Mütter
Die Frau kommt. Hält an. Dreht um. Geht weg. Sie wirkt nervös. Sie weiß nicht, dass ich sie vom Dach aus beobachte. Wieder dreht sie um und kommt näher. Vor der Haustür bleibt sie stehen. Klingelt. Blickt nach links und rechts. Es dauert, bis jemand öffnet. Seit Carlos gestorben ist, dauert bei uns alles länger. Als hätte der Tod die innere Uhr aller Familienmitglieder um siebzehn Sekunden zurückgestellt. Auch meine Uhr geht nach. Es dauert, bis ich Fragen beantworte, aufwache, esse, trinke, pinkle, denke. Siebzehn Sekunden aus dem Takt der restlichen Welt.
Die Frau ist angespannt. Sie hat mir das Leben gerettet. Hat schnell reagiert und mich ins Krankenhaus gefahren. Wäre sie nicht gewesen, wäre ich dort unten auf dem Gehweg verblutet. Sie sieht mich nicht. Würde sie den Kopf heben, dann würde sie entdecken, dass ich sie beobachte. Meine Mutter öffnet. Sie sehen einander an. Im Blick meiner Mutter ahnt man die siebzehn Sekunden Verzögerung. Die Frau fragt meine Mutter, ob sie reden können. Meine Mutter überlegt siebzehn Sekunden lang und nickt. Sie stehen da und sagen nichts. Die Frau hat meine Mutter um ein Gespräch gebeten, und jetzt schweigen sie. Auf ihre Art haben beide ihr Kind verloren. Die Mutter des Mörders besucht die Mutter des Ermordeten. Sie verstehen einander. Sie wissen, was es heißt, ein Kind im Leib zu tragen. Sie, die Leben geschenkt und Leben gehegt haben, sehen einander an. Das Zellophan des Todes hüllt sie ein. Eine durchsichtige, aber undurchdringliche Barriere. Die Frau nimmt all ihren Mut zusammen und sagt: »Es tut mir so leid.« Obwohl sie fast flüstert, kann ich es hören. Meine Mutter blickt die Mutter des Mörders ihres Sohnes
an und weiß nicht, was sie sagen soll. »Wir haben beide ein Kind verloren«, sagt die Mutter des Mörders, »denn für mich ist meiner auch gestorben.« Meine Mutter sieht sie an, man merkt ihr an, dass sie nicht damit gerechnet hat. Sie schluckt. Ballt die Fäuste, um nicht zu weinen. Die Frau fährt fort: »Ich kann mir nicht verzeihen, was mein Sohn Ihrem Sohn angetan hat. Innerlich sterbe auch ich.« Meine Mutter kann nicht sprechen. Seit einiger Zeit schon haben sich die Wörter verheddert. Verklumpt. Ich stehe auf dem Dach und beobachte sie. Schließlich bringt meine Mutter doch noch einige Worte hervor. Sie sind voller Schmerz, voller Traurigkeit: »Warum hat er das getan?«, fragt sie, als wüsste die Mutter des Mörders den Grund, und trotzdem erhält sie eine Antwort: »Er hat es getan, weil er ein gotteskranker Mensch ist.« Was sie da sagt, wühlt mich auf. Sie hat es auf den Punkt gebracht. Ihr Sohn ist ein gotteskranker Mensch.
Die Frau weiß, dass ihr Sohn tut, was er tut, weil er sie hasst. Sie weiß, dass in dem Augenblick, als sie am Strand von Acapulco gevögelt hat, der Keim für diesen Hass gelegt war. Der Bankert, das uneheliche Kind einer labilen, promiskuitiven Frau, das einsame Kind, in die Obhut genommen von einem fanatischen Großvater, der seine Tochter verdammt. Gotteskrank. Meine Mutter sieht die Frau an, geht wortlos auf sie zu und nimmt sie in den Arm. Meine Mutter weint. Ihr Rücken hebt und senkt sich. Auch die Frau weint. Sie umarmen einander fester. Ich bin der einzige Zeuge ihrer Solidarität. Welche von beiden hat den größeren Schmerz zu tragen? Für die Mutter des Mörders muss der Schmerz so unerträglich geworden sein, dass sie den Mut gefunden hat, der Mutter des Mannes, den ihr Sohn ermordet hat, unter die Augen zu treten. Sie ist nicht gekommen, um ihn zu rechtfertigen, um in seinem Namen um Verzeihung zu bitten. Sie ist gekommen, um ihren Schmerz zu teilen, um die Mutter zu umarmen, der ihr Sohn den Sohn genommen hat. Sie wischen sich ihre Tränen ab. Die Frau weicht einen Schritt zurück und verabschiedet sich. Sie berühren sich nicht noch einmal. Was sie sich zu sagen hatten, haben sie durch diese lange Umarmung gesagt. Meine Mutter blickt ihr nach
.
Drei Jahre später würde meine Mutter bei einem Autounfall sterben. Einige Monate danach würde die Mutter des Mörders bei sich zu Hause ein Seil über einen Deckenbalken ziehen. Es mit einem Knoten befestigen. Auf einen Stuhl steigen und sich die Schlinge um den Hals legen. Tief ein- und ausatmen, den Stuhl wegtreten und sich erhängen. Mein Feind würde ins Viertel zurückkehren, um bei ihr die Totenwache zu halten. Der Gotteskranke. Mein Feind. In Reichweite meiner Rache.
Um sechs Uhr morgens klingelte es. Ich hielt noch immer King in den Armen, der fürchterlich schnarchte. Der Uhrzeit nach konnte es eigentlich nur Avilés sein. Und so war es auch. Als ich öffnete, grinste er mir entgegen. »Hast du schon gefrühstückt?« Hatte ich natürlich nicht. Nur ein Verrückter wie er konnte annehmen, dass man an einem Samstagmorgen um sechs schon gefrühstückt haben könnte. »Nein«, antwortete ich. »Gehst du gern angeln?« Ich nickte, ohne zu wissen, worauf er hinauswollte. »Dann angeln wir uns jetzt unser Frühstück«, sagte er. Ich hatte keine Lust auf Fisch zum Frühstück, aber er war so Feuer und Flamme, dass ich einwilligte.
Wir stiegen in den Maverick und nahmen die Landstraße nach Toluca. Unser Ziel war La Marquesa, ein Erholungspark mit Pinienwäldern und Bächen in der Nähe von Mexiko-Stadt. Mein Vater war früher mit uns hingefahren, wenn es geschneit hatte, damit wir im Schnee spielen konnten. Einmal trafen wir dort auf Sportangler – ursprünglich aus einem französischen Dorf namens Barcelonnette –, die in den Bächen Regenbogenforellen »aussetzten«, um sie sonntags angeln zu können.
Unter Anleitung eines gewissen Donneaud hatten sie Tausende Fischlein in riesigen Plastiktüten angeschleppt. Mit Sauerstoff versorgt worden waren sie über Aquariumspumpen, die man an Zigarettenanzünder anschließen konnte. Wir gingen zu ihnen und sahen zu, wie sie die Fischlein ins Wasser ließen. Kaum waren die kleinen Forellchen aus der Tüte, schwammen sie zu den dunkleren Stellen am Ufer und kämpften gegen die Strömung an. Im Schatten lauerten
überall Raubfische darauf, dass sie flussabwärts getrieben wurden. In nicht einmal zehn Sekunden hatte sich bei den winzigen, aus einer Zuchtfarm stammenden Fischen der Instinkt aktiviert, der ihnen das Überleben sicherte.
Ich dachte, Avilés würde in der Nähe eines Flüsschens parken und Angeln und Köder herausholen. Stattdessen hielt er vor einer Holzhütte am Straßenrand, vor der ein Schild stand: »Angeln Sie Ihre eigene Forelle, wir braten sie für Sie.« Wir stiegen aus, und zwei Frauen eilten herbei, um uns zu begrüßen. Avilés kam offenbar öfters her, denn er wurde herzlich begrüßt.
Ich nahm an, dass wir zu einem Bach geführt würden, aber die Frauen brachten sie uns zu einem kleinen trüben Teich. Fünf Bambusangeln mit Köder und Blei lehnten an einem Holzzaun. »Such dir eine aus«, sagte Avilés. Wir nahmen uns beide eine Angel. Er streckte die Arme und atmete tief durch. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich den Kontakt zur Natur genieße«, sagte er. Kontakt zur Natur? Die Autobahn, auf der Sattelschlepper, Lastwagen, Autos mit neunzig Sachen vorbeidonnerten, war nicht einmal fünfzig Meter entfernt. Für meinen Vater hatte Kontakt zur Natur bedeutet, dass wir so weit in den Wald hineinfuhren, bis es mit dem Auto nicht mehr weiterging, und dann noch kilometerweit die Berge hinaufwanderten. Avilés war bereits zufrieden, wenn er fünfzehn Minuten aus der Stadt raus war.
Eine der Frauen brachte uns Brotkrumen. Wir befeuchteten sie, klebten sie um die Köder und warfen die Angelschnur aus in den Teich, in dem sich dicke, mit Hühnerfutter gemästete Forellen tummelten. Nach zwei Versuchen zog ich ein anderthalb Kilo schweres Exemplar aus dem Wasser. Avilés begnügte sich mit einem kleineren Fisch. »Pfannentauglich«, wie er das nannte, denn sein Exemplar passte perfekt in eine Pfanne. Die beiden Frauen wogen die Fische und fragten, ob wir sie in Alufolie, frittiert, paniert oder gegrillt haben wollten. Avilés entschied sich für Alufolie, ich für gegrillt.
Wir setzten uns draußen an einen Tisch, mit Blick auf den Teich und die Bergwälder von Salazar. Avilés fragte mich nach Colmillo.
Ich erzählte, dass ich ihm den Maulkorb abgenommen und ihn von der Kette genommen hatte. »Er hat dich nicht angegriffen?«, fragte er ungläubig. »Nein«, erwiderte ich. »Glückwunsch, ich hätte nicht gedacht, dass du ihn in den Griff kriegen würdest. Du hast dich als der Stärkere erwiesen.«
Die Forellen wurden serviert. Meine war über Holzkohle gegrillt, zartrosa Fleisch, das den Duft der Pinien angenommen hatte. Die von Avilés war mit Karotten, Zwiebeln und Chili gedämpft worden. Meine schmeckte mir besser, und entgegen meiner Erwartung war es tatsächlich ein köstliches Frühstück.
Ein junges Mädchen kam zu uns an den Tisch und bot uns Zwergflusskrebse an, von denen es in dieser Gegend nur so wimmelte. Als wir klein waren, hatten Carlos und ich mal welche gefangen und in eine Schale getan, die wir mit dem Flusswasser füllten, weil das chlorierte Leitungswasser sie tötete. Zu Hause nahmen wir Regenwasser. Wenn die Krebse sich erschreckten, stoben sie rückwärts davon. Sie vermehrten sich schnell, und bald besaßen wir rund zweihundert Stück. Als wir wieder einmal einen Ausflug aufs Land machten, setzen wir sie wieder in dem Bach aus, aus dem wir die ersten Exemplare gefangen hatten.
Avilés kaufte dem Mädchen zwei Plastikbecher ab und gab mir einen davon. »Und wie geht’s dir so?«, fragte er.
»Es geht«, antwortete ich.
»Aufwärts oder abwärts?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Weiter abwärts konnte es nicht gehen, aber ob es schon wieder aufwärtsging, konnte ich nicht sagen. Mein Leben war zu verworren, um etwas klar zu erkennen.
Die Flusskrebse hatten zu viel Zitronensaft abbekommen, was Avilés jedoch nicht zu stören schien. Er stopfte einen nach dem anderen in sich hinein.
»Und wie läuft’s mit deiner Freundin?«, fragte er.
Ich hätte Chelo nie als »meine Freundin« bezeichnet. In den Siebzigern war eine »Freundin« ein Mädchen, das man gefragt hatte: »
Willst du meine Freundin sein?« Solange man nicht fragte, war es auch nicht richtig offiziell. Vielleicht war es genau das, was ich bei Chelo versäumt hatte.
»Schlecht«, sagte ich.
»Warum?«
Sollte ich ihm erzählen, wie promiskuitiv meine »Freundin« war? Von all den Typen, mit denen sie es trieb? Von ihren Depressionen? Ja, vielleicht sollte ich das wirklich. Es war meine Chance, das Gift loszuwerden, das in meinen Adern floss.
»Weil sie was mit anderen Kerlen hatte«, erwiderte ich.
Avilés sah mich verdutzt an. »Was soll das heißen? Dass sie mit ihnen ausgegangen ist? Dass sie sich geküsst haben?«
Ich antwortete ihm nicht sofort. Wenn ich aussprach, dass sie »mit anderen gevögelt« hatte, würde ich kotzen müssen. Die schwarze Kotze stieg mir bereits die Kehle herauf.
»Sie hat mit ihnen geschlafen«, sagte ich schließlich.
Avilés bemerkte offenbar, wie weh es mir tat, denn er drückte meinen Unterarm. »Ach, Junge«, sagte er.
Wir schwiegen eine Weile.
»Hat sie es dir gebeichtet, oder hast du es zufällig mitgekriegt?«, fragte er dann.
»Sie hat es mir gebeichtet.«
»Zumindest hatte sie den Mut, es dir zu sagen. Und hat sie dich um Verzeihung gebeten?«
Ich nickte.
»Glaubst du, sie meint es ehrlich?«
Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte.
»Hör zu, wichtig ist nicht, ob sie dir die Wahrheit sagt, sondern ob du ihr glauben willst.«
Wir fuhren zurück in die Stadt. Unterwegs hielt Avilés an, um eines dieser gegerbten Schafsfelle zu kaufen, die man sich vors Bett oder aufs Sofa legt. Als er wieder einstieg, warf er es mir auf den Schoß. »Hier, schenke ich dir, damit dein Wolf einen Schafspelz hat«, sagte er und lachte schallend über seinen Scherz. Anschließend öffnete er das
Handschuhfach und holte eine Kassette heraus. »Und hier ist noch ein Geschenk«, sagte er. Er steckte das Band in den Kassettenspieler. Es waren Aufnahmen von Grauwölfen. Jaulen, Bellen, Knurren. Er hatte sie einem Clown aus dem Zirkus abgekauft, der Naturlaute sammelte. Avilés riet mir, sie Colmillo vorzuspielen, um zu sehen, wie er reagierte.
Wir kamen bei mir an. Ich bedankte mich für das Frühstück und die Geschenke. Als ich aussteigen wollte, hielt Avilés mich zurück. »Du hast mehr Mumm, als du denkst«, sagte er und lächelte. »Ich komme übermorgen wieder.«
Er fuhr los. Ich holte den Kassettenspieler runter, stellte ihn auf den Küchentresen und öffnete das Fenster zum Hof. Colmillo hatte sich unter die Spüle gelegt. Als das Heulen eines einsamen Wolfs ertönte, richtete er sich auf. Es war das erste Mal, dass er einen Artgenossen hörte. Neugierig hielt er den Kopf schief und knurrte verwirrt.
Ich hielt die Aufnahme an, und Colmillo stand da und starrte erwartungsvoll zum Fenster. Ich spulte vor. Jetzt ertönte ein kollektives Heulen. Colmillo stimmte mit ein. Endlich ein Rudel, das ihm antwortete.
Ich ließ die Wolfslaute eine halbe Stunde lang laufen. Colmillo reagierte jedes Mal anders. Überrascht stellte ich fest, wie viele Ausdrucksmöglichkeiten sein Gesicht hatte. Avilés hatte von »meinem Wolf« gesprochen. So hatte ich Colmillo noch nie betrachtet, sondern immer nur als vorübergehenden Gast, der mein Haus verwüstet hatte, aber irgendwann auch wieder gehen würde. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass er mein Wolf war, so wie King mein Hund war. Colmillo brauchte mich, um zu überleben. Er würde mir nicht treu ergeben sein und mir seine bedingungslose Zuneigung schenken. Vielmehr war er die leibhaftig gewordene Erinnerung an die Natur, die sich nie ganz zähmen ließ. Wenn King dazu da war, mich zu trösten, war Colmillo dazu da, mich aus der Reserve zu locken. Wenn jemand mich aus meinem Sumpf ziehen konnte, dann dieser verrückt gewordene Wolf.
Ich schaltete den Kassettenspieler aus. Dann ging ich rauf ins
Schlafzimmer meiner Eltern, nahm das Telefon und wählte Chelos Nummer.
Mackenzie war sich sicher, dass Amaruq zu seiner Familie gehörte. Über Funk bat er die Sekretärin im Büro von Whitehorse, sie solle seine Cousins, Tanten und Onkel kontaktieren und fragen, ob sie schon mal von Amaruq gehört hätten. »Wenn keiner ihn kennt«, fügte er hinzu, »rufen Sie jeden Mackenzie an, der im Telefonbuch steht.«
Die Ärzte drängten auf eine Entscheidung, was mit den sterblichen Überresten Amaruqs geschehen sollte. Man könne die Leiche nicht mehr viel länger im Werkzeuglager aufbewahren, lediglich in Decken gehüllt, weil keine Leichensäcke zur Verfügung stünden. Noch verhinderten die niedrigen Temperaturen, dass sich die Leiche zersetze, doch das Wetter werde bald besser, und dann werde ein einziger warmer Vormittag genügen, um eine schnelle Verwesung herbeizuführen. Sollte sich kein Angehöriger ermitteln lassen, der sich der Leiche annehme, sei es am besten, sie in ein Massengrab zu überführen.
Mackenzie bat um etwas mehr Zeit. Er wollte Amaruq nicht beisetzen lassen, ohne dass seine Liebsten sich von ihm verabschiedet hatten. Die Ärzte gewährten ihm eine Frist von achtundvierzig Stunden. Sollte niemand Anspruch auf die Leiche erheben, würden sie sie nach Cooper schicken, damit sie dort begraben wurde.
Mackenzie gab Anweisung, dass der Tierarzt auf ihn warten solle, egal, wie spät er zurückkomme. Der Arzt besuchte das Camp alle zwei Wochen, und er sollte sich den ausgemergelten Wolf, der nach wie vor nicht aufstehen konnte, unbedingt ansehen, bevor er wieder aufbrach.
Mackenzie überflog erneut das Gebirge. Mit jedem Flug festigte sich seine Überzeugung, dass die Pipeline am Fuß der Berge verlaufen musste. Gegner dieser Trassenführung verwiesen auf die Gefahr von Lawinen oder Erdrutschen, die die Leitung zerstören und zu Lecks oder Ölbränden führen könnten. Die Verluste wären astronomisch.
Mackenzie schlug vor, Schutzmauern zu errichten, und entwarf ein System von automatisch schließenden Türen. Die Gegner führten höhere Kosten an. Mackenzie wies darauf hin, dass die ursprüngliche Trasse sechzig Kilometer länger sei und daher teurer. Die Mitglieder des Verwaltungsrats mussten das Für und Wider abwägen. Die Entscheidung rückte näher, und Mackenzie musste sich beeilen, um seinen Vorschlag zu präsentieren.
Er mochte seinen Job. In zwei Jahren würde die Pipeline Vancouver erreichen und die Energieversorgung Südkanadas sichern. Er war bereits an mehreren Pipelinebauten beteiligt gewesen und hatte gesehen, wie sehr sich das Leben der Menschen in den Dörfern und Städten verbessert hatte. Jeder, der eine Heizung, eine Küche oder ein Auto besaß, hatte es der Anstrengung Hunderter Arbeiter und Ingenieure zu verdanken. Es bedeutete für alle eine tiefe Befriedigung. Doch Mackenzie zahlte einen hohen Preis. Er sah seine Familie selten. Hatte die ersten Worte seiner Kinder verpasst, ihre ersten Gehversuche, die schulischen Erfolge. Seine Frau war es leid, sich allein um die Kinder kümmern zu müssen, sie zum Arzt zu fahren, sie morgens zu wecken und ihnen Frühstück zu machen, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen, sie zurechtzuweisen, wenn sie untereinander stritten, sie ins Bett zu bringen und am Ende des Tages erschöpft den restlichen Haushalt zu erledigen: waschen, kochen, bügeln. Sie und ihre Freundinnen nannten sich selbst »die Pipelinewitwen«.
Auch Mackenzie hatte es satt. Sein Job bedeutete rastloses Schaffen unter härtesten Bedingungen: Schnee, Kälte, Lungenentzündungen, Hitze, Feuchtigkeit, Moskitos, Durchfälle, Regen, Ruhr, Fieber, Parasiten. Oft kam er erst bei Einbruch der Nacht von den Expeditionen zurück, durchnässt, frierend, zu spät, um sich wenigstens mit einem Tuch und warmem Wasser abzureiben. Dann kleidete er sich aus und legte sich bibbernd ins Bett, weil sein Arbeitstag am folgenden Morgen bereits um fünf Uhr begann.
Kaum war Mackenzie aus den Bergen zurück, suchte er den Tierarzt auf. Er erzählte ihm von dem Wolf und von den Umständen, unter denen sie ihn entdeckt hatten. Der Arzt zeigte sich überrascht.
Er hatte viele Jahre in Gemeinden der nordkanadischen Ureinwohner gelebt und noch nie gehört, dass jemand einen lebenden Wolf gefangen und gefesselt auf einen Berggipfel geschleppt hatte.
Der Tierarzt untersuchte Nujuaqtutuq. Weil der Wolf stark unterernährt war, litt er an einer schweren Anämie. Sein motorisches System war durch den Bewegungsmangel verkümmert. Seine rechte Pfote war gebrochen und nicht gerichtet, Sehnen waren zerschnitten, und er wies erste Anzeichen von Wundbrand auf.
Mackenzie fragte, was zu tun sei.
Der Tierarzt sah zu dem leblos am Boden liegenden Wolf mit seinem struppigen Schwanz und den hervortretenden Rippen.
»Am besten, man schläfert ihn ein«, antwortete er. »Ich sehe keine Überlebenschance.«
Mackenzie schüttelte den Kopf. »Das ist keine Option«, sagte er. »Was können wir sonst tun?«
Der Arzt schlug vor, ihn intravenös mit Nahrung und Flüssigkeit zu versorgen. Ihn anschließend mit einem Brei aus Hackfleisch, Milch und Eiern zu füttern. Das nekrotisierte Gewebe zu entfernen und die Pfote zu schienen, in der Hoffnung, dass der Bruch noch heile. Wichtig sei auch, ihn von den Hunden fernzuhalten. Das Tier sei so geschwächt, dass jede ansteckende Krankheit ihn töten könnte. Er sei allerdings überzeugt, stellte der Arzt klar, dass der Wolf trotz aller Maßnahmen bald sterben werde. Mackenzie hingegen wusste, dass er überleben würde. Er hatte daran nicht den geringsten Zweifel.