Wörter
In der letzten Klasse der Mittelstufe, einige Monate vor Carlos’ Tod, stellte der Spanischlehrer David Barraza uns folgende Aufgabe: »Wählt zehn Wörter aus, die ihr für unerlässlich haltet, um nach einer Naturkatastrophe mit anderen kommunizieren und überleben zu können.« Die Aufgabe schien leicht. War sie aber nicht. Zwei Stunden zerbrachen wir uns vergeblich die Köpfe. Dann läutete die Schulglocke, und keiner war fertig. Also bekamen wir die Frage als Hausaufgabe auf.
Am Nachmittag notierte ich unzählige Wörter. Die abstraktesten strich ich wieder: Ideologie, Unruhe, Spannung usw. Ich beschloss, zunächst die zu wählen, die für das nackte Überleben standen: Essen, Dach, Wasser. Dann die, die Bindung erzeugten: du, ich, wir. Und schließlich die, die einen Sinn für Menschlichkeit schufen: Liebe, Freundschaft, Freude, Trauer. Am Ende war ich zufrieden mit dem, was mir wie eine vernünftige Auswahl erschien.
Am folgenden Tag forderte Barraza uns auf, unsere zehn Wörter laut vorzulesen. Den Anfang machten zwei Mitschülerinnen, die ich für dumm und oberflächlich hielt. Beide hatten fast die gleiche Liste erstellt wie ich: Essen, Trinken, Haus, wir, ihr, Liebe, Freundschaft, Freude, Trauer. Die eine hatte noch das Wort »Eltern« hinzugefügt, die andere »Kleid«. Weitere Mitschüler trugen ihre Auswahl vor, die nur wenig abwich. Hinzu kamen noch Wörter wie Reise, Schmerz, Medizin, Geld, Angst.
Ich kam mir dumm vor. Alle waren wir in Gemeinplätze verfallen. Vielleicht lag die Falle in der Aufgabe selbst: »Wählt Wörter, die euer Überleben sichern.« Tatsächlich stellten Wörter wie Trinken, Dach,
Essen, Kleid, du, wir, Liebe schnell eine klare Verbindung zu den anderen her.
Der Lehrer schrieb die Wörter an die Tafel und machte einen Strich, wenn sich eines wiederholte. Mit meiner Auswahl würde ich die redundante Statistik nur bestätigen. Es widerstrebte mir, einer von vielen zu sein, und daher begann ich, wahllos Wörter auf das Blatt zu kritzeln, Hauptsache, sie bewahrten mich vor dieser geistigen Einfallslosigkeit.
»Jetzt du, Valdés«, sagte Barraza. Er und Fernando Alarid waren meine Lieblingslehrer. Er war jung, wollte Schriftsteller werden. Talent hatte er. Manchmal las er uns im Unterricht seine Erzählungen vor. Sie besaßen Spannung, Kraft, Fantasie.
Ich stand auf und begann, meine Liste vorzulesen, für die ich meine Assoziation frei hatte spielen lassen: nichts, alles, Rettung, verzichten, Gefahr, Vergebung, heiter, Tier, gezähmt, wild. Als ich fertig war, lächelte Barraza. »Warum sind diese Wörter unerlässlich, um zu überleben?«, fragte er mich. Ich improvisierte eine Antwort: »Weil ich alles andere mit Gesten oder Zeichnungen ausdrücken kann.« Wieder lächelte Barraza. »Ich bin nicht deiner Meinung, aber du musst selbst wissen, was du zum Überleben brauchst«, sagte er und hielt dann einen Vortrag darüber, wie wichtig es sei, eine Sprache zu finden, mit der wir in Krisenzeiten effizient kommunizieren könnten.
Er gratulierte der Klasse, weil die Mehrheit – mit meiner improvisierten Liste gehörte ich nicht dazu – mit nur zehn Wörtern einen präzisen linguistischen Rahmen erstellt hätte. Für diese Arbeit erhöhte Barraza die monatliche Durchschnittsnote der Gruppe um zwei Punkte, »du ausgenommen, Juan Guillermo, aber darüber sprechen wir noch.« Bestimmt würde er mich tadeln.
Nach dem Unterricht kam er zu mir. »Juan Guillermo, warum willst du immer anders sein als die anderen?« Seine Frage erwischte mich kalt. Ich wollte nicht anders sein, ich wollte nur nicht genauso sein wie alle anderen. »Ich versuche nur, ich selbst zu sein«, antwortete ich. Er klopfte mir auf die Schulter. »Du bist diesen Monat von allen Prüfungen befreit«, sagte er. »Wieso?«, fragte ich. »Weil Literatur die
Suche nach einer eigenen Sprache ist, nach Regelbruch, Originalität, und das hast du geschafft. Dafür gebe ich dir eine Zehn.« Er klopfte mir noch einmal auf die Schulter und überquerte den Schulhof.
Nach vier Wochen war das Fleisch aufgebraucht. Amaruq kaute das letzte Stück und blickte sich um. Er hatte in einem größeren Umkreis mehrere Fallen aufgestellt. Es war ihm egal, ob ein Wolf, ein Luchs, ein Bär oder auch nur eine Krähe hineintappte, er brauchte schlicht Nahrung.
Es war Mitte März, und der Winter schien nicht enden zu wollen. Es blieb kalt, schneite ununterbrochen, und der Wind blies Tag und Nacht. Jeder Sturm zerfetzte das Zelt ein wenig mehr. Die Seile, die es aufrecht hielten, rissen bei starken Böen, dann musste Amaruq im Dunkeln nach draußen kriechen und die losen Enden wieder festzurren, damit das Zelt nicht fortgeweht wurde.
Eines Morgens war der Himmel plötzlich blau, keine Wolke am Horizont. Nach dem wochenlangen Grau war Amaruq schier geblendet. Endlich Frühling, dachte er. Jetzt konnte er noch einmal versuchen, den Heimweg anzutreten.
Er sammelte die Fangeisen ein, legte das Zelt zusammen, verschnürte die Felle und verstaute alles auf dem Schlitten. Dann hievte er Nujuaqtutuq darauf. Der Wolf hatte abgenommen, war leicht zu tragen. Amaruq hatte das Fleisch rationiert. Anfangs hatte er Nujuaqtutuq die gleiche Portion gegeben wie sich selbst, doch dann hatte er sie reduzieren müssen, und am Ende waren für den Wolf nur noch kleine Häppchen abgefallen. Amaruq hatte bei Kräften bleiben müssen, um für beide zu jagen.
Er marschierte los. Sein Großvater war seit dem Tag, an dem er ihm das Messer überlassen hatte, nicht mehr aufgetaucht. Amaruq wusste nicht, ob er verstimmt war oder einfach nur zurückgekehrt in die fernen Gefilde des Todes. Vorsichtshalber winkte er zum Abschied und brach auf nach Süden.
Er beschloss, eine andere Route einzuschlagen. Diesmal würde er sich nicht verirren. Der breite Fluss musste zu seiner Linken liegen.
Also ging er nach rechts, gen Westen, auf das riesige Bergmassiv zu. Es würde nicht einfach werden, es zu überqueren, doch von den Gipfeln aus würde er den Horizont nach der Bahnlinie absuchen können, die nach Hause führte.
Nach einigen Tagen erreichte er den Fuß des Gebirges. Er erkannte es als das wieder, was er vom Bahnhof aus immer in der Ferne sah. Die verschneiten Gipfel, die Kiefernreihen, die bis zu den Hängen reichten, die Felsformationen, die Steilwände aus Granit. Er überlegte, wie er am besten dort hinaufkam, und entschied sich für die nördliche Route. Dort war der Hang nicht so steil, und er konnte den Schlitten leichter ziehen. Am nächsten Morgen würde er sich an den Aufstieg machen.
Er schlug das Zelt auf. Hoch oben erblickte er eine Herde Bergziegen. »Das am schwersten zu jagende Tier. Die weißen Gespenster«, hatte sein Großvater ihm einmal gesagt. »Erst wenn du ein ausgewachsenes Männchen erlegt hast, darfst du dich einen wahren Jäger nennen.« Er würde es mit dem Speer versuchen. Er würde seinem Großvater zeigen, was für ein guter Jäger er war, wie geschickt er über Abgründe klettern konnte, um sich anzuschleichen.
Er schlief so gut wie lange nicht mehr. Kein Wind wehte, und es schneite auch nicht. Selbst Nujuaqtutuq schlief tief. Er schnarchte so laut, dass Amaruq davon aufwachte. Erschrocken sprang Amaruq auf, weil er dachte, der Wolf wolle ihn angreifen. Als ihm klar wurde, dass Nujuaqtutuq nur geschnarcht hatte, musste er laut lachen.
Am folgenden Morgen kletterte er los. Es war schwieriger als gedacht. Von unten sah es leicht aus, doch immer wieder schnitten Felsblöcke und Spalten ihm den Weg ab. Er suchte nach Abkürzungen und entdeckte einen Pfad, der weniger steil war. Er folgte ihm ein gutes Stück und setzte sich in den Schnee, um auszuruhen. Sechs Stunden lang hatte er den Schlitten aufwärts geschleppt. Er sah nach unten. Dort lag der breite Fluss, den er vor einigen Wochen überquert hatte. Launisch schlängelte er sich durch die Ebene. Manchmal von Ost nach West, manchmal von Nord nach Süd. Amaruq verstand nun, warum er versehentlich zweimal hinübergegangen war
.
Er stieg weiter hinauf, bis er auf halber Höhe war, und begann, um den Berg herumzugehen. Der Pfad wurde immer steiniger. Es war nun noch mühsamer, den Schlitten zu ziehen. Mehrmals stand er kurz davor, aufzugeben, doch er wusste, dass er nur vom Gipfel aus die richtige Orientierung finden würde.
Erschöpft erreichte er eine Mulde und beschloss, dort sein Lager aufzuschlagen. Er brachte Nujuaqtutuq ins Zelt, nahm den Speer und ging los, um die Berghänge zu erkunden, in denen die Ziegen hausten. Nach etwa einem Kilometer stellte er sich auf einen Felsen. In der Ferne entdeckte er zwei Männchen und vier Weibchen. Sie gingen am Rand der zerklüfteten Felswände. Wenn sie ausrutschten, würden sie fünfhundert Meter in die Tiefe stürzen, aber das schien sie nicht zu beunruhigen. Gelassen sprangen sie von Fels zu Fels, ohne je zu zögern.
Amaruq beobachtete sie lange und bemerkte, dass sie auf ein kleines Tal hoch oben im Berg zuhielten. Er machte kehrt und rannte zwischen den Felsen hindurch, um sie abzufangen. Als er nahe genug war, schlich er gegen die Windrichtung zu einer Erhebung in der Mitte des Tals. Dort versteckte er sich und wartete auf die Ziegen. Fast zwei Stunden dauerte es, bis sie kamen, es dämmerte schon. Der größere Bock führte die anderen Ziegen an eine Stelle, von wo aus man gut flüchten konnte. Die Weibchen legten sich hin, um zu schlafen. Die Männchen blieben noch lange wachsam stehen.
Amaruq lugte vorsichtig hinter dem Felsen hervor. Geduldig wartete er, bis auch die beiden Männchen sich hingelegt hatten. Inzwischen war es vollständig dunkel. Amaruq würde ausharren, bis der Mond aufging, damit er etwas sehen konnte. Obwohl er fror, döste er ein wenig. Wenn die Sonne untergegangen war, fiel die Temperatur rasch ab. Gegen elf Uhr trat der abnehmende Mond an den Himmel. Er spendete genügend Licht. Amaruq hob den Blick und prägte sich mit Hilfe der Felsen ein, wo genau die Ziegen lagen.
Er verließ sein Versteck und kroch auf allen vieren. Mehrmals legte er sich minutenlang in den Schnee, um die Ziegen nicht aufzuschrecken. Bis auf fünfzig Meter kam er unbemerkt an sie heran. Um
sicher treffen zu können, musste er sich bis auf dreißig Meter nähern. Es schien unmöglich. Ein Weibchen hatte sich bereits erhoben und schnupperte nervös im Wind. Amaruq blieb reglos liegen und hielt den Atem an. Die Ziege tat ein paar Schritte und schnüffelte. Nach einigen Minuten beruhigte sie sich und legte sich wieder hin.
Eine Stunde brauchte Amaruq, um bis auf zwanzig Meter heranzukommen. Seine Hände waren vor Kälte taub. Er konnte kaum den Speer halten. Er kroch noch ein kleines Stück weiter, schätzte ein, wo die Ziegen lagen, und stand langsam auf. Nichts, nur die weiße Schneedecke. Er überprüfte seine Orientierungspunkte: links der Gipfel, in der Mitte die Felsen, rechts die Steilwände. Die Ziegen mussten dort liegen, aber da war nur Schnee. Plötzlich hörte er Steine kullern. Er drehte sich um. Die Ziegen sprangen behände die steile Wand hinauf und waren bereits zweihundert Meter entfernt. Wann genau waren sie aufgestanden und losgerannt?
Frustriert trat er den Rückweg an. Er brauchte fast vier Stunden, bis er wieder am Zelt war. Es dämmerte bereits. Entkräftet legte er sich hin und schlief ein.
Wir schliefen eng umschlungen. Ich wachte zuerst auf. Betrachtete ihre Nacktheit und streichelte ihren Rücken. Ich untersuchte ihre glatte Haut, als könnte ich dort das auratische Alphabet finden, einen Hinweis auf den Grund für ihr Verschwinden. Stattdessen las ich von ihrer Haut nur die große Liebe ab, die ich für sie empfand. Und gleichzeitig den unermesslichen Schmerz, den ihre Promiskuität, ihre Heimlichkeiten und Geheimnisse in mir hervorriefen. Meine Mutter hatte immer gesagt: »Jeder hat ein Recht auf seine Geheimnisse.« Mag sein, aber wer unter diesen Geheimnissen leidet, hat auch ein Recht zu wissen. Es ist schrecklich, wenn der Mensch, den man liebt, undurchsichtig ist. Wenn er undurchdringliche Stellen hat, die unsere Gewissheit untergraben und uns am Ende zugrunde richten. Ich war längst zugrunde gerichtet.
Chelo wachte lächelnd auf und streichelte mein Gesicht. »Du bist ein hübscher Kerl«, sagte sie. Der Satz tat mir weh. Dieselben Worte
hatte auch Zurita benutzt, um Carlos zu beschreiben. Sie reckte sich und fragte, wie viel Uhr es sei. »Viertel nach acht.« »Um zehn habe ich Anatomie und Physiologie, ich muss mich beeilen.«
Nackt stand sie auf. Sie zog sich die Schuhe an, um sich nicht an den Füßen zu schneiden, und sprang über die eingestürzten Wände. Colmillo begann zu knurren. Chelo lächelte, als könnte der Wolf ihre Miene lesen. Eng an der Wand entlang schlich sie in die Küche. »Möchtest du Spiegelei?«, fragte sie. »Ja«, rief ich. In unserer Beziehung stellte sich allmählich die Nähe des Alltags wieder ein.
Ich zog mir ebenfalls die Schuhe an und setzte mich an die Küchentheke. Chelo kam mit dem Spiegelei dazu. Mitten in dieser Verwüstung saßen wir nackt da und tunkten unsere Tortilla in das Eigelb, wie die Überlebenden eines Tsunami, die alle ihre Habseligkeiten verloren hatten.
Ohne zu duschen, zog sie sich an. »Ich möchte den ganzen Tag nach dir riechen«, sagte sie, küsste mich auf den Mund und wollte los. Ich bat sie, nicht zu gehen. »Ich komme heute Abend wieder«, versprach sie. Ich glaubte ihr nicht, und als sie aufgebrochen war, erfasste mich eine große Unruhe.
Nackt setzte ich mich Colmillo gegenüber. Wie von Avilés empfohlen, begann ich zu jaulen und zu bellen. Colmillo neigte den Kopf, als versuchte er zu begreifen, was ich da tat. Ich ließ mich nicht entmutigen. Fuhr fort mit meinen Stimmübungen, bis Colmillo den Kopf hob und trotz des Maulkorbs zu heulen begann. Inbrünstig heulten wir dieses ungleiche Duett.
Ich verstummte, und auch er verstummte. Schweigend saßen wir da. Anfangs ließen wir einander nicht aus den Augen. Danach lösten wir den Blick und gingen jeder seiner Beschäftigung nach. Colmillo kratzte sich am Nacken, und ich putzte den Saustall.
Stundenlang sammelte ich Exkremente auf, schrubbte vollgepinkelte Wände, fegte Glasscherben weg, rückte Möbel an ihren Platz zurück, scheuerte den schmutzigen Teppich und schien trotzdem nicht voranzukommen. Es klingelte. Ich band mir ein Handtuch um die Hüfte und machte auf. Es war Avilés. »Kommst du aus der
Dusche?«, fragte er. »Nein, ich schrubbe gerade«, erwiderte ich. »Wen denn?«, fragte er und lachte über seinen eigenen Witz. »Wir gehen essen«, sagte er dann. Es scherte ihn wenig, dass ich halbnackt war. »Jetzt?« »Ja, klar, es ist Essenszeit. Zieh dir was an.«
An einem Stand auf dem Fischmarkt La Viga aßen wir Meeresfrüchte. Avilés bestellte für zwei: Kammmuscheln, Austerncocktail, gegrillten Oktopus, marinierten Fisch. Seit Monaten hatte ich nicht mehr so gut gegessen. Avilés rügte mich, weil ich die Avocado nicht in Streifen schnitt, sondern sie über dem Tintenfisch ausdrückte. »Wenn Essen gut schmecken soll, muss es auch gut aussehen.« Natürlich hörte ich nicht auf ihn. So durcheinander, wie ich wegen Chelos Rückkehr war, ging es mir am Arsch vorbei, ob die Avocado gut aussah.
»Was ist los mit dir?«, fragte Avilés. Ich sah ihm in die Augen. Warum zum Teufel interessierte sich dieser Typ so sehr für mein Leben? Warum lud er mich zum Mittagessen ein, zum Abendessen, kaufte mir Scones? Was wollte er? Ich fragte es ihn direkt. Avilés überlegte. »Ich arbeite mit sechs Tigern. Fünf kamen in Gefangenschaft zur Welt. Der sechste wurde in Indien gefangen, als Welpe, nachdem man seine Mutter erlegt hatte. Als wir ihn kauften, war er ein kratzbürstiges Biest, das jeden angriff, der ihm zu nahekam. Ich beschloss, ihm einfach nur Aufmerksamkeit zu schenken und ihn zu füttern. Mehr nicht. Ich wollte ihn weder bändigen noch zähmen. Wir bauten eine Beziehung zueinander auf. Er eine Waise, ich eine Waise. Heute würde dieser Tiger, der Tito heißt, für mich töten. Wenn einer der anderen Tiger mich angriffe, würde er mich verteidigen. Wir sind beide Mitglieder der Gemeinschaft der Waisenkinder. Ich bin hier, weil auch du eine Waise bist wie ich, und Waisen sollten sich umeinander kümmern. Aber wenn es dich stört, komme ich nicht mehr her.«
Seine Antwort erschütterte mich. Die Idee einer »Gemeinschaft der Waisenkinder« öffnete mir die Augen für mich selbst, darauf, wie verletzlich man war, wenn man keine Eltern mehr hatte und, wie in meinem Fall, auch keine Geschwister oder Großeltern. Er hatte recht,
wir mussten uns umeinander kümmern. »Nein, es stört mich nicht, dass Sie herkommen. Ich hatte es nur nicht verstanden«, sagte ich. »Und, hast du es jetzt verstanden?« Ich nickte, und wir aßen weiter.
Auf der Rückfahrt legte Avilés eine Kassette mit Cardencheliedern ein. »Das ist die Musik, die bei uns in Mexiko dem Blues am nächsten kommt«, erklärte er. »Diese Lieder singen die Baumwollpflücker auf den Feldern von Laguna, in Coahuila. Sie singen es im Chor, bei jeder neuen Furche stimmt ein neuer Sänger ein.«
Der Cardenche war rau, melancholisch, ein tiefes Klagen. »Als Kind hat mich mein Vater immer mitgenommen, um ihnen zuzuhören. Die Sänger waren meistens alte Männer mit schwieligen Händen und sonnengegerbten Gesichtern. Ich habe immer eine Kassette mit Cardenche dabei, um mich an meinen Vater zu erinnern.«
Ich fragte ihn, wie seine Eltern gestorben waren. »Meine Mutter hatte beim Abendessen einen Schlaganfall. Sie ist noch am Tisch gestorben. Mein Vater hat sich ein Jahr später das Leben genommen, aber darüber will ich lieber nicht sprechen.«
Wir kamen an und gingen rein, um nach Colmillo zu sehen. »Er ist dehydriert«, sagte Avilés. »Seine Nase ist ganz trocken. Hast du ihm nichts zu trinken gegeben?« Nein, hatte ich nicht. Ich war wegen Chelos Rückkehr so durch den Wind gewesen, dass ich sowohl Colmillo als auch King und die Wellensittiche vergessen hatte. Ich füllte einen Napf mit Wasser und stellte ihn Colmillo hin, der sofort durch seinen Maulkorb hindurch zu trinken begann.
»Ich schau mal nach meinem Hund«, sagte ich zu Avilés. King war über zwanzig Stunden in Carlos’ Zimmer eingesperrt gewesen. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, sprang er mich sehnsüchtig an. In seiner Verzweiflung hatte er mit den Pfoten die Tür zerkratzt. Auch hatte er diesmal seine Notdurft nicht im Bad verrichtet, sondern auf dem Bett. Ich packte ihn am Hals und schleifte ihn dorthin. »Nein, hier wird nicht hingekackt. Hier nicht.« Er riss sich los und verkroch sich unter einem Stuhl. Er hatte jetzt nicht nur mit der Panik vor dem Wolf da unten zu kämpfen, sondern auch mit dem Gefühl, dass ihn das einzige Herrchen, das ihm noch geblieben war, im Stich ließ
.
Ich fühlte mich schuldig und rief ihn zu mir. Scheu kam er auf mich zu, und als ich mich hinkniete, um ihn zu streicheln, begann er, mir übers Gesicht zu lecken und Freudentänze aufzuführen. Ich rief Avilés nach oben. Ich erzählte ihm von Kings Angst vor dem Wolf und fragte, was ich tun sollte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Mein Job ist es, wilde Tiere zu bändigen, nicht, aus feigen Tieren Helden zu machen.« Er bückte sich zu King hinunter. Auch ihm leckte King übers ganze Gesicht. Avilés spielte mit ihm, und als King genügend Vertrauen gefasst hatte, hob er ihn hoch über seinen Kopf und trug ihn die Treppe hinunter.
King wollte sich ihm entwinden, doch Avilés packte noch fester zu. Unten hielt Avilés ihn direkt vor den Wolf, damit sie einander in die Augen sahen. King begann zu zittern. Avilés setzte ihn ab, und King rannte sofort wieder rauf in Carlos’ Zimmer.
Avilés grinste. »Mir scheint, bei deinem Hund ist Hopfen und Malz verloren«, sagte er. Dann deutete er auf Colmillo. »Versuch, ihm den Maulkorb abzunehmen«, sagte er. »Wenn er dich angreift, ziehst du ihn wieder an und wartest, bis er halbtot ist vor Hunger. Irgendwann wird er so geschwächt sein, dass er sich dir unterwirft.«