Zeltlager
Vor dem Desaster hatte ich ein gutes Leben. Ich hatte Spaß im Viertel, Freunde an meiner neuen Schule, Lehrer, die dafür sorgten, dass ich etwas lernte, gute Noten, ich spielte sehr gut Basketball, einigermaßen gut Fußball, ich hatte ein, zwei Freundinnen, sprach eine Fremdsprache, wollte studieren, wusste mich auf der Straße zu behaupten und verdiente ein hübsches Sümmchen, indem ich Carlos mit den Chinchillas half. Doch plötzlich kam die große Plage über mich, und die Ameisen des Todes fraßen alles auf.
Als ich meine Eltern verlor, wollte einer meiner Onkel, der Bruder meiner Mutter, mich unbedingt zu sich nach San Antonio, Texas, holen. Er malte mir das Leben dort in den schönsten Farben: eine Familie, die mich mit Freuden bei sich aufnehmen würde, eine exzellente Universität, Freunde, Reisen. Er war ein guter Mensch, sein Angebot war ehrlich und großzügig, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, in den USA zu leben. Er war der Einzige, der jede Woche anrief, weil er sich Sorgen machte, ob ich genügend Geld hatte, um zu überleben, um die Schulgebühr zu bezahlen, um mich in der Stadt zu bewegen. Alle anderen Verwandten, die bei der Totenwache und Beerdigung so sehr um mich bemüht gewesen waren, beschränkten sich darauf, mich zweimal anzurufen, um zu fragen, wie es mir ging. Alle wollten das Gespräch immer möglichst schnell beenden. »Hallo, Juan Guillermo. Wie geht’s?« – »So lala« – »Ja, kann ich mir denken. Es ist hart, aber du wirst drüber hinwegkommen. Ich kann es auch nicht fassen, dass sie nicht mehr unter uns sind, aber so ist das Leben, da muss man durch.« – »Nein, Tante, so ist das Leben nicht« – »Gut, mein Lieber, es wird schon wieder. Wir versuchen, dich dieses Wochenende zu besuchen, und wenn nicht dieses Wochenende, dann das nächste. Sei ein guter Junge und pass auf dich auf.« Und dann legten sie auf. Ich verstehe sie. Was hätten sie auch tun sollen? Mich zu sich holen? Mir Geld leihen? Nein. Sie hatten ihr eigenes Leben und wollten nicht, dass es vom Tod infiziert wurde. Ich hätte ihr Angebot, mich bei sich aufzunehmen, ohnehin nicht angenommen, finanziell ging es ihnen eh nicht gut. Wozu sie noch mehr in Bedrängnis bringen? Zwei meiner Tanten und einer meiner Onkel hatten kleine Kinder, keines davon älter als sechs. Was sollten sie da mit einem sechzehnjährigen Kerl, der so mutterseelenallein war?
Ja, der Tod war in mein Leben eingedrungen und hatte es zerstört. Aber ich würde nicht zulassen, dass er mich mit sich riss. Nein, mich nicht. Auf gar keinen Fall.
Es war schweinekalt. Das Thermometer zeigte sechs Grad unter null, und die guten Jungs übten mit nacktem Oberkörper Karate. »Mit dem Zwerchfell atmen« befahl Humberto, der trotz der klirrenden Kälte wirkte, als stünde er am Strand in der Sonne. »Kälte ist eine Kopfsache, Schmerz ist eine Kopfsache, Niederlagen sind eine Kopfsache. Ihr werdet sie besiegen.« Einige zitterten wie Espenlaub, hatten blau angelaufene Lippen, vor Kälte gerötete Haut. Doch keiner klagte. Das kleinste Jammern konnte den Ausschluss aus der Gruppe bedeuten. Und das wäre eine Schande. Der Katholischen Jugendbewegung anzugehören, die Werte zu vertreten, die ihnen von ihren konservativen Familien eingetrichtert worden waren, die Religion zu verteidigen, für die christliche Moral zu streiten, erfüllte diese Jungs mit tiefem Stolz. Sie geilten sich an der Vorstellung auf, inmitten all der Dekadenz ihr Seelenheil zu wahren.
Der Kälte zu trotzen, mache sie stark, behauptete Humberto. Die eisige Bergluft läutere ihren Körper und ihren Geist. Das Training bereite sie auf den Kampf vor. Ich beobachtete sie aus der Distanz, warm eingepackt in einen dicken Wollpullover. Agüitas, der mich begleitet hatte, bibberte und fluchte unablässig vor sich hin. » Verdammt! Wieso habe ich mich nur zu diesem Blödsinn breitschlagen lassen.«
Nach einem Mittwochstreffen hatte Humberto mich angesprochen. »Am letzten Wochenende des Monats organisieren wir immer ein Zeltlager in Las Monjas, wir möchten dich und deine Freunde dazu einladen.« Er schilderte es mir als einen Mordsspaß: Zelten, Lagerfeuer, Forellenangeln, Karate- und Judotraining, Gespräche, Wanderungen, Bergsteigen, Seilrutsche. Ich wusste, dass alles gelogen war, nur ein Trick, um mich näher an die Bewegung heranzuführen. Die fanatische Bekehrungswut versteckte sich gern hinter einer netten Fassade, einem einstudierten Lächeln. Ich nahm die Einladung an, nicht nur, um die guten Jungs weiter auszuspionieren, sondern auch, weil mich ihr christlicher Eifer und ihre unbestechliche Moral faszinierten.
Von meinen Freunden erklärte sich nur Agüitas bereit, mich zu begleiten. Er fuhr gern aufs Land und glaubte die Lüge, die ich ihm auftischte. »Wir werden jede Menge Spaß haben«, sagte ich. Falscher hätte ich nicht klingen können. Wer konnte schon Spaß haben mit solchen Typen?
Am Freitagnachmittag kamen wir an. Die guten Jungs bauten acht Zelte auf, in denen jeweils drei Leute schlafen würden. Agüitas und ich kriegten eins für uns alleine am äußersten Rand des Lagers. Zum Abendessen gab es süßes Gebäck und mit Wasser gestreckte Milch. Um acht Uhr befahl Humberto, alle Taschenlampen auszuschalten. Diszipliniert befolgten die guten Jungs seinen Befehl. Plötzlich lag alles im Dunkeln. Dann ertönte ein Gemurmel, das immer stärker anschwoll – die braven Jungs beteten das Vaterunser –, und schließlich, fast einstimmig, ein kräftiges Amen.
Um vier Uhr früh blies Antonio in die Trillerpfeife, um alle aufzuwecken. »Hoch mit euch, Frühstück.«
Agüitas drehte sich einmal um und mümmelte sich in seinen Schlafsack. »Die haben sie ja nicht mehr alle«, murmelte er.
Im Licht der Taschenlampen krochen die guten Jungs aus ihren Zelten. Die einen sammelten Holz, halfen beim Feuermachen oder bereiteten das Frühstück vor: einen riesigen Topf heißer Schokolade und mehrere Pfannen mit Rührei. Trotz der brutalen Kälte trugen alle nur ein weißes T-Shirt.
Ich schickte mich an, ebenfalls ohne Pullover nach draußen zu gehen. Agüitas sah mich befremdet an. »Fängst du jetzt auch an zu spinnen, Cinco?«
Ich drehte mich zu ihm um. »Ich will mir von denen nicht vorwerfen lassen, ich sei kein Mann«, erklärte ich und ging raus. Die Kälte traf mich wie ein Schlag, doch ich begann zu atmen, wie Humberto es uns beigebrachte hatte, und allmählich wurde mir etwas wärmer.
Nach dem Frühstück hielt ein junger Priester eine fast anderthalbstündige Messe. Er spickte seine Predigt mit Parabeln und Gleichnissen. Die guten Jungs erschauderten bei seinen Worten. In Wirklichkeit war seine Predigt ziemlich hohl. Reine Rhetorik, völlig substanzlos.
Als die Messe zu Ende war, rief Humberto alle zusammen. Wir sollten fünf Kilometer den Berg rauf rennen. Am Anfang liefen wir im Pulk, aber die Dickeren wie Josué oder Lalo fielen schnell zurück oder kotzten vor Erschöpfung. Humberto, der extrem fit war, lief den Hang wieder runter, um ihnen Beine zu machen. »Los, macht uns keine Schande. Weiter geht’s.« Er packte sie am Arm und zog an ihnen. Die armen Schweine sahen sich gezwungen, irgendwie den Berg hinaufzustolpern.
Aufgeben war tabu. Wie hatte ich nur übersehen können, dass die Jungen Christgeweihten in Wahrheit eine Armee waren? Der paramilitärische Arm der Katholischen Jugendbewegung. Humberto war der Oberbefehlshaber, der diese geheimen Todesschwadronen organisierte, und die anderen gehorchten ihm aufs Wort.
Nach dem Berglauf ging es in der gleichen Manier weiter. Es folgten endlose Kampfkunstübungen. Ich und Agüitas durften nicht mitmachen, nur zuschauen. Es wurde tatsächlich zugeschlagen. Nicht nur angedeutet wie normal. Sondern voll zugeschlagen. Und dazu schrie Humberto: »Ertragt den Schmerz. Schmerz ist Kopfsache.« Mehrere gute Jungs bluteten aus dem Mund oder aus der Nase, andere hatten ein geschwollenes Gesicht, wieder anderen taten die Füße weh vor lauter Treten. Da niemand jammern durfte, zogen sich die Versehrten diskret zurück. Manch einer verdrückte eine Träne, wischte sich das Blut ab und kämpfte weiter.
Um zwei Uhr gab es Mittagessen. »Frühstücken wie ein König, mittagessen wie ein Edelmann, abendessen wie ein Bettler«, beschied der Priester. In der Interpretation der guten Jungs bedeutete »mittagessen wie ein Edelmann« Gemüse, Reis und Hühnerschenkel, gekocht in einem großen Topf. Basta. Ein ziemlich fader Mix. Genügsamkeit und Disziplin.
Die »Freizeit«-Aktivitäten bestanden aus Kicken auf steinigem Gelände. Alles andere – Forellenangeln, Seilrutschen, Klettern – entpuppte sich als falsche Versprechung. Nur eines durfte nie fehlen: das Gebet davor und danach. Es schloss immer mit demselben Vers: »Ich übergebe Gott mein Leben und werde für meine Taten belohnt werden.« Mörder. Sie gaben ihr Leben für niemanden, und für ihre fanatischen Verbrechen wurden sie nicht mal bestraft.
Auf der Fahrt zurück setzte sich Humberto neben mich. Wir führten Smalltalk. Er erzählte mir, dass er gern mal einen Marathon laufen würde. »Das wollte ich schon als Kind«, sagte er. Ich wiederum erzählte ihm von meinem Wunsch, Fußball- oder Basketballprofi zu werden. Er zeigte Interesse. Fragte mich, ob ich studieren wolle. Ja, sagte ich, ich würde gern Tierarzt und Schriftsteller werden. Er lächelte. »Schreiben tut nicht immer gut«, sagte er, und ich habe nie begriffen, warum er das sagte. Dann sprach er davon, wie sehr mich die Gruppe mochte und wie schnell ich mich integriert hätte. »Dafür, dass du erst vierzehn bist, weißt du eine ganze Menge«, fuhr er fort. »Du liest die Bibel, suchst interessante Stellen aus.« Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. Wozu diese Lobhudelei? Humberto vergewisserte sich, dass niemand zuhörte, beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Am letzten Samstag im Monat treffen wir uns um acht Uhr, um neue Mitglieder in unsere Gruppe aufzunehmen. Es ist eine geheime Zeremonie, von der keiner wissen darf. Weder dein Bruder noch deine Freunde. Wir möchten, dass du ein Teil der Bewegung wirst. Du bist uns herzlich willkommen«, sagte er und lächelte übers ganze Gesicht.
Daher wehte also der Wind: Er hatte das Terrain vorbereitet, um mich zu rekrutieren. Ich war zufrieden. Meine Mission war voll aufgegangen. Carlos konnte stolz auf mich sein. »Muss ich mir die Haare schneiden?«, fragte ich. Humberto lächelte erneut. »Natürlich nicht. Jesus trug seine Haare auch so lang wie du. Später sehen wir dann, ob du das Bedürfnis verspürst, sie ein bisschen ordentlicher zu frisieren. Dann also bis Samstag?« Ich nickte. Humberto drückte mir kräftig die Schulter und lächelte wohlwollend. Ich sah durchs Fenster auf die dunkle Landstraße. Es war Nacht geworden.
Wir brauchten eine Ewigkeit, bis wir Colmillo zu mir geschafft hatten. Selbst zu dritt bekamen wir ihn kaum in den Griff. Er attackierte uns, knurrte, wollte sich losreißen. Wir rieben uns Blasen in die Hände. Die Prieto-Brüder amüsierten sich königlich und verspotteten mich. »Er wird dich bei lebendigem Leib verschlingen«, riefen sie und lachten. Der Tierarzt sah einfach nur zu. Er schien das Spektakel nicht zu genießen. Vielmehr schien er trotz meiner Boxeinlagen Mitgefühl für mich zu empfinden. Señor Prieto kam zu mir. »Junge, lass den Tierarzt seine Arbeit tun. Du wirst es nicht schaffen.« Er war ein guter Mensch. Seine Sorge um mich war aufrichtig. »Nein«, erwiderte ich bockig, »das kriege ich schon hin.« Er schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, dass diese wütende, ungezähmte Bestie mich jetzt schon heillos überforderte. Aber ich hatte nun mal beschlossen, Colmillo zu retten, und ich würde jetzt keinen Rückzieher machen. »Da ist der Tierarzt, bezahlt habe ich ihn schon. Noch ist Zeit, es dir anders zu überlegen.« »Nein«, sagte ich noch einmal. Señor Prieto zuckte mit den Schultern, ging zu seinen Söhnen und drängte sie, mit ihm ins Haus zu gehen.
Colmillo legte keine Atempause ein. Seine Energie war unerschöpflich. Fast eine Stunde lang kämpften wir uns mit ihm ab, bis wir ihn zu mir in die Garage geschafft hatten. Als Colmillo King erblickte, stürzte er sich sofort auf ihn. King flitzte in Höchstgeschwindigkeit die Treppe hoch. Bei seiner Verfolgung zog Colmillo uns hinter sich her. Weil wir gegenhielten, änderte Colmillo die Richtung, prallte gegen den Fernseher und zerbrach den Bildschirm. Er war wortwörtlich ein Wolf im Porzellanladen.
Unsere Hände bluteten bereits. Colmillo drehte sich um und schickte sich an, uns anzugreifen. Um dem zu entgehen, kreisten wir umeinander herum.
Pato sah zu mir her. »Ich kann nicht mehr«, sagte er.
»Ich auch nicht«, stimmte Jaibo mit ein.
Auch ich war erschöpft. »Helft mir wenigstens, ihn raus in den Hof zu bringen«, bat ich.
»Meine Arme machen schlapp«, sagte Pato. »Besser du versuchst es später noch mal, wenn er sich beruhigt hat.«
»Okay«, sagte ich, »bei drei lasst ihr los und rennt weg. Und vergesst nicht, die Tür hinter euch zuzumachen. Eins, zwei, … drei.«
Jaibo und Pato flüchteten. Ich war allein mit Colmillo. Er schien sich beruhigt zu haben, doch als ich die Kette lockerte, drehte er sich um und wollte mich beißen. Weil er den Maulkorb trug, konnte er nur meine Schenkel rammen. Fast hätte er mich umgeworfen. Als er erneut attackierte, schützte ich mich mit einem Stuhl. Ich bückte mich, hakte die Kette an ein Bein des Esstischs und flüchtete zur Treppe. Colmillo wollte mir folgen, aber die Kette hielt ihn zurück. Ich nahm King mit in Carlos’ Zimmer und schloss hinter mir ab. Ich hörte, wie Colmillo sich zu befreien versuchte. Stühle kippten um, Glas zerbrach, Teller fielen herunter. Dann: Stille.
Nach einer Stunde beschloss ich nachzusehen. Von der Treppe aus spähte ich nach unten. Colmillo hatte sich hingelegt. Endlich war er ruhig. Er hatte es nicht geschafft, sich von der Kette loszureißen, und den Tisch hinter sich hergezogen. Das Erdgeschoss war vollständig demoliert. Alles wieder herzurichten, würde mich ein kleines Vermögen kosten.
Ich kehrte in Carlos’ Zimmer zurück. King hatte sich ins Bad geflüchtet. Als er mich kommen sah, stellte er sich auf die Schwelle und wedelte mit dem Schwanz. Ich rief ihn her, und er kletterte scheu zu mir aufs Bett. Meine Hände brannten. Ich hatte sie mir beim Halten der Kette wundgerieben. Und meine Arme taten so weh, dass ich sie kaum anheben konnte.
Ich legte mich zu King aufs Bett. Er war nach wie vor nervös. Als Welpe war er verspielt und selbstsicher gewesen. Nach dem Messerstich jedoch wurde er argwöhnisch und ängstlich. Ich war sechs, als das passierte. Eines Abends entwischte er, als wir das Eingangstor öffneten, und rannte in Richtung Río Churubusco. Er überquerte die Avenida bei vollem Verkehr und hatte Glück, dass er nicht überfahren wurde. Mein Vater rannte ihm nach, aber King verlor sich im Dunkeln und streunte durch die Gassen von San Andrés Tetepilco. Dort stieß er auf einen Betrunkenen und versuchte, mit ihm zu spielen. Er sprang ihn an. Der Mann fühlte sich angegriffen, zog ein Messer und stieß es ihm in die Schnauze. Fast die ganze Lefze schnitt er ihm ab. King ging zu Boden und wälzte sich im Dreck. Das fanden wir aber erst heraus, als wir der Blutspur gefolgt waren und den Betrunkenen auf dem Gehweg entdeckt hatten, das Messer noch in der Hand.
King schleppte sich nach Hause, hatte aber so viel Blut verloren, dass er auf den Brachen ohnmächtig wurde und in eine Pfütze sank. Mein Vater fand ihn Stunden später, bewusstlos, halb ertrunken. Er trug ihn nach Hause, legte ihn auf den Rücksitz seines Mercury und fuhr ihn zum Tierarzt. King musste mit vierzehn Stichen genäht werden. Der Arzt verordnete Ruhe. Wir brachten ihn raus auf den Hof. Dort lag er Tag und Nacht, ohne sich zu rühren. Eines Morgens, als ich nach ihm sah, zog sich eine Ameisenspur zu seiner Wunde bis hinein in seinen Mund. Die kleinen Tierchen hatten Klümpchen geronnenen Bluts zwischen den Kiefern. Wutentbrannt trampelte ich auf den Ameisen herum, weil ich dachte, sie würden meinen Hund auffressen. Es dauerte fast zwei Monate, bis King sich wieder vollständig erholt hatte. Die Lefze wurde nie wieder gut. Wenn er ausatmete, schnaubte und brummte es.
Eine Weile dösten King und ich auf dem Bett. Das brennende Gefühl in meinen Händen weckte mich mehrmals auf. Nach zwei Stunden klingelte jemand stürmisch an der Tür. Colmillo wurde nervös und zerrte wieder den Tisch hinter sich her. Ich rannte ins Schlafzimmer meiner Eltern und öffnete das Fenster, um nachzusehen, wer geklingelt hatte. Es war Fernando. »Was ist?«, fragte ich. Er hob eine Mappe hoch. »Das sind Colmillos Papiere«, rief er. »Stammbaum, Impfpass, Tierarztberichte.« »Ich komme runter.«
Ins Wohnzimmer traute ich mich nicht. Ich wollte Colmillo nicht noch nervöser machen. Also stieg ich aufs Dach, lief rüber zu den Ávalos und stieg dort wieder runter. Ich kletterte über die Mauer und ging zu Fernando. Er hielt mir die Mappe hin. Ich blätterte sie durch. Röntgenbilder, OP -Berichte, Impfnachweise und Broschüren auf Englisch, in denen Colmillos Herkunft erläutert und Tipps zu Pflege, Ernährung und Training gegeben wurden.
Vor dem Haus der Prietos schleppten Packer Möbel zu einem Umzugswagen. »Wann geht’s los?«, fragte ich Fernando. »Um vier. Ist fast alles aufgeladen.« Wir schwiegen eine Weile. »Pass gut auf Colmillo auf«, sagte er. »Klar, du kannst ihn besuchen, wann immer du willst.« Wir umarmten uns, und Fernando ging wieder nach Hause. Er kehrte nicht mehr ins Viertel zurück, ich hörte nie wieder etwas von ihm.
Ich habe keine Ahnung, ob Colmillo mich töten wird. Oder King. Oder Whisky und Wodka. Und ich weiß auch nicht, was passieren würde, wenn Chelo zurückkäme, wenn sie mit dem Schlüssel, den ich ihr gegeben habe, die Tür öffnen und eintreten würde. Würde Colmillo sie angreifen und in Stücke reißen? Was sollte ich mit einer weiteren Toten? Nein, es darf keine weitere Tote geben. Es passt keine weitere Tote in die Grabnischen meines Kopfes. Ist schon total voll da. Auch Colmillo passt nicht mehr rein. Deshalb habe ich ihn gerettet.