggehe, murmelt er: »Blöde Schlampe.«