Ich schaue von meinem Papierkram auf und schüttle den Kopf, versuche die müden Pupillen wieder scharf zu stellen. Ben fehlt mir, merke ich; das also ist diese ganz spezielle Sehnsucht, die an mir zerrt. Mir fehlen unsere unbekümmerte Vertrautheit, seine unermüdliche Fragerei und seine weiche glatte Haut. Es fehlt mir, seinen kleinen Körper im Arm zu halten. Ich lasse mich in Gedanken kurz gehen und versetze mich wieder in mein altes Wohnzimmer, mit Ben, der auf dem Boden zu meinen Füßen spielt. Doch das Bild verwackelt. Mein Sohn fehlt mir, aber ich sehe mich nicht in mein altes Leben in Smithson zurückkehren. Ich schüttle den Kopf und lasse die Schultern kreisen. Es führt kein Weg zurück, denke ich zum millionsten Mal. Ich muss mit diesem Leben klarkommen, für das ich mich entschieden habe.
Auf Brodies Verdacht hin haben wir uns erneut die Auszüge angesehen, die unser Team bereits von Sterlings und Lizzies Kreditkartenkonten erstellt hat. Keinerlei Transaktionen belegen den Kauf eines Verlobungsrings. Laut April Wade handelte es sich nicht um ein Familienerbstück, und Lizzie meint, sie habe keine Ahnung, woher oder seit wann Sterling ihn hatte. Am gestrigen Nachmittag stimmte Lizzie zu, den Ring bewerten zu lassen, und Chloe ging mit ihr zu einem Juwelier. Der Gemmologe bestätigte zwar den hohen Wert des Steins in der beliebten Vintagefassung, doch die Herkunft des Rings bleibt nach wie vor ein Rätsel.
Danach rief Fleet Lizzie an und ließ sie uns Sterlings Antrag erneut beschreiben. Sie berichtete von seinem Kniefall während eines romantischen selbst zubereiteten Abendessens zu zweit in ihrer Wohnung in der Woche vor seinem Tod. Tatsächlich hat Wade am frühen Abend des Tages, an dem er ihr den Antrag gemacht haben soll, eine teure Flasche Sekt gekauft und über hundert Dollar in einem Großhandels-Feinkostladen ausgegeben. Zu allem Überfluss führen seine Kreditkartenauszüge auch noch einen Blumenkauf an. Ich erinnere mich an eine Vase mit welkenden weißen Rosen, die auf Lizzies Kücheninsel stand, als wir bei ihr waren. Brodie sei an dem Abend mit nächtlichen Dreharbeiten in einem Supermarkt beschäftigt gewesen, Fernsehwerbung, sodass Sterling und Lizzie die Wohnung für sich allein hatten.
Im Kopf gehe ich immer wieder unser Gespräch mit Wendy Ferla durch – die Stelle, als wir ihr von Sterlings Verlobung erzählten. Und den Ausdruck auf Aprils Gesicht, als wir es ihr sagten. Offensichtlich wussten beide Frauen weniger über Sterlings Leben, als ihnen lieb gewesen wäre. Es sieht so aus, als hätte er sich trotz seiner offenen und freundlichen Art vor vielen Leuten verschlossen gegeben.
»Auch noch ein verdammter Spitzenkoch, was?«, sagt Fleet, der sich die Quittung des Feinkostladens mit Weinhandlung ansieht: eine Käseplatte, ein Lachsfilet mit frischen Kräutern und weißer Spargel als Beilage.
»Ein richtig guter Fang«, pflichte ich ihm bei.
»Tja. Bis auf die heimliche schwule Beziehung«, sagt Fleet, holt Wasser vom Spender und stellt einen Becher vor mich hin. »Und die mögliche Affäre mit seiner Filmpartnerin.«
Ich lächle zum Dank und nehme einen großen Schluck.
Seit meinem Anruf bei ihm am Sonntagmorgen haben wir offenbar zu unserem lockeren Umgangston zurückgefunden. Wahrscheinlich wissen wir beide, dass jeglicher Vertrauensvorschuss, den Isaacs uns eingeräumt haben mag, mittlerweile aufgebraucht ist – die Zeit läuft, das ist uns beiden bewusst. Da ist es nur vernünftig, wenn wir uns am Riemen reißen, gut zusammenarbeiten und das Beste aus unserem Team rausholen.
»Meine Güte, diese ganzen Befragungen«, grummelt Fleet und scrollt aggressiv mit seiner ramponierten PC-Maus den Monitor runter. Als er heute Morgen kam, fiel mir auf, dass er besser denn je aussah: so sauber rasiert, dass die helle Haut zum Vorschein kommt, und mit irgendeinem Zeugs im Haar. Wahrscheinlich stellt er sich vor, dass er demnächst in den Nachrichten sein wird. Darauf kann man eigentlich wetten, denn Wades bevorstehende Beerdigung wirkt wie Blutstropfen im Meer, und die Haie drehen durch.
»Keine Ahnung, wie Wade dazu gekommen ist, in der Fernsehserie mitzuspielen, von allem anderen ganz zu schweigen. Ich schwör’s, der Typ hat rund um die Uhr Journalisten vollgequatscht.«
»Ich weiß, die PR allein kann einem wie ein Vollzeitjob vorkommen.«
Auch wenn ich weiß, dass Sterling ein äußerst prominenter Star war, überrascht mich immer noch die Menge an Pressematerial über ihn. Allein im letzten Monat hat er über vierzig Interviews gegeben, und Hunderte neuerer Fotos sind online in Umlauf. Ich klicke noch einen Artikel an, »Wade geht ins Wasser«, und erhalte Fotos von Sterling in himmelblauen Badeshorts, wie er mit einem Freund und einem Border Collie am Strand von St. Kilda im Meer schwimmt.
Dazu fällt mir nur ein Stoßseufzer ein: »Mann, wie ich das Internet hasse.«
Fleet schnaubt, aber ob zustimmend oder verächtlich, ist mir nicht klar.
»Vielleicht ist es wie eine Art Therapie«, überlege ich laut.
»Was?«
»Die Interviews. Im Ernst, also ich meine, er hat, wie viele, mindestens dreihundert Interviews in den letzten paar Jahren gegeben. So viel Selbstreflexion! Die ganze Zeit über sich reden. Dafür zahlen manche Leute ein Heidengeld an Psychologen.«
Fleet schnaubt erneut. »Das scheint aber nicht viel zu bringen. Sind die meisten Schauspieler nicht ständig in Therapie?«
»Kann schon sein.« Ich stehe auf und gehe in die Mitte des Büros, um mir die Beine zu vertreten. Heute Abend ist es ruhig hier. Nur leises Stimmengemurmel und sporadisches Tastaturklappern. Dazu mechanisches Heizungsbrummen als monotones Hintergrundgeräusch.
Ich hole mir ein gefülltes Doppelkeks aus der Teeküche und nehme Fleet eins mit.
»Danke«, murmelt er und schiebt es sich in den Mund, während er sich an der Wange kratzt.
Ich wende mich wieder der Durchsicht von Sterlings Finanzunterlagen zu. Für einen Anfang Zwanzigjährigen hat er stattliche Summen verdient. Diesen Ring für Lizzie hätte er sich ohne Weiteres leisten können, und mich nervt, dass wir keine Spur seines Kaufs finden können. Ich frage mich, ob er ein geheimes Bankkonto hatte. Oder einen Haufen Bargeld beiseitegeschafft und irgendwo versteckt.
»Sterling kann nicht klar gewesen sein, in was für Geldnöten seine Eltern steckten«, sage ich, während ich mir die gleichbleibend hohen Eingänge auf seinem Konto ansehe. »Er hätte ihnen leicht aus der Klemme helfen können.«
»Kinder verhalten sich halt nicht immer so, wie man es von ihnen erwartet«, sagt Fleet, ohne von seinen Protokollen aufzusehen.
»Stimmt, aber trotzdem. Ich neige zur Ansicht, dass er es einfach nicht wusste. Falls doch, hat sein Bruder recht, dann kann es einem ziemlich egoistisch vorkommen.«
Fleet macht ein unverbindliches Geräusch. »Vielleicht sind seine Erzeuger gar nicht so lieb und nett, wie es aussieht. Vielleicht hat er ihnen Hilfe angeboten, und sie haben es ausgeschlagen. Eltern können stur sein.« Da legt Fleet sich richtig ins Zeug.
»Sieh dir diese ganzen Anrufe an«, sage ich Minuten später, während ich das neueste Hotline-Protokoll durchblättere. Noch ein reichlich überbordender Mix aus Fantasie und Fakten, dem wir nachgehen dürfen. Meine Kopfschmerzen pochen stärker an den Schädel.
»Na, das ist mal was anderes als ein Fall in einer Kleinstadt, was«, sagt Fleet.
Ich schaue überrascht auf. Das muss gerade sein erster Gesprächsversuch in meine Richtung gewesen sein.
»Ähnlich, aber anders«, sage ich.
»Und, zieht es dich sehr nach Hause zurück?«
Gerade als ich antworten will – irgendeine Frotzelei, dass ich ihn doch jetzt nicht verlassen will, wo wir so gute Freunde geworden sind –, streckt Isaacs den Kopf zur Tür herein.
»Hier rein, Sie beide«, blafft er uns an.
Wir wechseln einen Blick, ehe wir aufstehen und durchs Zimmer gehen. Nan sitzt in der Reihe nach uns an ihrem Schreibtisch; mit ihrem breiten Rücken, passend zum extrabreiten Monitor, hockt sie da und hackt aggressiv auf die Tastatur ein. Sie heuchelt Desinteresse, aber ich weiß, dass ihr nichts entgeht. Sie ist wie eine gerissene alte Katze, und ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie alle Vorgänge in ihrer Gasse registriert.
Wir betreten Isaacs Büro.
»Sir«, sage ich zur Begrüßung.
»Chef«, sagt Fleet.
»Setzen«, sagt Isaacs.
Wir nehmen Platz. Er knackt mit den Knöcheln, geht wieder hinter seinen Schreibtisch und bleibt kurz stehen, ehe er sich auf seinem abgewetzten Lederstuhl zurechtsetzt. Ich lasse mir durch den Kopf gehen, was für Fehler wir gemacht haben könnten; im Raum riecht es geradezu nach Verweis.
»Wir haben ein Problem«, stellt er mit leicht geblähten Nasenflügeln fest.
Fleet und ich schweigen.
»Wades Blogeinträge, die auf seinem privaten PC gefunden wurden, sind irgendwie an die Medien durchgesickert.«
»Eine undichte Stelle?«, sage ich.
»Sieht so aus. Wir gehen nicht davon aus, dass Wade die Dateien hochgeladen hat.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgendwer aus der Einheit die Ermittlungen so sabotieren würde«, wage ich mich vor.
»Tja, dann sind Sie sehr naiv«, faucht Isaacs.
Ich weiche etwas zurück, während mir das Blut in die Wangen schießt.
»Schauen Sie«, fährt er mit fester Stimme fort, »Sie sind beide noch jung.«
Ich balle die Hände zu Fäusten, die ich ungerechtfertigterweise Nan ins selbstgefällige Gesicht schlagen möchte. Fleet hält sich aufrecht, mit versteinerter Miene, aber an seinem Hals pulsiert ein Äderchen. Auch er ist stinksauer.
»Sie sind jung«, wiederholt Isaacs, falls wir es beim ersten Mal überhört haben sollten, »und dies ist ein sehr hoch gehandelter Fall. Viel komplizierter, als ich zu Anfang angenommen habe. Meiner Erfahrung nach sind undichte Stellen ein Anzeichen für fehlenden Respekt vor der Leitung einer Einheit.«
Ich denke an die vielen Gesichter, die bei unseren Besprechungen zu uns aufsahen, an das Gefühl geballter Entschlusskraft im Raum, und kann einfach nicht fassen, dass einer von denen uns in so eine Lage bringen würde.
Obwohl ich Fleets Bitten, mich ruhig zu verhalten, förmlich hören kann, melde ich mich wieder zu Wort. »Es ist ein straff organisiertes Team, Sir. Wenn man die Arbeitszeiten und den Kraftaufwand bedenkt, haben wir gute Fortschritte gemacht.«
»Ich möchte ungern erklären, wie es sich mit Informationen verhält, die diese Dienststelle unbefugt verlassen«, fährt Isaacs fort, als hätte er mich nicht gehört. »Mich beeindruckt durchaus, wie Sie bisher alles geschafft haben, doch die Einmischung von außen nimmt nur weiter zu. Ich habe gerade erfahren, dass heute Abend ein Beitrag über Wades Blogeinträge in den Nachrichten kommt. Undichte Stellen sind inakzeptabel, und ich muss Gewissheit haben, dass Sie beide von den Mitarbeitern respektiert werden. Ich will, dass Sie in der Zusammenarbeit hundert Prozent geben, und erwarte äußerste Strenge in Sicherheitsfragen. Verstanden?«
Ich nicke, und Fleet nickt, und eine Zeit lang sitzen wir beide einfach nur da und nicken wie zwei Idioten.
»Der Fall Jacoby gibt nicht mehr viel her«, sagt Isaacs. »Nan und Calvin werden bald davon befreit sein, und ich will sie auch auf diesen Fall ansetzen, sobald ihre Kapazitäten es zulassen. Nan kann helfen, die jüngeren Polizisten bei der Stange zu halten.«
Mich packt die kalte Wut. Muss diese Strafpredigt ausgerechnet jetzt sein, wo Fleet und ich uns gerade frisch zusammengerauft haben?
»Sonst noch was, Sir?«, frage ich zögerlich nach einer kurzen Pause.
»Das wollen Sie gar nicht wissen«, sagt er leicht resigniert. »Nur so viel: Wenn wir diesen Fall nicht gelöst kriegen, wird das für keinen von uns ein Vergnügen.«