Blut
Nach einer langen Siesta wachte ich um sieben Uhr abends auf. Es war heiß. Ein viel zu heißer Sommer für diese chronisch kalte Stadt. Die anderen schliefen oben. Mein Zimmer lag im Erdgeschoss. Mein Vater hatte es aus Pressholz gezimmert, direkt neben dem Gästeklo. Ohne Fenster, mit einer nackten Glühbirne als einziger Beleuchtung. Dazu eine Pritsche und ein kleiner Schreibtisch.
Durch die nur zwei Zentimeter dicken Wände bekam ich immer alles mit. Ihre Stimmen, ihre Schritte, ihr Schweigen.
Schwitzend stand ich auf und verließ mein Zimmer. Die ganze Familie war zu Hause. Meine Großmutter saß auf dem braunen Sofa und sah sich auf dem riesigen Fernseher eine Quizsendung an. Meine Mutter war in der Küche und kochte das Abendessen. Mein Vater saß im Esszimmer und las in den Broschüren zu ihrer Europareise. Es würde das erste Mal sein, dass jemand aus unserer Familie über den Atlantik flog. Meine Eltern würden am folgenden Morgen nach Madrid aufbrechen und zwei Monate lang verschiedene Länder bereisen. Mein Bruder Carlos, der sechs Jahre älter war als ich, hockte am Boden und streichelte unseren Hund King, einen Boxer mit einer markanten Narbe auf der linken Lefze, in die ihm ein Betrunkener, mit dem er als Welpe hatte spielen wollen, ein Messer gestoßen hatte. In ihrem Käfig hüpften Whisky und Wodka, zwei australische Wellensittiche, von einem Stöckchen aufs andere und warteten ungeduldig darauf, dass meine Großmutter endlich ein Tuch über sie legte, damit sie schlafen konnten
.
Ich träume oft von dieser Szene, vor allem während der Siesta. Es war das letzte Mal, dass ich sie zusammen sah. Im Laufe der kommenden vier Jahre würden alle sterben. Mein Bruder, meine Eltern, meine Großmutter, die Wellensittiche und King.
Als Erster starb mein Bruder Carlos, zwanzig Tage nach jenem Abend. Danach ging eine Lawine des Todes über meine Familie hinweg. Tod über Tod über Tod.
Ich hatte zwei Brüder. An beider Tod trug ich die Schuld. Und wenn nicht die Schuld, so doch die Verantwortung.
Mit meinem anderen Bruder teilte ich die Höhle namens Uterus. Acht Monate lang wuchs an meiner Seite ein mit mir identischer Zwilling heran. Beide hörten wir denselben Herzschlag, nährten uns vom selben Blut, schwammen in derselben Flüssigkeit, streiften einander an Händen, Füßen, Köpfen. MRT
-Aufnahmen beweisen heute, dass Zwillinge um den Platz im Mutterleib rangeln. Es sind harte, gewalttätige, nie aussetzende Territorialkämpfe, bei denen sich einer der Zwillinge schließlich gegen den anderen durchsetzt.
Meine Mutter hat die Zuckungen in ihrem Bauch nicht als Teil einer wilden Schlacht begriffen. Ihrer Ansicht nach kamen die beiden Mädchen (sie war überzeugt, dass es Mädchen waren) gut miteinander aus. Dem war aber nicht so. In einem dieser Uterusscharmützel drängte ich meinen Bruder so lange in Richtung Gebärmutterhals, bis er sich in seiner Nabelschnur verfing. Die Falle war gestellt: Mit jeder Bewegung zog sich der Strick enger um seine Kehle und schnürte ihm die Luft ab.
Der Kampf endete vier Wochen vor dem Geburtstermin. Ohne dass meine Mutter es bemerkte, wurde sie für einen ihrer Zwillinge zum Sarg. Acht Tage lang trug sie die Leiche tief in ihren Eingeweiden. Die Todessäfte überschwemmten die Fruchtblase und vergifteten das Blut, das mich nährte
.
Mein Bruder, den ich im fötalen Kampf besiegt hatte, rächte sich. Brachte mich fast um. Als der Gynäkologe meine Mutter abhorchte, die wegen Verdauungsbeschwerden zu ihm in die Praxis gekommen war, hörte er nur ein einziges Herz, das von Sekunde zu Sekunde schwächer schlug. Er legte das Stethoskop beiseite und sagte:
»Wir müssen einen Kaiserschnitt vornehmen.«
»Wann, Doktor?«
»Sofort.«
Sie kam ins Krankenhaus, direkt in den OP
. Eilig setzte man den Schnitt. Holte erst den aufgedunsenen Körper meines Bruders heraus und dann mich, der ich wie eine Kaulquappe an Land nach Luft schnappte.
Ich brauchte Transfusionen. Es dauerte lange, bis das von meinem Bruder vergiftete Blut gefiltert war. Achtzehn Tage musste ich im Krankenhaus bleiben.
In den sechs Jahren, die zwischen mir und Carlos liegen, erlitt meine Mutter drei Fehlgeburten. Zwei Mädchen und ein Junge. Keiner überstand die ersten fünf Monate. Weil meine Eltern sich so sehr wünschten, dass ein Kind diese unseligen fünf Monate durchhielt und die Schwangerschaft ein gutes Ende nahm, konsultierten sie einen Arzt nach dem anderen und versuchten es mit den unterschiedlichsten Methoden: Kräuter, Beckenbodentraining, Hormonspritzen, Wechselduschen, Basaltemperaturmessung und verschiedenen Sexstellungen. Eine davon muss gefruchtet haben, denn irgendwann schaffte ich es auf diese Welt.
Als meine Eltern nach Hause zurückkehrten, waren sie am Boden zerstört. Meine Mutter verfiel in Depressionen. Sie wollte nicht für mich sorgen, mich nicht einmal ernähren. Auch mein Vater lehnte mich ab. Er war vom Chaos und den sich überschlagenden Ereignissen mit in den Kreißsaal gerissen worden und hatte bei der Geburt
einen Ekel gegen den Leichengestank entwickelt, mit dem die Haut seines frisch geborenen Sohns imprägniert gewesen war.
Jahrelang standen zwei Wiegen in dem Zimmer, in dem ich schlief. Meine Eltern bewahrten den in neutralem Gelb gehaltenen Strampelanzug auf, der für meinen Bruder/meine Schwester gedacht gewesen war. Sie legten ihn in die Wiege, die einmal seine/ihre hätte sein sollen. Manchmal schalteten sie das Mobile mit seinen Giraffen- und Elefantenfigürchen an, das an der Decke hing. Dann drehte es sich mit seinen Sternenlichtern in der Dunkelheit, um eine leere Wiege und eine in sich versunkene Mutter zu erheitern.
Meine Großmutter rettete mich. Sie zog zu uns, als sie bemerkte, wie sehr mich meine Eltern ablehnten. Sie gab mir das Fläschchen, wechselte mir die Windeln, kleidete mich an, bis meine Mutter aus ihrer langen Lethargie erwachte und die Natur ihr kurz vor meinem ersten Geburtstag ihren Mutterinstinkt wiedergab.
Manche Kinder wachsen mit unsichtbaren Freunden auf, ich mit einem unsichtbaren Bruder. Da meine Eltern dafür sorgten, dass ich die Geschichte der missratenen Entbindung bis ins Detail kannte, fühlte ich mich für seinen Tod verantwortlich. Um meine Schuld wiedergutzumachen, spielte ich jahrelang mit dem Gespenst meines Zwillings. Ich teilte meine Spielzeuge mit ihm, schilderte ihm meine Ängste und Träume. Im Bett ließ ich immer Platz, damit er sich neben mich legen konnte. Ich spürte sein Atmen, seine Wärme. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, wusste ich, dass er die gleichen Gesichtszüge besessen hätte wie ich, die gleiche Augenfarbe, die gleichen Haare, die gleiche Statur, die gleichen Hände. Die gleichen Hände? Hätte eine Wahrsagerin ihm aus der Hand gelesen, hätten seine Linien das Gleiche besagt wie meine?
Meine Eltern tauften ihn Juan José, mich Juan Guillermo. In den Stein seines winzigen Grabs ließen sie als Todestag sein Geburtsdatum
meißeln. Was eine Lüge war: Juan José war eine Woche vorher gestorben. War nie geboren worden. Nie über sein Wasserstadium hinausgekommen, sein Fischsein.
Mein Blut wurde mir zur Obsession. Meine Großmutter hob mehrmals hervor, ich hätte mein Leben allein der Großzügigkeit anonymer Spender zu verdanken, die ihre roten Blutkörperchen, ihre Blutplättchen, ihre Leukozyten, ihr Hämoglobin, ihre DNA
, ihre Sorgen, ihre Vergangenheit, ihr Adrenalin und ihre Albträume in meinen Blutkreislauf eingespeist hätten. Jahrelang lebte ich mit der Gewissheit, dass in mir noch andere Wesen hausten, deren Blut sich mit meinem vermischt hatte.
Später, als Jugendlicher, wollte ich nach den Spendern suchen, um ihnen dafür zu danken, dass sie mir das Leben gerettet hatten. Ein Onkel enthüllte mir eine Wahrheit, die ich lieber nie entdeckt hätte: »Danken wofür, wo diese Kerle sich doch jeden Milliliter teuer haben bezahlen lassen.« (Der Handel mit Blut wurde erst Jahre später verboten.) Es waren also keine großzügigen Spender gewesen, sondern Menschen, die aus Verzweiflung ihr Blut verkauft hatten. Spritzen, die den Treibstoff des Lebens aus welken, ausgemergelten Körpern gezogen hatten. Es bedeutete eine große Ernüchterung für mich, dass ich von Söldnern aufgepäppelt worden war.
Mit neun sah ich zum ersten Mal mein eigenes Blut. Ich kickte mit Freunden aus dem Viertel auf der Straße, als der Ball auf das Grundstück eines Nachbarn flog, eines geschiedenen Anwalts und Alkoholikers, der immer, wenn er aus dem Auto stieg, seine im Hosenbund steckende Pistole sehen ließ. Die Grundstücksmauern waren von Efeu überwuchert, und oben waren Glasscherben eingelassen, um zu verhindern, dass jemand darüberstieg. Da der Anwalt nie zu Hause war, konnte ich unbesorgt am Efeu hochklettern, den Scherben ausweichen und über die Mauer springen. Der Hinweg war einfach, doch auf dem Rückweg spürte ich, dass ich mir beim Sprung auf den Bürgersteig die Hose aufschlitzte. Ich fiel hin und stand wieder
auf. Meine Freunde starrten mich erschrocken an. Aus meiner Hose tropfte Blut. Ich inspizierte mein Bein und entdeckte einen tiefen Schnitt, aus dem es rot hervorquoll. Ich zog die Wunde auseinander. Auf dem Grund schimmerte es weißlich. Ich dachte, es wäre ein Stück Glas oder irgendein anderer Gegenstand, der sich mir ins Bein gebohrt hatte, doch es war mein Oberschenkelknochen. Mir wurde schwarz vor Augen. Zum Glück kam genau in dem Moment, in dem ich bleich und benommen auf den Gehweg sank, direkt vor eine rote Lache, eine Nachbarin. Sie schleppte mich zu ihrem Ford 200, hievte mich auf die Rückbank und fuhr mich in eine viertklassige Klinik in der Avenida Ermita Ixtapalapa, die zehn Minuten entfernt lag.
Erneut Transfusionen. Noch mehr fremdes Blut. Wieder wurde ein Söldnerheer durch meine Herzkammern gepumpt: Prostituierte, Alkoholiker, alleinerziehende Mütter, hormonüberflutete Jugendliche, die Geld benötigten für einen Nachmittag im Hotel, entlassene Büroangestellte, Bauarbeiter, die ihre Kinder sattbekommen wollten, Fabrikarbeiter, die sich etwas dazuverdienen mussten, Süchtige, die ihre nächste Dosis brauchten. Durch meine Adern floss das Prekariat.
Der Arzt, der mich operierte, sagte, ich hätte die typische Wunde eines Stierkämpfers, es sei genau die Stelle, an der sich das Horn in den Schenkel bohre und die Beinschlagader aufreiße. Der Zufall wollte es, dass er chirurgischer Assistenzarzt an der Arena Plaza México gewesen war. In dem schäbigen OP
der schmutzigen Klinik, in der ich gelandet war, wusste er genau, was zu tun war, um die aufgeschlitzte Beinschlagader zu versorgen. Das Können dieses Arztes und die schnelle Reaktion der Frau, die mich hingefahren hatte, verhinderten, dass mir das Leben durch das Bein entwich.
Vierzehn Tage lag ich in dem Krankenhaus, das nur über vier Betten verfügte. In einem davon schliefen abwechselnd meine Großmutter, meine Mutter und mein Bruder. Manchmal wurde jemand mit einer Alkoholvergiftung oder das Opfer eines Autounfalls eingeliefert.
Eines Nachmittags auch ein Mann mit einem Messerstich im Bauch, der ebenfalls durch das chirurgische Geschick dieses jungen Arztes gerettet wurde.
Erst in den Nächten, die Carlos an meiner Seite verharrte, lernten wir einander wirklich kennen. Die sechs Jahre und sechs Monate, die uns trennten, hatten verhindert, dass wir uns näherstanden. In diesen frühen Morgenstunden schrumpfte der große Altersunterschied zusammen. Wir redeten viel, er sorgte dafür, dass meine Wunde drainiert wurde, dass die Krankenschwestern nicht vergaßen, mir die Antibiotika zu geben, er half mir aufs Klo und säuberte mit einem Schwamm den langen, quer über mein Bein verlaufenden Schnitt. Mit wahrer Hingabe wachte er über meine Genesung. Mir wurde bewusst, dass ich auch mit ihm den mütterlichen Uterus geteilt hatte, dass auch wir von gleichem Blut waren. Also tauschte ich meinen unsichtbaren Bruder – Juan José – für meinen sichtbaren Bruder – Carlos – ein. Ich entdeckte, dass mein wahrer Zwilling sechseinhalb Jahre vor mir geboren worden war, und wir wurden unzertrennlich.
Zwei Monate lang durfte ich auf Anordnung des Arztes keine schweren Gegenstände heben, mich bücken oder auch nur gehen, nicht einmal mit Krücken. Da meine Eltern kein Geld für einen Rollstuhl hatten, wurde ich auf einer Schubkarre ins Klassenzimmer gefahren.
An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal wieder auf eigenen Beinen nach draußen gehen konnte, suchte ich nach dem Blutfleck, den ich hinterlassen hatte. Ich betrachtete den schwarzen Schmetterling, den das Vielmenschengemisch meines Blutes auf den Gehweg gezeichnet hatte, eine Erinnerung an mein Leben, das sich beinahe auf den Asphalt entleert hätte.
Meine Mutter sah, wie ich gedankenversunken den Fleck anstarrte. Sie kam mit Eimer, Putzmittel und Bürste heraus und zwang mich, so lange zu schrubben, bis auch der letzte Rest verschwunden war. Der Fleck auf der Straße war weg, doch auf der Glasscherbe, die mir das Bein von der Innenseite des Oberschenkels bis zur Wade
aufgeschlitzt hatte, waren Spuren getrockneten Blutes zurückgeblieben, die auch mehrere Regenfälle nicht hatten abspülen können.
Ein Jahr später kletterte ich die Grundstücksmauer hinauf, schlug mit einem Hammer die Flaschenscherbe ab, an der ich mich geschnitten hatte, und verwahrte sie in einer Schublade. Vermutlich halten es auch die Stierkämpfer so mit dem Horn, das sie durchbohrt.
Auf meinem Bein blieb eine rund vierzig Zentimeter lange Narbe zurück. Hinterm Knie, um den Knöchel und an der Außenseite des Fußes ist meine Empfindung seither gestört. Dieses Taubheitsgefühl ist schwerer zu ertragen als Schmerz. Wenn einem irgendwo der Körper schmerzt, ist wenigstens noch Leben in dieser Region. Wenn es sich taub anfühlt, kann man fast sicher sein, dass etwas in einem gestorben ist.
Meine Retterin war die Mutter des Mannes, der fünf Jahre später mein Feind werden würde, weil er meinen Bruder ermordete. Ein Mord, zu dem ich Beihilfe leistete, der erste einer langen Reihe von Morden, an deren Ende meine ganze Familie ausgelöscht sein würde.