»Hör dir das an«, sage ich zu Fleet und lese aus einem Onlineartikel vor, während wir zur Kirche gehen. »Heute wird der prominente Schauspieler Sterling Wade in kleinem Kreis im Rahmen einer privaten Trauerfeier in Melbourne beigesetzt. Seine Angehörigen haben um Wahrung der Privatsphäre gebeten, wenn sie den ermordeten Filmstar zu Grabe tragen. Die Detectives der Mordkommission sind immer noch ratlos angesichts des bizarren Überfalls auf Wade, der vor über einer Woche am Drehort seines letzten Films ›Death Is Alive‹ stattfand, und halten sich bedeckt hinsichtlich der Frage, ob sie bereits einen Verdächtigen haben.«
»Na, die müssen es ja wissen«, sagt Fleet verärgert.
»Dann erzählen sie, dass Ava nicht zur Beerdigung eingeladen wurde und dass da hauptsächlich ein Who’s Who der australischen Filmwelt erwartet wird.« Ich scrolle weiter. »Außerdem gibt es einen Link zu einer exklusiven Sterling-Wade-Fotogalerie, einschließlich bislang unveröffentlichter Familienfotos.«
»Genau was seine Eltern heute brauchen können«, sagt Fleet und zündet sich eine Zigarette an. »Zeig mal her.« Er verlangt mit einem Wink nach meinem Handy und raucht beim Runterscrollen wie ein Schlot. »Du lieber Himmel, diese Kommentare!«, sagt er höhnisch grinsend. »Was ist bloß los mit den Leuten?« Er starrt zufällig Vorbeigehende finster an, als könnten sie etwas für die Worte, die er auf meinem Handy liest. »Also ich mein, was soll das, hier gelobt eine, die sich Sterlings Frau nennt, ihr Erstgeborenes nach ihm zu benennen.« Sein Daumen wischt über das Display. »Noch dazu findet ein Haufen Leute, dass wir einen Scheißjob machen – alles Experten natürlich.« Er gibt mir das Handy zurück und drückt seine Zigarette in einem Mülleimer aus. »Holen wir uns einen Kaffee vor der Show«, sagt er und geht schon mal vor.
Wir gehen in das Café, wo wir uns am Sonntag zum Frühstück getroffen haben, und bestellen Kaffee. Fleet bleibt grummelig, streckt die Beine unter dem Tisch aus und schreibt SMS auf seinem privaten Handy.
Ich sehe ihn an und frage mich, was in seiner Welt wohl so vorgehen mag.
»Muss schlimm sein für Lizzie, dass überall in den Nachrichten am Tag von Wades Beerdigung Gerüchte über seine Affäre mit Ava hochkochen«, sage ich in dem Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen.
»Die hat garantiert andere Sorgen«, antwortet er, ohne von seinem Handy aufzusehen, »zum Beispiel, welche Lippenstiftfarbe man zu Trauer trägt.«
Als unsere Kaffeetassen geleert sind, machen wir uns auf zur Kirche. Der Gottesdienst fängt erst in einer halben Stunde an, doch es sieht jetzt schon nach dem roten Teppich einer Preisverleihungsshow zur Mittagsstunde aus. Die glamouröse Menge wird von einer Horde Kameraobjektive flankiert, deren glänzende starre Augen wie Gewehrläufe auf die Gäste gerichtet sind.
»Privatsphäre, am Arsch«, murmelt Fleet und wirft sich ein Kaugummi in den Mund.
Es ist ein Fest für die Sinne: schöne, auf High Heels trippelnde Frauen begrüßen einander laut und schmeichlerisch mit Umarmungen und Küssen wie Kriegsheimkehrer, doch ich spüre auch die verzweifelte Hoffnung der Medien, die zu Sterling Wades letztem Geleit Versammelten möchten in einem unachtsamen Moment Gefühl zeigen, das sich einfangen und rund um den Erdball verschicken lässt.
In der Nähe des hohen Portals entdecke ich zwei blonde Köpfe: Sterlings Geschwister. Sie tragen das helle Haar unvorteilhaft zurückgegelt. Paul schaut besonders übellaunig drein. Matthew oder April sehe ich nicht, dafür aber Steve Beauford, ein Inbegriff glamouröser Trauer, mit einem jungen blonden Mann, wahrscheinlich seinem Sohn Jack, der Sterling viel ähnlicher sieht als die beiden leiblichen Geschwister.
Ich blicke wieder zu Paul hinüber, der aussieht, als trete er etwas Kehricht von der obersten Stufe. Abwechselnd rückt er sich die Krawatte zurecht und reibt sich die Hände.
Joanne Scanlon, eine große dünne Frau mit langen braunen Haarsträhnen, hat Paul für letzten Mittwochnachmittag ein Alibi von etwas über einer Stunde verschafft. Sie sagt, er habe sie in St. Kilda abgeholt und zu einem Parkhaus gefahren. Sie habe ihm hinten in seinem Transporter einen geblasen und etwas später mit ihm geschlafen. Danach habe er sie dort abgesetzt, wo sie eingestiegen sei. Sie weiß zwar, dass all das nach 14.30 Uhr geschah, kann aber keine näheren Zeitangaben machen.
»Er hat wenig geredet«, sagte uns Joanne. »War eher so der stille Typ. Aber mit dem Geld ist er anstandslos rübergekommen, was für mich ja die Hauptsache ist.«
»Wer hätte das gedacht, dass Paul zweimal in einer Stunde kann, was?«, sagt Fleet, der noch immer neben mir von einem Fuß auf den anderen tritt.
Ohne darauf einzugehen, beobachte ich, wie scharenweise gut aussehende Menschen auf das Portal zuströmen, wo sie anhalten, um ihren Ausweis vorzuzeigen und sich auf der Gästeliste abhaken zu lassen. Ich sehe, wie eine Frau ihre große Handtasche einem Wachmann zum Durchsuchen reicht, ehe sie die Arme hebt, um sich scannen zu lassen. Die Kameras legen einen Zahn zu, das geballte Klicken dröhnt mir in den Ohren.
Mir ist beklommen zumute, und ich fühle mich weit weg von allem, als würde gleich jemand »Schnitt!« rufen, worauf die Leute lachen und sich aus der finsteren Stimmung lösen.
Mehrere Reporter reden mit ernsten Gesichtern in Videokameras, zeigen auf die Stars hinter ihnen, die ihre Sturmfrisuren glätten. Trotz übergroßer Sonnenbrillen auf den meisten Gesichtern erkenne ich reichlich feste Größen unter den Gästen: als fände Sterling Wades Beisetzung in einem Paralleluniversum statt, zu dem die beliebtesten Filmfiguren Australiens Zugang haben, wo sie sich unter reale Personen mischen und alle im Namen geteilter Trauer zusammenfinden.
Eine Schar dünner junger Burschen mit sorgfältig gestutzten Bärten kommt um die Ecke, und die Journalisten branden wie eine Welle auf sie zu. Ich werfe Fleet einen fragenden Blick zu. »Die Welpenbande«, erklärt er mir. »Diese Jungs sind die heißesten Typen überhaupt, die verdienen einen Haufen mehr Knete als du und ich je kriegen werden, einfach nur mit Rumstehen und hübsch Aussehen.«
»Das mag vielleicht für dich gelten«, scherze ich, ziehe mein unförmiges Hemd glatt und tätschle mir übers Haar.
»Na komm«, sagt Fleet und schaut zur Kirche hoch. »Zeit, reinzugehen.«
Während die Trauergäste weiter nacheinander hineingehen, hebt sich die Wolkendecke, als wollte sie sich so weit wie möglich vom traurigen Schauspiel entfernen. Ich fröstle in einem Windstoß und sehe einem Mann mit kantigem Kinn in die Augen, der mir als Ermittler in einer Fernsehserie bekannt vorkommt. Wir lächeln uns höflich zu, und ich frage mich, ob Sterling Wades Mörder irgendwo hier ist und sich das ganze Schauspiel ansieht.
*
Die Trauerfeier wirkt routiniert, so als wollten die Wades das Ganze nur rasch hinter sich bringen. Matthew liest eine kurze Bibelstelle und spricht ein wenig über Sterling als Kind. Ab seinem Jugendalter erwähnt er nichts mehr. Aprils Schluchzen hallt während seiner Rede durch die ganze Kirche. Danach übernimmt der Pfarrer und redet über Sterlings letztes Jahrzehnt, als rezitierte er seinen Lebenslauf. Anschließend steht Lizzie rasch auf, flankiert von Kit und einer Freundin. Fragil in ihrem langen schwarzen Spitzenkleid, beteuert sie ihre ewige Liebe zu Sterling und gelobt, all das zu verwirklichen, was sie gemeinsam geplant hatten. »Ich verspreche dir, alles zu tun, damit du stolz auf mich sein kannst«, sagt sie, den Blick mit zitterndem Kinn auf Sterlings Sarg gerichtet. Ein Soundtrack aus vielfältigen Schluchzgeräuschen entsteht, deren Echo unter der hohen Deckenkuppel umherwirbelt. Juwelenbehangene, wohlproportionierte Arme werden zum Tränenwischen angehoben. Eine winzige alte Dame, die fast unter einem übergroßen Hut verschwindet, stöhnt in gewissen Abständen, während ihr ein umwerfender junger Mann tröstend den Rücken tätschelt.
Ich sehe, wie sich April hinter dem Sarg ihres Sohnes herschleppt, bei Wendy Ferla untergehakt, wie zwei Schulmädchen. April macht einen verhärmten und verwirrten Eindruck. Irgendwann schaut sie in meine Richtung, registriert mich aber nicht. Unter Beruhigungsmitteln, denke ich; den verschleierten Blick kenne ich.
Lizzie weint adrett in ein schwarzes Taschentuch, gestützt von den tröstenden Armen ihres Bruders und der Freundin. Sie umarmt rasch die Wades vor der Kirche, ehe sie sich in einen Kreis junger Frauen ziehen lässt, die sie berühren, ihr die Hände streicheln und sie fest umarmen.
»Alles so höflich, was?«, sagt Fleet und zupft sich eine Fluse vom Jackett.
Ich entdecke Brodie, blass und entrückt, der sich wie ein Gespenst am linken Rand des Geschehens herumdrückt, eindeutig unsicher, wo er hingehört. Es scheint ihn zu Lizzie hinzuziehen, die nichts davon merkt; er folgt ihr wie ein scheues Hündchen.
Cartwright hingegen steht neben Katya an die Kirchenmauer gelehnt da, raucht hektisch und beobachtet die Vorgänge hinter einer Ray-Ban-Sonnenbrille.
Die hechelnde Journalistenmeute umschwirrt die tränentriefenden Trauben von Stars, äußert Beileidsbekundungen und bettelt um O-Töne, aus denen sich Aufmacher basteln lassen.
Fleet hustet laut und schaut auf den Straßenverkehr. Die Autoschlange ist zum Stillstand gekommen, aller Augen sind eher auf das Geschehen vor der Kirche als auf die Straße gerichtet. Auf dem Gehweg lässt sich ein junger Mann mit Ohrhörern so vom Anblick eines prominenten Nachrichtensprechers ablenken, dass er gegen einen Abfalleimer läuft.
»Na, das hat Spaß gemacht, auch wenn es uns kein öffentliches Geständnis eingebracht hat«, sagt Fleet. »Holen wir uns was Leckeres auf die Hand und gehen zurück aufs Revier?«
»Klar«, sage ich nach einem letzten Blick auf die Wades. Melissa und Paul wirken steif in ihrer schlecht sitzenden Kleidung. Melissa ist mit dem Bestattungsunternehmer und einem Mann, den ich für den Security-Chef halte, in ein Gespräch vertieft; sie zeigt auf den Medienrummel, den sie offenbar eingedämmt haben möchte. Matthew und April haben nur Augen für den Sarg ihres toten Sohnes, der hinten im Leichenwagen ruht. Mehrere Sicherheitsleute in Anzügen durchstreifen das Terrain, zwei halten den Trauerzug hinter dem Leichenwagen auf Abstand.
Ich reiße mich vom Anblick der bekannten Gesichter los und schließe zu Fleet auf. Lizzie steht ein paar Meter von Sterlings Angehörigen entfernt, hält Kits Hand umklammert und redet in tragischem Ton mit einem ernst dreinschauenden Journalisten, während sie das Gesicht immer wieder Sterlings Sarg zuwendet.
»Keine Ava«, bemerke ich.
»Nö«, sagt Fleet und blinzelt in das fahle Winterlicht. »Wahrscheinlich war sie wirklich nicht eingeladen.«
Wir überqueren die regennasse Straße.
»Kommt einem schon komisch vor, dass sie übergangen wurde«, sage ich. »Sie war mit Sterling befreundet, und die Trauerfeier fand ja nun nicht wirklich in kleinem Kreis statt, noch dazu bei dem Medienansturm.«
»Vielleicht wollten die Hinterbliebenen nicht noch mehr Aufstand als so schon. Ava hätte zusätzlich Medien und Sicherheitsleute im Schlepptau gehabt. Lizzie wird keine Lust darauf gehabt und Melissa beeinflusst haben.« Er hält vor einem fettig aussehenden Fenster in einer Mauer, das Pommes, Soße und Hotdogs anpreist. Ich rümpfe die Nase. »Nebenan gibt’s Salat«, erklärt er mir zuvorkommend.
»Was sie jetzt wohl gerade macht?«, überlege ich laut.
»Meinst du Ava?«, fragt er.
»Ja. Muss komisch sein, nicht zur Beerdigung von jemandem eingeladen zu werden, der einem was bedeutet hat. Kommt mir ziemlich engstirnig vor.«
»Also bitte, Woodstock. Du weißt so gut wie ich, dass der Tod die Leute noch engstirniger macht als das Leben.«
»Stimmt«, sage ich und beobachte eine Schar Spatzen, die sich um die Überreste einer Fleischpastete streiten.
»Aber du bringst mich da auf Gedanken, was die wunderhübsche Ava in dem weitläufigen Hotelzimmer wohl gerade treibt.« Und weiter, mit ganz verträumter Stimme: »Falls sie nicht Nadeln in eine Riley-Cartwright-Voodoopuppe steckt, versucht sie sich vielleicht von ihrem Kummer abzulenken. Zum Beispiel mit einem netten Schaumbad? Ein paar Duftkerzen. Vielleicht ein feines Gläschen Prosecco und den Tränen mal so richtig freien Lauf lassen. Und dann, wenn ihr alles zu viel wird, wandert vielleicht eine Hand zu ihren schneeweißen Oberschenkeln …«
»Bestell mir einmal Pommes«, fauche ich ihn an und stapfe davon, ohne seine Antwort abzuwarten.
Ich gehe zur Swanston Street rauf, will nur mal etwas Abstand von ihm. Ein Obdachloser rempelt mich an der Schulter an und bittet um Geld. Ein paar junge Mädchen laufen vorbei, schubsen ihn beiseite und drängeln mich in den Rinnstein ab.
Feiner Nieselregen fällt, und ich schließe mich einer Menschentraube unter dem Vordach eines Schuhgeschäfts an. Ich beuge mich vor, um zu sehen, ob Fleet auf der Straße näher kommt. Den Teufel werde ich tun und zurückgehen, um ihn zu holen. Ich lächle einem pausbackigen kleinen Mädchen zu und atme warme Luft in die Kälte aus. Schließlich entdecke ich Fleet, wie er mit zwei Papiertüten in der Hand durch die Menge ankommt.
In dem Moment ruft Mary-Anne an und bestätigt, das Labor habe Spuren von Walter Millers Blut an dem Messer gefunden, mit dem Wade erstochen wurde.