Wölfe
Früh um halb sieben klingelte es an der Tür. King und ich hatten wieder in Carlos’ Zimmer geschlafen. Colmillo hatte wie üblich gewütet. Wenn es noch etwas gegeben hatte, das er hatte kaputtmachen können, hatte er es in dieser Nacht kaputtgemacht.
Ich war gerade erst eingeschlafen, als ich wie von fern das schrille Läuten der Klingel hörte. Ich beschloss, es zu ignorieren, und legte mir ein Kissen über den Kopf. Doch es klingelte immer weiter. Verschlafen stand ich auf, zog meine Latschen an und ging runter, um zu öffnen. Im Wohnzimmer schärfte Colmillo den Blick und sah zur Tür. Er hatte die Wände in meinem Zimmer endgültig zum Einsturz gebracht und die Tagesdecke, die Bettdecke und die Laken zerfetzt. Die Reste lagen überall auf dem vollgekackten und vollgepinkelten Teppich verstreut.
Ich ging durch die Garage, um aufzumachen. Draußen stand ein dicker Mann um die fünfzig mit langen, zotteligen Haaren und dichtem Schnauzbart.
»Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann musterte mich von oben bis unten. Sein Blick blieb an meiner zerrissenen Pyjamahose hängen.
»Den Pyjama kannst du bald nur noch als Putzlumpen verwenden.«
Er hatte vollkommen recht: Er war mehr ein Lumpen als ein Schlafanzug, aber seine Bemerkung schien mir trotzdem unangebracht.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Hab ich dich geweckt? «
»Ja.«
»Sehr gut. Die Morgenluft wird dir guttun.«
»Ich bin gestern spät ins Bett.«
Der Mann schien mir nicht zuzuhören. »Wo ist der Hund?«
Ich war so schlaftrunken, dass ich nicht begriff, worauf er hinauswollte. »Welcher Hund?«
»Der Hund, der gezähmt werden soll.«
»Hat der Zirkus Sie geschickt?«
»Ja.«
Der Typ sah absolut nicht so aus, als könnte er irgendwas bändigen. Er war das Gegenteil von João und Bráulio, hatte mehr von einem deutschen Komponisten des achtzehnten Jahrhunderts als von einem Tigerdompteur.
Ungläubig fragte ich nach: »Sie sind wirklich der Dompteur?«
»Ich bin sogar der Dompteurausbilder. Und ja, ich bin auch Dompteur.«
Ich konnte mir den Dicken partout nicht in einem engen, ärmellosen Kostüm vorstellen, wie meine brasilianischen Freunde es trugen. Er zog eine Visitenkarte aus der Hemdtasche und gab sie mir.
Sergio Avilés de la Garza
Animal Trainer
Lion and Tiger Tamer
Biologist
Darunter standen drei Adressen und drei Telefonnummern mit unterschiedlichen Vorwahlen. Eine Adresse in Mexiko-Stadt, eine in Saltillo, Coahuila, und eine in Houston, Texas.
Mit dem Kinn deutete Avilés in Richtung Eingang. »Das Raubtier ist da drin?«
Ich nickte.
»Darf ich reinkommen, oder soll ich dir die Tipps lieber hier draußen geben?«
Zögernd öffnete ich die Tür. Dieser Typ konnte unmöglich ein Dompteur sein. Wahrscheinlich hatte er das Gespräch belauscht, das ich mit dem Mann mit der versoffenen Stimme geführt hatte, und sich die Adresse notiert, um mich auszurauben.
Wortlos betrat Avilés das Haus, und ich folgte ihm. Als er zum Wohnzimmer kam, blieb er auf der Schwelle stehen und betrachtete das Zerstörungswerk.
»Ihr braucht keinen Dompteur, ihr braucht Zimmermänner, Klempner, Glasbauer und jemanden, der in diesem Saustall saubermacht«, sagte er grinsend.
Ich fand seine Bemerkung nicht witzig.
»Das kriege ich auch selber hin«, erwiderte ich, aber er hörte mir schon nicht mehr zu, sondern konzentrierte sich auf Colmillo. Er machte zwei Schritte auf ihn zu, um ihn besser sehen zu können, und wandte sich dann an mich.
»Wer hat dir gesagt, dass das ein Wolfshund ist?«
»Seine Besitzer. Sie haben ihn von einem Züchter in Kanada, der Wolfshunde per Annonce verkauft.«
»Die sind belogen worden«, behauptete er. »Das ist kein Wolfshund.«
»Doch, die haben alle Zertifikate mitgeschickt.«
»Das da ist kein Wolfshund, das garantiere ich dir.«
Mir wurde flau im Magen: ein Mythos drohte zu zerbrechen.
»Alaskan Malamute?«, fragte ich, in der Hoffnung, dass es wenigstens ein Schlittenhund war.
»Nein, das ist kein Alaskan Malamute und auch kein Husky oder Schäferhund oder sonst eine Hunderasse.«
»Sondern?«
»Das ist ein reinrassiger Wolf.«
Entweder irrte er sich, oder er hatte keine Ahnung.
»Das ist ein Wolfshund«, beharrte ich.
»Nein, das ist ein Canis lupus occidentalis , ein Wolf aus Ostkanada, auch bekannt unter dem Namen Mackenzie-Wolf . Das hier ist die größte Unterart. Die Tiere werden bis zu achtzig Kilo schwer, und so viel wiegt in etwa auch dieses Exemplar«, sagte er bestimmt. Er redete wie ein Artikel aus der Encyclopaedia Britannica . »Seit wann habt ihr ihn?«
»Seit zwei Tagen.«
Colmillo war angespannt und begann zu knurren.
»Von wem habt ihr ihn?«
»Von einem Nachbarn. Er wollte ihn einschläfern lassen.«
Avilés lehnte sich an die Wand und raufte sich den Bart, während er die Verwüstung betrachtete, die Colmillo angerichtet hatte.
»Das wäre vermutlich das Beste gewesen.«
Colmillo ließ ihn nicht aus den Augen.
»War er eingesperrt oder angebunden?«
»Angekettet, die ganze Zeit.«
»Ab welchem Alter?«
»Schon als Welpe.«
Avilés musterte wieder Colmillo. »Ich glaube nicht, dass ich bei ihm viel ausrichten kann, aber ich werde es versuchen.« Er sah zur Treppe. »Schlafen deine Eltern noch?«
»Ich habe keine Eltern.«
Er sah mich ungläubig an. »Du hast keine Eltern?«
»Sie sind vor kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
Sein Gesicht veränderte sich. »Mit wem lebst du hier?«
»Mit niemandem.«
»Mit niemandem? Wie alt bist du?«
»Siebzehn.«
»Hast du keine Geschwister? Großeltern?«
»Nein.«
»Wirklich niemanden?«
»Ich habe einen Boxer, zwei australische Wellensittiche und … Colmillo.«
»Wie heißt du?«
»Juan Guillermo.«
»Juan Guillermo. Arbeitest du? Gehst du zur Schule?«
»Weder noch. «
»Wie willst du das finanzieren?«
»Ich habe Ersparnisse.«
»Hat man dir gesagt, was ich verlange?«
»Ja.«
»Hast du so viel Geld?«
»Ich zahle nur, wenn Sie es schaffen, ihn zu zähmen.«
Avilés lächelte. »Die Chance, dass ich ihn zähmen kann, steht praktisch bei null. Außerdem wird es mich viel Zeit kosten.«
»Wenn Sie ihn zähmen, zahle ich, wenn nicht, nicht.«
»Das wird dich viertausend kosten.«
»Mir hat man gesagt dreitausend.«
»Dann hat man dich falsch informiert.«
»Ich habe aber nur zweitausend.«
Avilés sah zu Colmillo, dessen Augen hinter dem Maulkorb funkelten.
»Ganz ehrlich, ich rate dir, ihn an einen Zoo zu spenden oder ihn gleich ins Jenseits zu befördern.«
»Nein, ich behalte ihn. Können Sie ihn nun zähmen oder nicht?«
»Ich weiß es nicht. In der Regel kann man Wölfe problemlos als Haustiere halten, weil sie scheu und folgsam sind, aber wenn man sie nicht von klein auf gut erzieht, werden sie aggressiv, und ausgewachsen sind sie dann kaum noch zu bändigen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich meine Zeit verschwende und du dein Geld.«
»Ob ich mein Geld verschwende, ist mir egal«, sagte ich.
»Aber mir ist nicht egal, ob ich meine Zeit verschwende. Das hier kann Monate dauern, und ich habe eh schon zu viel zu tun.«
Er ging zur Treppe und setzte sich auf die zweite Stufe. Colmillo folgte ihm mit dem Blick und hörte auf zu knurren.
»Ich mach dir einen Vorschlag: Ich komme zehn Tage lang her und zeige dir, wie man ihn zähmt. Dafür berechne ich dir tausend Pesos.«
»Und wenn ich ihn nicht gezähmt kriege?«
»Dann ist das dein Problem. Nicht meins. Bist du dabei?«
Ich nickte. Avilés hielt mir die Hand ihn, und ich schlug ein.
»Abgemacht. «
Avilés stand auf und trat so nah an Colmillo heran, dass ihn die Kette gerade noch schützte. Er winkte mich herbei.
»Das muss ein Leittier sein. Ein Anführer. Er ist gewohnt zu tun, was ihm passt, und er muss lernen, dass du hier das Sagen hast.«
»Anführer, von was? Er war sein ganzes Leben lang an einen Pfosten angekettet.«
»Ihm war klar, dass sie ihn nur deshalb angekettet haben, weil sie nicht mit ihm fertigwurden. Wölfe sind nicht dumm, sie wissen, wann sie stärker sind als andere.« Avilés deutete auf Colmillo, der nur wenige Meter von uns entfernt war. »Du wirst ihm nie wieder zeigen, dass du Angst vor ihm hast.«
Ich hätte zu gern gesehen, was Avilés tun würde, wenn Colmillo frei herumliefe. Avilés nahm einen Stuhl, hielt ihn vor sich wie einen Schutzschild und ging ganz langsam auf Colmillo zu. Vier Schritte schaffte er, beim fünften stürzte Colmillo sich auf ihn. Er rammte seine Schnauze so stark in den Stuhl, dass Avilés ins Taumeln geriet, doch der Dompteur wich nicht zurück. Colmillo griff noch einmal an, und wieder hielt Avilés dem Ansturm stand.
Er drehte sich zu mir um und gab mir den Stuhl. »Jetzt du, Juan Guillermo. Lass dich bloß nicht zurückdrängen.«
Ich nahm den Stuhl und ging vorsichtig auf Colmillo zu. Der starrte mich kurz an und stürzte sich auf mich. Beinahe hätte er mir den Stuhl aus der Hand geboxt. Ich versuchte, mich zu fangen, doch Colmillo setzte sofort nach. Er stieß mir so heftig in den Bauch, dass mir die Luft wegblieb. Vor Schmerz ließ ich den Stuhl los. Ich wollte zurückweichen, um einer weiteren Attacke zu entgehen, aber Avilés befahl:
»Nicht abhauen.«
Ich rührte mich nicht, doch Colmillo sprang mich an, und ich landete auf dem Hintern. Zum Glück hielt ihn die Kette zurück, sonst hätte er mir mit dem Maulkorb das Gesicht zermanscht.
»Steh auf, nimm den Stuhl und mach’s noch mal«, sagte Avilés.
Colmillo war stark und aggressiv. Ich stand auf und wollte zurückweichen, doch Avilés legte mir eine Hand auf den Rücken .
»Nimm den Stuhl und stell dich vor ihn hin.«
Ich nahm den Stuhl, hielt ihn schützend vor mich und machte zwei Schritte nach vorn. Wieder griff Colmillo mich an, und wieder schlug er mir mit der Schnauze den Stuhl aus der Hand. Ich war ihm ausgeliefert. Er ging direkt auf meinen Schenkel los. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Bein und dachte, es wäre gebrochen.
»Nicht aufgeben!«, rief Avilés.
Ich versuchte, mich aufzurappeln, doch Colmillo drehte sich um und attackierte noch einmal das gleiche Bein. Ich fiel auf den Rücken. Mein Kopf knallte auf den Boden. Vielleicht hatte Avilés recht: Colmillo war unzähmbar.
Avilés packte mich an den Schultern und zog mich einige Meter von dem Wolf weg.
»Sehr gut«, sagte er und streckte mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich konnte kaum aufstehen. Der Schmerz in meinem Bein war unerträglich.
»Das musst du von jetzt an Tag und Nacht machen. Sooft du kannst. Kapiert? Das ist die erste Lektion.«
»Ich glaube, mein Bein ist gebrochen«, sagte ich.
»Gar nichts ist gebrochen. Du musst lernen, die Zähne zusammenzubeißen«, sagte er verärgert. »Und selbst wenn dein Bein gebrochen ist, musst du die Zähne zusammenbeißen.«
Er schob sein Hemd hoch. Sein Bauch war übersät von Narben.
»Mich haben sechs Tiger und vier Löwen angegriffen. Einer hat mir mit der Pranke den Bauch dermaßen aufgeschlitzt, dass mir die Eingeweide rausquollen. Selbst dann musste ich mich vor ihm aufbauen. Wenn ich sage, du musst die Zähne zusammenbeißen, dann heißt das, du musst die Zähne zusammenbeißen.« Er deutete auf den Stuhl. »Mach’s gleich noch mal.«
Ich hinkte zu dem Stuhl, hob ihn hoch und wandte mich Colmillo zu. Kaum hatte ich die Grenze seines Territoriums erreicht, stürzte er sich auf mich. Ich umklammerte den Stuhl, damit er ihn mir diesmal nicht aus den Händen schlagen konnte. Der Stoß war so heftig, dass mir die Arme schlackerten, aber es gelang mir, den Stuhl festzuhalten.
»Geh noch einen Schritt weiter auf ihn zu«, befahl Avilés.
Ich machte den Schritt. Entschlossen stürzte Colmillo sich erneut auf mich. Krampfhaft hielt ich den Stuhl fest. Er schwang von einer Seite zur anderen, aber Colmillo konnte ihn mir nicht aus der Hand boxen. Er startete noch zwei weitere Angriffe, schnell hintereinander. Beim zweiten warf er mich um. Ich umklammerte den Stuhl noch fester, um mich zu schützen. Colmillo sprang auf ihn, sodass er gegen meine Schulter prallte. Instinktiv stieß ich den Stuhl gegen Colmillos Kopf, der vor Schmerz aufheulte und einige Schritte zurückwich.
»Gut, sehr gut!«, rief Avilés.
Colmillo griff nicht noch einmal an. Mühsam erhob ich mich und setzte mich auf die Treppe. Das Bein und die Schulter taten mir weh, als hätte jemand mich verprügelt.
»Erste Lektion gelernt«, sagte Avilés. »Morgen früh komme ich wieder. Denk dran, dass du das von jetzt an Tag und Nacht machen musst. Und gib ihm kein Wasser. Und nichts zu fressen. Er muss lernen, dass er von dir abhängig ist.« Avilés klopfte mir auf die Schulter und grinste. »Mal sehen, ob du es nicht bereust. Bis morgen.«
Er drehte sich um und ging. Ich wechselte einen Blick mit Colmillo. Über seine Nase rann Blut und tropfte auf den Boden. Er war so oft gegen den Stuhl gerannt, dass er sie sich gebrochen hatte.
Langsam stieg ich die Treppe hinauf. Bei jedem Auftreten fuhr mir ein Schmerz durchs ganze Bein.
Ich betrat das Schlafzimmer. King lag auf dem Bett. Zur Begrüßung wedelte er mit dem Schwanz. Ich setzte mich und zog mir die Hose aus. Ein Bluterguss erstreckte sich über meinen halben Oberschenkel. Ich konnte das Bein kaum bewegen. Wenn ich Colmillo behalten wollte, musste ich den Schmerz erdulden. Es würde noch mehr kommen, viel mehr. Ich ließ mich aufs Bett fallen, schloss die Augen und schlief ein .
Ich ging weiterhin zu den geheimen Samstagstreffen, sagte Carlos oder meinen Freunden aber nichts davon. Den Pakt zu brechen, würde ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Humberto wurde nicht müde, uns vor dem hohen Preis zu warnen, sollten wir es dennoch tun. »Wenn jemand von euch seiner Mutter, seinem Bruder oder einem Freund erzählt, wer wir sind und was wir tun, wird er das teuer bezahlen, und nicht nur er, sondern auch alle, denen er von uns erzählt hat.«
Der Ton der Samstagstreffen wurde immer haarsträubender. Den Anfang machten Gebete, oder mehr als Gebete endlose Auslassungen über Rache, Tod, Jesus Christus, Armee, Strafen. Wer sich versprach und die Kette dieser Gebete unterbrach, wurde angeschrien oder bekam eine Ohrfeige, manchmal sogar einen Schlag ins Gesicht.
Humberto rechtfertigte diese Aggression: »Wir sind eine Armee, und wie eine Armee wollen wir uns auch aufführen. Wir sind Soldaten Christi, und für ihn überwinden wir unseren Schmerz.« Wer bestraft wurde, musste es standhaft ertragen. Nur keine Schwäche zeigen, nur nicht jammern. Man hatte zu gehorchen, fertig. Für die Armee, die Gemeinschaft, die Disziplin.
So brutal Humberto war, so verführerisch konnte er sein. Stets hörte er aufmerksam zu und vermittelte jedem Mitglied der Gruppe das Gefühl, wichtig zu sein. Er kümmerte sich um ihr Wohl und das Wohl ihrer Familien. Er gab Ratschläge und spirituelle Unterstützung. Seine glühenden moralischen Ansprachen rissen alle mit. Humberto wusste immer genau, welchen Knopf er drücken musste.
Auch mir gegenüber zeigte er sich freundlich und aufmerksam. Häufig bat er mich, ihn zu begleiten, wenn er Einkäufe für die Organisation zu erledigen hatte: Papierwaren, Füllfederhalter, Süßgetränke, Chips. Wenn wir aus dem Supermarkt kamen, ließ er Schokoriegel in meine Hosentasche gleiten. »Für daheim.« Ich wollte sie ihm zurückgeben, wollte ihm nichts schuldig sein. Aber er bestand darauf. »Nimm mir bitte nicht die Freude, etwas mit dir zu teilen.«
Ich bin mir sicher, dass sich die meisten den guten Jungs eher ängstlich und widerwillig angeschlossen hatten, auf Druck der Eltern oder Großeltern. Den Regeln und der strengen Disziplin unterwarfen sie sich, weil sie sich nach Anerkennung sehnten. Humberto wusste, wie er sie für sich gewinnen konnte. Nach einigen Monaten trug seine widersprüchliche Taktik aus Härte und Verführung, Disziplin und Freundlichkeit, erste Früchte. Die Jugendlichen begannen, sich tatsächlich als Soldaten Christi zu betrachten, die die katholische Wahrheit verteidigen mussten, falls nötig mit ihrem Leben. Sie hielten sich an die stillschweigende Kleiderordnung: beigefarbene Hose, langärmliges, weißes Hemd, kurz geschorenes Haar.
Selbst ich war versucht, meinen Kleiderstil zu ändern und mir die langen Haare abzuschneiden. Und auch in mir keimte das Bedürfnis, dazuzugehören, von Humberto und den anderen akzeptiert zu werden. Seine Ideen fand ich schwachsinnig, aber seine Verführungsstrategien hinterließen in meiner jugendlichen Psyche Wirkung.
Ich gehorchte seinen Befehlen, stellte infrage, was er infrage stellte, folgte seinen Dogmen. Ich würde gern behaupten können, dass ich nicht zur Gruppe gehörte, dass ich zwischen mir und ihnen eine Linie zog. Wie sehr ich bereits in Humbertos Fänge geraten war, wurde mir erst klar, als ich ihm verriet, wie Carlos sich der Verfolgung durch die Polizei entzog.
In der Nacht hörte er ihn heulen. Tief und lang. Dann trat Stille ein. Ebenfalls tief und lang. So viel Stille beunruhigte Amaruq. Er zog sich die Stiefel an und knüpfte die Zelttür auf. Nahm einen Kienspan und zündete ihn am Lagerfeuer an. Ging zu Nujuaqtutuq, um nachzusehen, ob er noch da war. Der Schnee fiel so dicht, dass er sich blind vorwärtstasten musste. Mühsam stapfte er durch den tiefen Schnee, leuchtete mit dem Kienspan nach links und nach rechts, bis er auf den Wolf stieß, der neben dem Baumstamm lag. Amaruq stellte fest, dass er ihm zu nah gekommen war, und wich zurück, aber wegen des Schneetreibens nicht schnell genug. Nujuaqtutuq erhob sich und griff ihn an. Amaruq konnte ihm gerade noch seine Fackel ins Gesicht schlagen. Verwirrt von dem Feuer, fiel der Wolf in den Schnee. Dann griff er Amaruq erneut an, wurde nur von der Kette gebremst .
Aus Müdigkeit hatte Amaruq eine Dummheit begangen. Was musste er auch mitten in der Nacht das Zelt verlassen, ohne Waffe, ohne Taschenlampe, in einem Wald, in dem sich ein Wolfsrudel herumtrieb? Warum hatte er sich Nujuaqtutuq so sehr genähert? Er musterte seinen linken Arm. Er blutete. Der Wolf hatte ihn gebissen. Er leuchtete mit dem Kienspan auf die Wunde. Der Parka war aufgeschlitzt. Blut quoll hervor. Amaruq ging ins Zelt, zog den Parka aus und krempelte das Hemd hoch. Der Wolf hatte seine Reißzähne knapp unter dem Ellenbogen ins Fleisch gerammt, die Spur zog sich quer über den Arm. Mit der Fackel brannte Amaruq die Wunde aus, um sie zu verätzen. Standhaft ertrug er das Brennen auf seiner Haut, bis die Blutung gestoppt war. Dann rieb er Schnee über die Wunde, um sie zu säubern.
Er zog den Parka wieder an, legte sich hin und versuchte zu schlafen. Der Schmerz pochte in seinem Arm und machte seine Hand taub. Jetzt waren der Wolf und er Blutsbrüder. Nujuaqtutuqs Speichel floss in seinen Adern. Ja, dieser Wolf war sein Herr. Er hatte ihn um den Verstand gebracht. Bis in die eisigen Weiten des Nordens war Amaruq ihm gefolgt. Hatte all seine Vorsicht sausen lassen, seine Vorräte aufgebraucht. War bis an die Grenze des Todes gegangen.
Er musste Nujuaqtutuq töten, sobald er konnte. Sein Fleisch essen, sein Fell überziehen, ein Messer aus seinen Knochen schnitzen. Er musste sehen wie Nujuaqtutuq, spüren wie Nujuaqtutuq, atmen wie Nujuaqtutuq.
Er schlief durch bis spät am nächsten Morgen. Als er aus dem Zelt trat, stand die Sonne bereits im Zenit. Es hatte aufgehört zu schneien, am blauen Himmel war keine einzige Wolke. Er inspizierte seine Wunde. Der Unterarm war fast aufs Doppelte angeschwollen. Die verkohlte Haut löste sich zu kleinen Körnchen auf, wenn er mit den Fingern darüberstrich. Die Löcher, die die Reißzähne hinterlassen hatten, reichten tief ins Fleisch. Er hatte Glück gehabt, dass der Wolf ihm den Arm nicht abgebissen hatte.
Er blickte sich um. Vom Rudel keine Spur. Zwischen den Kiefern lagen die mit Raureif überzogenen Kadaver der Wapitis. Er ging zu Nujuaqtutuq und setzte sich in den Schnee. Der Wolf knurrte warnend, aber Amaruq rührte sich nicht. Der Wolf griff an, doch die Kette stoppte ihn wenige Zentimeter vor Amaruqs Gesicht. Sie sahen einander in die Augen, auf gleicher Höhe. Amaruq konnte den herben Atem riechen, der seinem Maul entströmte. Der Wolf zeigte seine Reißzähne, doch Amaruq saß weiterhin reglos da. Er führte sein Gesicht noch näher heran und begann zu sprechen. »Mach dich bereit zu sterben, Nujuaqtutuq. Sieh zur Sonne. Hör das Krächzen der Raben. Spür den Schnee unter deinen Pfoten. Nimm Abschied, denn deine letzte Stunde naht.«
Das Rudel kehrte nicht zurück. Vermutlich waren sie der Wapitiherde gefolgt. Lieber jagen und frisches Fleisch fressen, als an hartgefrorenen Wapitikadavern nagen.
Im Laufe der Tage, an denen er nichts fraß und nur Schnee trank, wurde Nujuaqtutuq immer schwächer. Trotzdem knurrte er Amaruq jedes Mal an, wenn er sich näherte. Amaruq war es egal. Er setzte sich weiterhin vor ihn hin. Es gab sogar einen Moment, in dem er ihm den Kopf streichelte. Der Wolf versuchte nicht, ihn zu beißen. Er ließ zu, dass Amaruq seine Finger auf ihn legte und ihn sanft rieb.
Der Hunger und der fortschreitende Wundbrand in der Pfote nahmen dem Wolf die Kräfte. Amaruq bastelte einen Speer, um ihn zu töten. Mit dem Messer schnitzte er eine scharfe Spitze in einen langen Ahornast. Sobald Nujuaqtutuq sich hinlegte und nicht mehr aufstehen konnte, würde er ihm den Speer ins Herz stoßen, um ihn schnell zu töten.
Amaruq ritzte die Wunde an seinem Unterarm auf und befeuchtete die Spitze des Speers mit Blut. Seinen Speichel hatte Nujuaqtutuq ihm schon verabreicht, jetzt war er an der Reihe. Er würde ihrer beider Blut vermischen, dann würden sie endgültig einander gehören. In diesem Leben und in den folgenden. Die Weissagung seines Großvaters würde sich erfüllen, und Amaruq würde in Frieden sterben können. Jetzt musste der große Wolf sich nur noch ausgehungert und entkräftet auf die Seite legen, damit er ihm den Speer hineinstoßen konnte.