Donnerstag, 16. August

20.12 Uhr

Ich bohre eine Plastikgabel in das fettige Hähnchen und stecke mir etwas in den Mund, das wie ein Stück rote Paprika aussieht. Mein Magen rebelliert, als ihn das Essen erreicht, meine einzige Mahlzeit des Tages. Fleet nagt stumm einen Hühnerknochen ab, Lippen und Kinn glänzen vom Saft. Ich tupfe mir den Mund mit einer Serviette ab und sehe mich in unserem Einsatzraum um. Papierberge stapeln sich auf den beiden langen Tischen im vorderen Bereich. Uniformierte wimmeln rein und raus, legen uns neue Erkenntnisse zu Füßen wie apportierende Hunde. Auf dem Fernsehbildschirm in der Ecke wiederholt eine bekümmert dreinschauende Nachrichtensprecherin die dürftigen Fakten, die der Öffentlichkeit bisher zum Überfall auf Wade bekannt sind. Ihre Worte scheinen direkt auf uns abzuzielen: mysteriöser Überfall, Motiv unbekannt, chaotische Szenen, ratlose Ermittler.

Heute Nachmittag unterhielt ich mich mit Sterlings Agentin Wendy Ferla, während Fleet den Beaufords einen Besuch abstattete. Wendy hauchte zwischen lauten Schluchzern mit rauchiger Stimme ins Telefon. Die Beaufords, zurückhaltender, stellten Fleet ein paar besorgte Fragen zu den Ereignissen am Set. Amy bestätigte, dass Sterling vor fast zehn Jahren zu ihnen gezogen war, als er eine Rolle in der Kinderserie Team Go bekommen hatte. Er war fast sechs Jahre lang bei ihnen geblieben, auch wenn er zwischendurch immer mal wieder über längere Zeiträume nach Karadine zurückkehrte. Amy erzählte, sie und ihr Mann Steve hätten versucht, nach Jack mehr Kinder zu bekommen, weil sie gerne ein Geschwister für ihren Sohn gehabt hätten. Der mittlerweile zwanzigjährige Jack lebt im Ausland, wo er eine Laufbahn als Talentmanager eingeschlagen hat. Davor hatte er mit dem Casting für Death Is Alive zu tun. Amy und Steve bestätigten, dass sie alle Sterling zuletzt Ende Mai gesehen haben, als er und Lizzie zum Essen bei ihnen waren.

»Er machte einen sehr glücklichen Eindruck«, erzählte Amy Fleet wehmütig. »Das Jahr ließ sich für ihn ausgesprochen gut an.«

Ich gab Wendy Bescheid, dass unsere Techniker während der nächsten Stunde in ihrer Agentur vorbeikommen würden, um alle bei ihr eingegangene Korrespondenz mit Bezug zu Sterling zu sichten, und dass wir sie tags darauf besuchen wollten. Fleet informierte die Beaufords, dass wir sie vielleicht bald erneut befragen müssten, auch ihren Sohn Jack in Los Angeles.

»Alles, womit wir dienen können«, versicherte ihm die untröstliche Amy. Sie erkundigte sich auch nach Matthew und April Wade.

»Eine Menge Leute müssen in Wades Leben involviert gewesen sein«, sagt Fleet, nachdem er mir von seinem Gespräch mit den Beaufords berichtet hat. »Ich meine immer noch, dass bei dem Überfall auf ihn nicht unbedingt Tötungsabsicht im Spiel war«, überlegt er laut, während er eine Erbse aufspießt. »Vielleicht war es als Drohung gedacht? Er hätte es überleben können.«

»Meinst du, Cartwright war sauer auf Wade, weil der ihn wegen Ava zur Rede gestellt hat?«

»Vielleicht«, sagt Fleet und pult sich Hähnchen aus den Zähnen. »Vielleicht hat es Cartwright nicht gefallen, so zurechtgewiesen zu werden.«

»Bestimmt nicht, aber meinst du wirklich, er würde seinen eigenen Film aufs Spiel setzen? Und wen hätte er dafür angeheuert? Es wäre doch ziemlich riskant gewesen.«

»Keine Ahnung«, sagt Fleet. »Aber ich würde drauf tippen, dass Leute wie Cartwright Beziehungen und ziemlich viel Einfluss haben. Vielleicht hat er einfach jemand aus dem Filmteam bezahlt. Oder einen von der Security.«

Ich lasse mir das durch den Kopf gehen. Vermutlich wäre der Mordanschlag für jemanden aus dem Filmteam am einfachsten zu bewerkstelligen gewesen. Oder sonst jemand mit Zugangsberechtigung zum Drehort, der sich hinter den Kulissen auskannte.

»Wenn«, sage ich, »müsste es eine Datenspur geben. Telefongespräche oder E-Mails.«

Fleet trinkt gluckernd Wasser aus einer Flasche mit dem verblassten Emblem einer Fußballmannschaft. »Es sei denn, sie hätten das mündlich am Set vereinbart.«

»Wir müssen diese Massenbefragungen hinter uns bringen«, sage ich. »Vielleicht ist wem aufgefallen, dass Cartwright in letzter Zeit mit einem von der Besetzung zusammengesteckt hat.« Ich entdecke Amir am anderen Ende des Raums. »Pavlich, wie läuft’s mit den Befragungen des ganzen Filmteams?«

»Gut«, erwidert er. »Wir sind gerade bei den letzten Personen angekommen. Das wird ein Riesending. Ich hab sechsunddreißig Polizisten darauf angesetzt, bemühe mich aber um mehr.«

»Toll, danke.« Ich lasse den Rest von meinem Reis stehen; die Stärke pappt unangenehm an den Zähnen. Wieder zu Fleet gewandt, sage ich: »Wenn Ava die Wahrheit sagt und Wade sich Cartwright wirklich am Sonntag vorgeknöpft hat, wäre das eine superschnelle Reaktion, um die Messerattacke einzufädeln.«

Fleet wirkt unbeeindruckt. »Was du heute kannst besorgen … Vielleicht hat Cartwright befürchtet, Wade könnte ihn bei uns anzeigen – oder, noch schlimmer, bei der Twitter-Polizei. Das könnte seine Motivation beflügelt haben.«

Fleet reckt die Arme hoch über den Kopf und wippt mit dem Oberkörper hin und her. »Ms. James hat auch kein Alibi, weißt du.«

»Sie war in ihrem Wohnwagen«, sage ich verblüfft.

»Klar, etwa dreißig Meter vom Tatort entfernt«, sagt er. »Es wäre nicht schwer für sie gewesen, in ein Kostüm zu schlüpfen und in der Menge unterzutauchen. Sie wusste, was lief und wie man ganz nah an Wade herankommen konnte.«

»Aber warum sollte sie ihn angreifen?«

Fleet kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Sicher bin ich mir nicht, aber es ist merkwürdig, dass Wade sich offenbar so als Avas Beschützer aufgespielt hat. Wie eifrig er ihr zu Hilfe geeilt ist. Vielleicht handelt es sich bloß um eine Ausgeburt ihrer Fantasie. Oder vielleicht hatten die beiden wirklich was miteinander.«

»Oder Wade war einfach nur ein anständiger Kerl, der sich für eine Freundin in Not eingesetzt hat«, gebe ich zurück.

Fleet blinzelt, kann sich aber gerade noch beherrschen, die Augen zu verdrehen. »Möglich wär’s«, räumt er ein.

»Und selbst wenn sie miteinander ins Bett gingen oder sonst was miteinander hatten, wäre das doch erst recht kein Grund für sie, einen Anschlag auf ihn zu verüben«, sage ich irritiert.

Fleet zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht. Vielleicht hat sie das mit Wade und Kent spitzgekriegt oder war es leid, dass er eine Freundin hatte. Ich hab in diesen schönen Augen einen Hauch von Wahnsinn erblickt.«

»Ach, du hältst doch alle Frauen für verrückt«, sage ich wegwerfend.

Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das Gegenteil muss mir erst noch bewiesen werden«, flapst er.

»Also, es stimmt schon, dass Ava Zugang zum Tatort hatte, aber ich kann nicht nachvollziehen, warum sie seinen Tod gewollt haben sollte. Das ergibt keinen Sinn.«

»Vielleicht ja auch nicht«, erwidert er. »Wie gesagt, es könnte als Drohung gemeint gewesen sein, die dann schiefging.«

Ich schließe die Augen und mache sie wieder auf, um mir unsere Anschlagtafel anzusehen. Wades makelloses Gesicht starrt mich an, und ich versetze mich in den Augenblick, da ihm das Messer tief in die Brust gerammt wurde. Mich schaudert. Mir kommt das nicht wie eine Drohung vor.

»Ava ist ziemlich groß«, sage ich. »Idealerweise können die Techniker den Mörder auf Video identifizieren, und wir bekommen ein paar körperliche Merkmale. Können anfangen, ein Profil zu erstellen.«

»Jap«, sagt Fleet und fährt sich durchs Haar. »Hoffentlich können wir dann eine Suchmeldung nach einem mittelalten kleinen Zombie mit gebeugter Haltung durchgeben.«

»Ich geh jetzt«, erkläre ich; mir reicht es mit seiner negativen Einstellung. »Ich brauch etwas Schlaf.«

»Cool«, sagt Fleet. Dann: »Was für einen aufregenden Tagesplan hast du noch mal morgen für uns vorgesehen?«

»Morgens Lizzie. Dann Sterlings Agentin, Wendy Ferla. Isaacs möchte außerdem, dass wir wieder bei den Wades vorsprechen; hoffentlich sind Sterlings Geschwister dann schon hier. Mit Cartwright müssen wir auch reden. Ich hab vergessen, mich bei der Einheit für Sexualdelikte nach seiner Reaktion auf die Anzeige zu erkundigen. Die können wir vom Auto aus anrufen, nachdem wir bei Lizzie waren.« Ich werfe alle Imbissschachteln in den Müll und wische den Tisch mit einer Serviette ab, überwältigt von dem Berg an Arbeit, der auf uns wartet.

»Großer Tag«, bemerkt Fleet. »Kann’s kaum erwarten.«

Ich gehe am Walter-Miller-Besprechungsraum vorbei nach draußen. Zwei Uniformierte sind noch da und sichten schweigend Papiere. Ich schaue zur Anschlagtafel, die im Vergleich zu unserer viel dürftiger bestückt ist. Hoffnungslosigkeit überkommt mich, doch ich gehe einfach weiter in dem Wissen, dass es jetzt wenig gibt, was ich für Walter tun kann.

*

Draußen trifft die kalte Luft auf meine Lunge, ein Schock nach der Heizungsluft im Dezernat. Eine Straßenlaterne ist kaputt, und ich durchquere rasch die Dunkelheit, um zum weißen Lichtkegel weiter vorn zu gelangen. Ein junger Bursche kommt von hinten angejoggt und erschreckt mich, als er auf einen Stock tritt, der auf dem Boden liegt. In einer der Wohnungen weiter oben wird eine Balkontür aufgeschoben, und aufgeregte Schreie von Teenagern dringen in die Nacht. Ebenso rasch geht die Tür wieder zu, die Schreie verstummen.

Die Sterne sind heute Nacht stumpf, gedimmt vom aufsteigenden Lichtschein der Stadt.

Ich greife zu meinem Handy und sehe eine Anzahl verpasster Anrufe. Dad, Candy, Scott. Ich ärgere mich über mich selbst und nehme mir fest vor, Ben morgen früh zurückzurufen. Seufzend überfliege ich eine SMS von Josh, der fragt, wie es mir geht, und tippe ihm rasch eine Entschuldigung, dass ich so beschäftigt bin. Dann klingle ich Candy an.

»Gemma! Wie kannst du es wagen, dich so lange nicht zu melden. Ich sterbe buchstäblich hier in der Diaspora.«

»Was, du liegst im Sterben?« Ich lächle. »Kommt nicht infrage.«

»Einfach unfassbar!«, quasselt sie weiter.

»Na ja, ich …«

»Das ist doch wohl die irrste Story ever. Voll abgedreht. Alle reden nur noch davon. Ich versuch ja auch, meine persönlichen Gefühle da rauszuhalten, aber ich bin komplett aufgelöst. Es ist so verdammt tragisch. Wade war voll der Hammer

»Ja, und …«

»In den war ich mega verknallt, weißt du? Das hab ich dir wohl schon gesagt, oder?«

Ich lächle. »Du könntest es ein-, zweimal erwähnt haben.«

»Also, was kannst du mir verraten?«

»Candy, du weißt doch, dass ich dir gar nichts verraten darf.«

»Ach, komm schon. Irgendwas doch wohl?«

»Ich kann dir nur sagen, dass es der absolute Albtraum ist. Besonders mit den ganzen Journalisten, die einem in die Quere kommen.«

Sie überhört die Spitze. »Aber es war doch wohl ein ausgeflippter Psychopath, oder? Jemand vom Film, der ausgerastet ist?«

»Wir wissen es nicht«, sage ich wahrheitsgemäß.

»Wozu hat man denn eine tolle Ermittlerin zur Freundin, wenn du mir keine vertraulichen Informationen zusteckst?«, stöhnt sie theatralisch.

Ich lache wieder. »Sorry, Candy. Aber, hey, vielleicht kannst du mir helfen. Wir treffen uns morgen wieder mit Wades Eltern, und bestimmt kannst du mir mehr über die finanziellen Schwierigkeiten verraten, die du erwähnt hast.«

»Na ja, wie ich in der Voicemail gesagt hab, ich hab diesen Typen aufgegabelt, mit dem ich zur Schule gegangen bin und der die Familie kennt – der hat sich sogar ziemlich schnuckelig rausgemacht, sehr zu meinem Vorteil –, aber jedenfalls hat er mir gesagt, er habe gehört, dass die Wades ernsthaft in Geldnöten stecken.«

»Aber wenn es so schlimm um sie steht, hätte Sterling ihnen doch sicher aushelfen können, oder?«

»Das könnte man meinen, aber vielleicht haben sie gefragt, und er hat Nein gesagt, oder sie wollten nicht, dass irgendwer davon erfährt, nicht mal ihre Kinder. Natürlich hab ich noch etwas weiter gebohrt. Es sieht definitiv schlecht aus. Sie hatten ein paar ganz schlimme Jahre mit der Farm und haben sich bis über beide Ohren verschuldet. Ihr Grundbesitz ist riesig und verschlingt Geld in rauen Mengen. Sieht nicht so aus, als ob sie ihn behalten könnten.«

Wir plaudern noch etwas – bis Candy anfängt, mich nach meinem Liebesleben auszufragen, und ich mich herausrede und auflege.

An der Ecke Collins Street bleibe ich stehen. Auf einmal will ich nicht in mein kaltes leeres Apartment zurück. Ich halte Ausschau nach Macy, doch sie ist nicht an ihrer üblichen Stelle, und ich hoffe, dass sie irgendwo mit Lara zusammen und in Sicherheit ist.

Ich weiß, wohin ich gehe, bevor ich es mir überhaupt selbst eingestehe. Mit brennender Haut gehe ich an Dutzenden von Gesichtern vorbei. Hunderten. Im Vergleich zu Smithson ist Melbourne so voller Leute und so viel bunter gemischt. Die Leute hier gehen in komplett unterschiedliche Lebenszusammenhänge nach Hause, ihre Alltagsroutine ist ein Schmelztiegel aus diversen Versatzstücken. Die Bandbreite an Originalen, die es in die Innenstadt zieht, lädt mich mit Energie auf. Hier ist es so viel akzeptabler, die Person zu sein, die man sein will. Man muss sich nach keiner vorgegebenen Schablone richten, keinen starren Richtlinien folgen.

Als ich mich dem Hotel nähere, spüre ich schon fast das bauchige Weinglas in meiner Hand, den weichen Lounge-Samtsessel unter mir. Ich kann mir vorstellen, in einem der oberen Zimmer mit beiden Händen über den Körper eines Fremden zu streichen. Ich sehe den Hotelpagen aus schmalen Augen an, werfe das Haar zu einer Seite und schäle mich aus dem Mantel, während ich die warme, laute Lobby betrete, wo es mir vorkommt, als verkünde fröhliches Gläserklirren meine Ankunft.