Die Skyline von Melbourne kommt in Sicht, während das Taxi über die Schnellstraße kriecht. Gerade als ich zur Fahrbahn hochblicke, kommen wir ruckartig zum Stehen. Jemand hupt.
»Arschloch!«, brüllt der Fahrer. »Sorry«, murmelt er mir zu.
Mehr Hupen fallen in den Chor ein, mischen sich unter den Achtzigerjahresong im Radio.
Ich rutsche auf dem Sitz hin und her. Schon auf dem ganzen Rückflug hatte ich Krämpfe in den Beinen. Meine Knöchel jucken, der Nacken auch. Ich beuge mich vor, um an der Autoschlange vorbeizusehen.
»Was ist los?«, frage ich.
Der Fahrer zuckt mit den Schultern. »In dieser Stadt kann keiner mehr Autofahren.«
Wir schleichen wieder im Schneckentempo voran. Ich überfliege erneut meine E-Mails. Ein paar Minuten später spitze ich die Ohren, als der Radiomoderator ein Interview mit Lizzie Short ankündigt, darüber, wie sie den tragischen Tod ihres Verlobten verwindet.
»Können Sie das bitte lauter stellen?«, frage ich den Fahrer, während ich mir gerade überlege, was ich auf eine SMS von Dad antworten soll. Er ist offenkundig aufgebracht über meine Reaktion auf seine Verlobungsnachricht, und während ich einerseits ein schlechtes Gewissen habe, sein Glück getrübt zu haben, geht mir das Ganze andererseits dermaßen gegen den Strich, dass ich es nicht vernünftig hinnehmen kann.
Die Werbepause endet, und der Radiomoderator stellt in getragenem Ton Lizzie vor und rekapituliert kurz Sterlings brutale Ermordung. Ihre Stimme erfüllt das Auto, und ich sehe ihr blasses Gesicht und das glänzende lange Haar vor mir. Sie hört sich älter an, erschöpft, und drückt sich vorsichtig aus, überlegt kurz vor jeder Antwort.
»Das ganze Land trauert mit Ihnen, Lizzie«, sagt der Moderator mit ernster Stimme. »Erzählen Sie uns, wie kommen Sie zurecht?«
»Danke«, antwortet sie. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich zurechtkomme, manchmal versuche ich nur, jede einzelne Minute und Stunde zu überstehen. Es ist wahnsinnig schwer.«
»Unvorstellbar«, murmelt der Moderator. »Es muss ein furchtbarer Schock gewesen sein.«
»O ja. Es ist immer noch so, dass ich mich jeden Morgen beim Aufwachen erst kaum an das Geschehene erinnere. Es ist so furchtbar, immer wieder von Neuem begreifen zu müssen, dass er fort ist.« Lizzie gibt einen gedämpften Laut von sich. »Sorry, sorry.«
»Schon gut, weinen Sie ruhig«, sagt der Moderator, als wir in die Collins Street einbiegen.
Lizzie holt tief Luft. »Ich weiß, dass es immer schrecklich ist, einen Menschen zu verlieren, aber so plötzlich, das zieht einem den Boden unter den Füßen weg.«
»Absolut. Und diese Umstände sind einfach, na ja, unfassbar. Es hat wirklich jeden mitgenommen, den ich kenne. Und ich weiß, dass es nicht die erste Tragödie in Ihrem Leben ist. Sie haben schon in jungen Jahren Ihre Mutter verloren, nicht wahr?«
»Das stimmt. Dad hat uns verlassen, als ich fünf war, wir waren also immer nur zu dritt: ich, Mum und mein kleiner Bruder. Das Geld war knapp, aber wir haben zusammengehalten. Ich hatte so eine glückliche Kindheit. Und dann, als ich vierzehn war, hat unser Haus gebrannt, und Mum ist dabei ums Leben gekommen. Kit und ich haben bei unserer Tante gewohnt, bis ich achtzehn war, und sind dann zusammen nach Melbourne gezogen. Es war eine ziemlich schwere Zeit, aber es hat uns noch fester zusammengeschweißt.«
»Wir sind da«, sage ich zu dem Fahrer und zeige auf die Parkplatzeinfahrt der Polizeiwache.
»Furchtbar, diese Sterling-Wade-Geschichte, nicht?«, sagt er, hält an und stellt den Taxameter ab. »Einfach so am helllichten Tag erstochen zu werden.«
»Im Dunkeln ermordet werden ist auch nicht viel lustiger«, erwidere ich und reiche ihm das Fahrgeld.
*
»Sie ist wieder da!«, verkündet Fleet laut und betont die Worte wie ein Fernsehansager. »Erzählen Sie mal, Detective Woodstock, wie war Ihre kleine Landpartie?«
»Wundervoll, danke«, sage ich ruhig, lasse die Tasche auf meinen Schreibtisch fallen und schalte den Computer ein. »Jede Menge Frischluft.«
Mit leiserer Stimme sagt er: »Ist es wirklich okay für dich, wieder hier zu sein?«
Ich sehe echte Besorgnis in seinem Blick. »Alles gut, danke.«
Er sieht mich lange an. »Okay. Na, dann wollen wir mal wieder an die Arbeit.«
»Genau«, sage ich, dann: »Ich hab gerade Lizzie Short im Radio gehört.«
»Ach ja?«, antwortet Fleet. »Und was hatte unsere trauernde Witwe von sich zu erzählen?«
»Nicht viel. Es war wohl hauptsächlich eine Gelegenheit für den Moderator, sie wegen ihres tragischen Lebens zu bemitleiden.«
»Wir haben definitiv den Gipfel der Traumakultur erreicht«, sagt er und beißt in einen Müsliriegel. »Warhol wäre stolz.«
»Ich weiß«, sage ich und reibe mir die Augen. »Nicht zu fassen, dass es erst halb vier ist. Also, wie sieht’s hier mit allem aus?«
Fleet zappelt auf seinem Stuhl herum. Seine Lederjacke knirscht, während er sich hin und her reckt. Schwacher Zigarettengeruch lässt an schummrige Kneipen und laute Musik denken.
»Tja, wir haben unsere Blogverräterin gefunden«, sagt er.
»Echt? Wer war’s?«
»Eine unselige Berufsanfängerin, Kate Joosten, die vor ihrem Hipster-Mitbewohner angeben wollte«, antwortet er. »Die Knalltüte hat den Ausdruck im Besprechungsraum fotografiert und ihm gezeigt. Er hat es sich selbst per SMS geschickt, und der Rest ist buchstäblich Geschichte. Dumme Nuss.«
»Wenigstens steckte keine böse Absicht dahinter«, sage ich, denke an die unscheinbare dunkelhaarige junge Frau und daran, wie zerknirscht sie sein muss.
Fleet zuckt mit den Schultern. »Bloß Blödheit.«
»Na, jedenfalls gut, dass das geklärt ist«, sage ich. »Sonst noch was?«
»Ja. Brodie wird vermisst.«
»Wo ist er hin?«, frage ich zerstreut.
»Was an ›vermisst‹ verstehst du nicht?«, sagt Fleet lachend. »Wir haben keine Ahnung.«
»Weiß Lizzie nicht, wo er ist?«
»Nö.« Fleet gähnt. »Sie hat ihn seit Freitag nicht mehr gesehen, als er nach unserem kleinen Plausch mit ihm nach Hause gekommen ist. Sein Handy ist abgeschaltet, und seine Bankkonten hat er nicht angerührt.«
»Bist du bei ihnen vorbeigegangen?«, frage ich Fleet. »Vielleicht hat er Lizzie gebeten, ihn zu verleugnen.«
Fleet scheint darüber nachzudenken. »Stimmt. Ich klemm mich dahinter.«
Das weiße Summen der Bürobeleuchtung strengt meine Augen an. Ich blicke zu Fleet, der telefoniert, dann weiter zu Nan und Calvin, die nahe der Teeküche in einem hitzigen Disput stecken. Wer sind diese Leute? Was mache ich hier?
Ben und ich trafen heute Vormittag meinen alten Chef Jonesy im Reggie’s, einem meiner Lieblingscafés, weil ich nicht aufs Revier wollte.
Jonesy vergnügte sich damit, mich nach Interna des Polizeialltags in Melbourne auszufragen, ehe er mir begeistert von den letzten Fällen in Smithson berichtete. Ben an mich gedrückt, der mit einem Stift Kreise auf meine Hand malte, packte mich seltsamerweise das Heimweh, obwohl ich gerade daheim war und Jonesys vertrautem Geplauder lauschte.
»Und dir geht es gut, Woodstock?«, sagte er beim Abschied mit geducktem Kopf zu mir, damit ich ihm in die Augen sehen musste.
»Geht’s dir gut, Woodstock?«, fragt Fleet jetzt und reißt mich aus der Gedankenschleife.
»Was?« Ich spüre einen pochenden Druck hinter den Augen. Ben freute sich riesig, dass ich bei seinem Fußballturnier dabei war, aber ich kam mir gestern Nachmittag vor wie von einem Flutlichtscheinwerfer angestrahlt. Die vielen Fragen verfolgen mich noch. Die Blicke. Dad und Rebecca. Scott. Außerdem habe ich Josh immer noch nicht zurückgerufen, das wird also noch so eine Beziehung sein, die den Bach runtergeht.
»Manchmal ist es komisch, wieder zu Hause zu sein, hm?«, sagt Fleet.
Überrascht sehe ich ihn an und zucke mit den Schultern. »Schon okay.«
»Ist bestimmt ein nettes Städtchen, wo du herkommst. Trotzdem kann es einem den letzten Nerv rauben, was?«
Er hackt eine Zeit lang auf seine Tastatur ein. Kritzelt etwas auf seinen Notizblock.
Ich versuche es mit: »Fährst du oft nach Hause zurück?«
»Eigentlich nicht«, sagt er gleichmütig und unterstreicht dabei mit übertriebener Verve einige Wörter.
»Hast du manchmal Heimweh?«, frage ich nach.
Er schnaubt, aber mit freundlichem Blick. »Jetzt wollen wir hier mal keine Seelenklempnerei veranstalten. Na los, meine Teilzeitfreundin«, sagt er und springt auf. Einen Stift wie eine Zigarette zwischen den Fingern, klopft er damit seitlich an seinen Schreibtisch. »Wir haben verdammt viel zu tun.«
*
Als wir zur Nachmittagsbesprechung aufbrechen, kommt Ravi Franks auf uns zu und hält uns sein Handy entgegen.
»Sehen Sie sich das an«, sagt er. »Ava James hat gerade eine Pressekonferenz aufzeichnen lassen, in der sie vom Überfall auf Wade erzählt, aber auch ihre Probleme mit Cartwright anspricht.«
Ich betrachte Avas Gesicht unter dem Abspielknopf auf Ravis Handy. »Erwähnt sie, was er ihr getan hat?«
»Nicht direkt. Sie spricht von seiner Arroganz und Anmaßung. Ich glaub, sie nennt sein Verhalten ›übergriffig‹ und ›unangemessen‹.«
Im Flur stehend, sehen wir uns die Pressekonferenz an, und ich kann nur über das Bedürfnis dieser Leute staunen, so vieles aus ihrem Leben Fremden mitzuteilen.
Auch wenn Ava Cartwright nicht offen angreift, ist ihre Botschaft doch unmissverständlich: Sie wehrt sich. Außerdem gelingt es ihr sehr überzeugend, ihre Beziehung zu Sterling als innigst vertraut darzustellen, und ich frage mich, ob sie damit Lizzie heimzahlen will, dass sie nicht zur Trauerfeier eingeladen war.
Fleet und ich gehen ins Besprechungszimmer und eröffnen das Meeting. »Irgendwas Neues?«, frage ich das Team aggressiver als gewollt.
Avas Presseauftritt ärgert mich. Zwar stellt uns nichts, was sie gesagt hat, vor besondere Probleme, aber es fühlt sich einfach wie ein weiteres Beispiel für die Eigenwilligkeit dieses Falls an. Ich bin frustriert, dass wir genau wie alle anderen tatenlos zuschauen, wie sich immer wieder neue Aspekte der Geschichte ergeben.
Die Berichte der einzelnen Mitarbeiter erinnern an ein großes, ausuferndes Topfschlagen, bei dem uns die Spielleitung mit »Heiß!«- und »Kalt!«-Rufen in Sackgassen lotst, übereinander stolpern lässt und wieder zum Ausgangspunkt zurückschickt.
»Vielleicht haben wir da was«, sagt Ravi zögernd. »Wir haben uns nähere Einzelheiten der Filmproduktion angesehen, den Security-Plan, die Verträge, Überprüfung der Wachleute, all so was. Dabei konnten wir uns das Budget und die Bezüge vornehmen, und wie es aussieht, bekommt Katya March fast das Doppelte des bei so einem Film üblichen Betrags.«
»Kann es sein, dass sie das für sich ausgehandelt hat?«, frage ich.
»Das wissen wir nicht. Aber wir haben mit ein paar Leuten aus der Branche geredet, und die Summe ist ganz klar über der Norm.«
»Okay«, sage ich. »Gut. Wir gehen der Sache nach.«
»Es gibt noch ein paar Zeugenaussagen abzuklären: Eine junge Frau meint, ein Mann mit Kapuzenshirt habe sie fast umgerannt, als sie kurz nach der Ermordung Walter Millers auf der Carlton nach Hause ging«, sagt Chloe.
Ich berichte der Gruppe von meinen Zweifeln an Paul Wades Täterschaft. »Aber ganz aus dem Schneider ist er noch nicht. Gibt es mehr Überwachungsvideos auszuwerten?«, frage ich die Streifenpolizisten, die sich um sämtliches Filmmaterial kümmern. »Ideal wär’s, wenn wir ihn zur Tatzeit auf Band hätten.«
»Ein paar Läden liefern immer noch Bänder ab«, berichtet einer von ihnen. »Aber das ganze städtische Material haben wir, und da können wir ihn nur in dieser einen Datei finden.«
»Suchen Sie weiter«, sage ich.
Als alle im Gänsemarsch hinausgehen, versuche ich Brodie anzurufen, doch sein Handy ist immer noch abgeschaltet. Ich stecke mein Gerät wieder ein.
Fleet sieht mich fragend an.
»Brodie geht immer noch nicht ran«, erkläre ich und hebe mein Haar im Nacken an.
»Ich glaube, es wird Zeit, ihn als vermisst zu melden«, sagt er.