Strick
»Das ist Goyo Cárdenas«, sagte Diego alias Castor Furioso und deutete auf einen Mann, der im Speisesaal des Gefängnisses hin und her ging. Cárdenas hatte vier Frauen mit dem Strick erwürgt und sie im Garten seines Hauses vergraben. Die Presse nannte ihn den »Würger von Tacubaya«. Er war so berühmt, dass Reproduktionen des Stricks, mit dem er seine Morde begangen hatte, auf der Straße verkauft wurden. Im Lecumberri-Gefängnis war er ein Star, dabei war es schwer zu glauben, dass ein mickriger Typ, der aussah wie ein kleiner Büroangestellter, ein so brutaler Mörder war.
»Diesen Irren sollten sie erschießen«, sagte Diego und sah verächtlich in dessen Richtung. Cárdenas spazierte gemächlich im Gemeinschaftsbereich umher. Die Wärter grüßten ihn und scherzten mit ihm. Cárdenas lächelte selten. Er war ernst, zurückhaltend, redete stets wie gedruckt. Man hatte tatsächlich Lust, ihm eine zu verpassen und die runde Brille bis zur Schädelbasis reinzudrücken.
Ich war an diesem Sonntag früh aufgestanden. Es war offizieller Besuchstag. Bereits um sechs bildete sich vor dem Gebäude eine Schlange, die um acht einmal um den Block reichte. Ältere Frauen mit Essenskörben, Jugendliche, die ihre Eltern sehen wollten, Ehefrauen, Geschwister, Eltern, Freunde und natürlich auch Komplizen, Spitzel und die unvermeidlichen Zigaretten-, Marihuana- und Alkoholschmuggler. Über vierhundert Leute warteten darauf, eingelassen zu werden.
Es gab noch eine andere Schlange nur für Frauen, für eheliche Besuche. Wieso sie so genannt wurde, war mir schleierhaft, denn ehelich war sie ganz und gar nicht. Abgesehen von zwei oder drei
Frauen, die tatsächlich die Gattin eines Häftlings sein konnten, war den anderen ihr Gewerbe sofort anzusehen. An der Art, wie sie Kaugummi kauten, an der ordinären Wortwahl, an den kurzen Röcken, den blondierten Haaren, dem übertriebenen Make-up, mit dem sie Falten und Pockennarben überschminkt hatten. Laut Gefängnisvorschrift war das Geschäft mit der fleischlichen Liebe verboten, weniger moralischer Bedenken wegen, als vielmehr aus Gründen der Hygiene. Ein Häftling mit Tripper oder Syphilis konnte unter den Insassen eine Epidemie auslösen. Prostituierten war zwar der Zugang also verwehrt, doch konnte man mit ein paar Scheinchen in die richtigen Hände auch einen Elefanten nach drinnen schaffen, wenn das die sexuelle Vorliebe des Auftraggebers war.
Diego hatte mir erzählt, dass nur wenige es sich leisten konnten, für Sex zu bezahlen, und dass es in der Einrichtung jede Menge »männliche Bräute« gab, entweder dürre oder pummelige Häftlinge, die ihren Hintern zur Verfügung stellten, nicht etwa aus Neigung, sondern weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Wenn sie sich sträubten, wurden sie verprügelt. Wenn sie sich weiterhin weigerten, wurden sie kastriert, und wenn auch das sie nicht gefügig machte, ermordet.
Es gab mehrere Möglichkeiten, schneller eingelassen zu werden. Man konnte einen der vielen »Kojoten« bezahlen, die vor dem Gefängnis herumlungerten. Schwitzende Typen in billigen Anzügen, die ihre Dienste als »Vermittler« anboten. Ihr einziger Verdienst bestand darin, dass sie den diensthabenden Wächter am Eingang kannten, der gegen Bezahlung Leute durch eine Seitentür hereinließ. Eine andere Option war, eine der »Platzhalterinnen« zu bezahlen, arme Frauen, die sich um fünf Uhr morgens anstellten, um ihren Platz später an den Meistbietenden zu verkaufen. Die Platzhalterinnen setzten sich auf eine Obstkiste und hüllten sich in schwarze Tücher, um sich gegen die Kälte zu schützen. Wenn sie in der Schlange weit vorne waren, konnten sie bis zu dreißig Pesos verlangen. Man konnte auch versuchen, einem der Vordersten in der Schlange eine Entschädigung anzubieten. »Wenn Sie mich vorlassen, kriegen Sie fünfzig Centavos
von mir.« Normalerweise ließen sich die Leute darauf ein. Damit konnte man bis zu zwei Stunden sparen.
Wer über mehr Geld verfügte, konnte sich auch direkt zum Haupteingang begeben und dem Chefwärter einen Hunderter in die Hand drücken. Dann wurde man sofort und ohne Leibesvisitation zu einem der Tische im Besuchsbereich geführt. Wer letztere Option wählte – normalerweise vermögende Leute, die einen politischen Gefangenen oder einen Wirtschaftskriminellen besuchten –, wurde mit einer Schimpfkanonade belegt und ausgebuht von denen, die stundenlang unter freiem Himmel hatten ausharren müssen.
Ich beschloss, mich anzustellen, obwohl ich das nötige Kleingeld hatte, um jemanden vor mir zu entschädigen. Andererseits nahmen meine Geldvorräte rapide ab. Nicht nur wegen meiner persönlichen Ausgaben. Colmillo und King zu versorgen, bedeutete einen großen Aderlass, also nahm ich lieber das lange Warten in Kauf.
Um mir die Zeit zu vertreiben, plauderte ich mit einer Familie. Sie wollte den Großvater besuchen. Er verbüßte vierzig Jahre und hatte laut seiner Tochter bereits achtundzwanzig Jahre, neun Monate und zwei Wochen hinter sich gebracht. Verurteilt worden war er wegen Mordes, obwohl er seine Unschuld beteuert hatte. Eines Morgens war er nach einer Pulquezecherei mit einem Messer im Schoß und einem blutverschmierten Hemd aufgewacht. Neben ihm hatte ein Unbekannter mit dreißig Stichen in der Brust gelegen. Die Polizei nahm ihn fest, und er wurde des Mordes angeklagt. Der Großvater konnte sich an nichts erinnern und wanderte in den Knast, ohne zu wissen, was passiert war. Laut seiner Tochter hatte sich zwei Jahre danach ein Freund von ihm der Polizei gestellt und ausgesagt, er habe den Kerl erstochen. Das Geständnis habe aber nicht bewirkt, dass der Großvater auf freien Fuß gesetzt worden sei. »Opa ist ein guter Mensch«, sagte die jüngste Nichte, die gerade einmal zehn war.
Nach drei Stunden Wartens im permanenten Nieselregen war ich vollkommen durchnässt, als ich endlich eintreten durfte. Am Eingang wurde ich eingehend verhört. Die Zugangspolitik war gerade
geändert worden, und Castor Furioso war als Klasse 3 klassifiziert worden, die Kategorie für hochgefährliche Häftlinge. Das hatte ich nun davon, ein paar Pesos in der Schlange sparen zu wollen.
Als ich eingetreten war, wurde ich in den Speisesaal geführt. Einige Tische weiter entdeckte ich den Großvater und seine Familie. Nein, der Typ sah nicht aus wie ein guter Mensch, ganz und gar nicht. In seinem Gesicht meinte man – achtundzwanzig Jahre später –, noch die Blutspritzer des Mannes zu erkennen, den er erstochen hatte.
Castor Furioso kam nach einer Viertelstunde. Da er keinen Besuch erwartet hatte, war er in seiner Zelle eingedöst. Er freute sich, mich zu sehen, und fragte, ob ich genügend Geld hatte für Schinkenbrötchen und Bier. Ich bezahlte fünfmal so viel wie draußen, bei einer Frau, die vom Gefängnisdirektor offiziell autorisiert worden war, was auch die Verfünffachung des Preises erklärte: Achtzig Prozent der Einnahmen wanderten in die Tasche des Direktors.
Ich kehrte zurück mit dem Bier, den Brötchen und einer Cola für mich. Diego fragte mich, ob ich wisse, wo Zurita arbeite, und ich erwiderte, er habe nun einen hohen Posten bei der Justizpolizei. »Dem werde ich den Arsch aufreißen, sobald ich hier raus bin«, sagte er.
Castor Furioso war nervös. Immer wieder blickte er sich hektisch um. »Ich muss denen verklickern, dass du mein Bruder bist, sonst denken sie noch, ich bin eine Schwuchtel und du mein Lover, und wenn die das erst mal denken, habe ich hier nichts mehr zu lachen«, sagte er und zeigte auf eine Gruppe von Häftlingen, die an der Wand lehnte und zu uns herübersah. Drei der Nazis waren entlassen worden, folglich genoss Diego nun einen geringeren Schutz.
Ich fragte ihn nach Carlos’ Bankkonten. Castor Furioso erklärte mir, wie mein Bruder seine Finanzen gehandhabt hatte. Siebzig Prozent der Einnahmen waren an ihn selbst gegangen, jeweils fünfzehn Prozent an ihn und an Sean. Carlos verwaltete das Geld absolut transparent, mit Belegen für jede einzelne Einnahme und Ausgabe. Obwohl jeder für sich selbst entscheiden konnte, was er mit seinem Teil anstellte, eröffneten sie ein gemeinsames Konto, auf das jeder kleinere Beträge einzahlte. Es war ein Ablenkungsmanöver. Sollten
sie verhaftet werden, würden sie aussagen, es sei ihr einziges Konto, um die anderen Konten zu schützen. Tatsächlich wurde dieses Konto sofort konfisziert.
Castor Furioso hatte kein Vertrauen in Banken und hortete alles bei sich zu Hause, bis auf die Beträge, die er auf das Scheinkonto einzahlte, und das Geld, mit dem er im Viertel Juárez eine Wohnung kaufte. Als er festgenommen wurde, stellte Zurita sein Haus auf den Kopf und fand all das Bargeld. Versteckt hatte Castor Furioso es zwischen seiner Wäsche, in Plastiktüten gewickelt im Spülkasten der Toilette, in Umschlägen, die er unter die Tische geklebt hatte. Was er für sichere Verstecke gehalten hatte, war wenig einfallsreich gewesen und wurde folglich von Zurita und seinen Leuten sofort entdeckt. Castor Furioso verlor all seine Ersparnisse. Carlos hingegen eröffnete Konten in mehreren Bankfilialen. Laut Diego um die neun oder zehn. An vier erinnerte er sich noch: an das bei der Banco de Londres y México in der Insurgentes Sur, das der Banco de Comercio an der Ecke La Viga und Ermita, das der Banco Nacional de México an der Calzada de Tlalpan und das bei der Banco Industrial in der Avenida Tasqueña.
Ich fragte ihn, wo ich die Bankpapiere finden könnte, bei uns seien nie irgendwelche Kontoauszüge angekommen. Diego grinste. »Carlos hätte nie deine Familie in Gefahr gebracht, deshalb hat er sich die Kontoauszüge nicht nach Hause schicken lassen.« Einen Teil der Papiere habe er bei dem jüdischen Händler hinterlegt, der ihm die Chinchillafelle abgekauft habe.
Ich hatte Carlos einmal zu einer Textilfabrik im Zentrum begleitet, vor fünf oder sechs Jahren. Dunkel erinnerte ich mich an einen großen Laden, in dem Dutzende Frauen an Nähmaschinen saßen und Kleider nähten. Am hinteren Ende dieses Ladens hatten riesige Rollen Stoff unterschiedlicher Texturen und Farben gelegen. Wegen des Ratterns hatte man kaum sein eigenes Wort verstanden. Fast schreien hatte man müssen. Der Händler war von mittlerer Statur gewesen, hatte lange Haare gehabt und eine Brille getragen. Auf seinen großen Bizeps hatte er sich einiges eingebildet. Er hatte damit geprahlt, jeden
seiner Lagerarbeiter im Armdrücken besiegen zu können. Castor Furioso erinnerte sich nicht, wie er hieß oder wo die Fabrik lag.
Ich verabschiedete mich von ihm. Er bat mich, ihn öfter zu besuchen und, falls möglich, Zeitungen und Magazine mitzubringen. »Ich habe keine Ahnung, was in der Welt passiert«, sagte er. Bevor er ging, flüsterte er mir noch zu: »Leih mir hundert Pesos.« Vorsichtig, damit keiner der unzähligen Spitzel es hörte, erwiderte ich: »Ich habe nur fünfzig dabei.« »Damit halte ich mir drei Monate lang diese Ratten vom Leib«, sagte er und nickte mit dem Kinn in Richtung Wärter. »Tu so, als würdest du dir die Schuhe binden. Lege den Schein daneben und mach dich schnell aus dem Staub.« Genau das tat ich. Ich kniete mich hin, tat so, als würde ich mir die Schnürsenkel binden, und legte den Schein neben meinen Turnschuh. Sofort stellte Castor Furioso seinen Fuß auf den Schein. Ich ging schnell weg und sah noch, wie er sich setzte, ohne den Fuß von dem Schein zu nehmen, und wie er sich nach einigen Sekunden bückte und ihn in seine Socken steckte.
Als ich die Haftanstalt verließ, hatte es aufgeklart, und die Sonne schien zwischen den Wolken hindurch. Es war klirrend kalt. Ich war keine anderthalb Stunden da drin gewesen, und schon litt ich an einem Gefühl von Klaustrophobie, das mich schier erstickte. Wie die Häftlinge es schafften, nach drei oder vier Tagen nicht durchzudrehen, war mir ein Rätsel.
Ich ging schnell davon, als könnte mich die Eile vor einer möglichen Ansteckung bewahren.
In den Tagen vor ihrem Selbstmord begegnete sie mehreren Nachbarn. Alle sagten später, sie habe mit sich selbst gesprochen, aber nicht wirr, nicht wie eine Verrückte. Sie habe einfach nur vor sich hin gemurmelt. Außerdem habe sie abgemagert gewirkt. Eines Nachmittags war auch ich ihr begegnet. Ich hatte sie gegrüßt, und sie hatte zerstreut »Hallo, Juan Guillermo« gemurmelt und war weitergegangen. Die Frau, die mir das Leben gerettet hatte, hatte sich innerlich darauf vorbereitet, sich selbst das Leben zu nehmen
.
Niemand im Viertel ahnte, was geschehen würde. Niemand sah sie im Haushaltswarenladen die sechs Meter Seil kaufen, mit denen sie sich erhängen würde. Niemand wusste, dass ein Arzt auf ihrem Röntgenbild zwei Tumore in der Gebärmutter, einen kleinen Tumor in der Blase und drei weitere in der Leber entdeckt hatte. Keiner konnte sich vorstellen, was dieser extrovertierten Frau durch den Kopf ging, die sich immer mehr zurückzog. Der Frau, die sich von Tag zu Tag stärker isolierte. Der Mutter des Mörders, die vom Gott ihres Sohnes mit Hass bespritzt worden war. Der von Gott beschmutzten Frau, von diesem Gott, der jedes Begehren und jede Lebenslust erstickte.
Jaibo sagte, er habe sie am Donnerstagnachmittag zum letzten Mal ihr Haus betreten sehen. Der Briefträger sagte, er habe ihr am Freitag gegen Mittag die Post in die Hand gedrückt. Der Milchmann, sie sei am Samstag rausgekommen, um ihn zu bezahlen. Sie alle wetteiferten um den Titel »Letzter-Mensch-der-sie-noch-lebend-gesehen-hat«.
Die Frau hatte in aller Ruhe das Seil über den Balken geworfen, es festgebunden, eine Schlinge geknüpft, war auf einen Stuhl gestiegen und hatte sich die Schlinge um den Hals gelegt. Die Rechtsmediziner konnten nicht genau bestimmen, wann sie den Stuhl weggestoßen und noch einige Male mit den Beinen gestrampelt hatte, aber sie schätzten, dass sie schon seit drei Tagen tot war. Vielleicht war sie vorher stundenlang durchs Haus geirrt und hatte sich überlegt, wann sie am besten zur Tat schreiten sollte. Vielleicht war sie auch aufgewacht, entschlossen die Treppe hinuntergegangen und hatte es schnell hinter sich gebracht. Vielleicht hatte sie aber auch die ganze Nacht auf dem Stuhl gesessen und bis in die frühen Morgenstunden das Seil in ihren Händen angestarrt.
Die Frau war drei Tage lang hin und her gebaumelt. Sie hatte das Fenster offengelassen, und der Regen hatte den Teppich durchtränkt. Eine Nachbarin hatte die Leiche entdeckt. Weil sie nichts von ihr gehört und vergeblich geklingelt hatte, hatte sie einen Neffen gebeten, über die Grundstücksmauer zu klettern und ihr von innen aufzumachen. Die Nachbarin hatte das Haus betreten, ohne zu ahnen, dass sie
Humbertos Mutter erhängt auffinden würde, mit heraushängender Zunge, im weißen Nachthemd.
Einen Schuh hatte sie noch an. Der andere war heruntergefallen. Drei Katzen waren durchs Fenster geklettert und streunten um die Leiche herum. Ein Festschmaus direkt vor ihrer Nase. Obwohl die Nachbarin entsetzt war, schrie sie nicht oder lief hinaus auf die Straße, um nach Hilfe zu rufen. Sie verscheuchte die Katzen, hob den Schuh vom Boden auf und zog ihn der Toten wieder an. Dann zupfte sie das Nachthemd zurecht, setzte sich aufs Sofa und wartete, bis der Neffe mit zwei Streifenpolizisten zurückkehrte, die er auf der Calzada de la Viga angetroffen hatte.
Die beiden Beamten betraten das Haus, ohne darauf zu achten, ob Spuren auf einen Mord hinwiesen. Der Anblick der Frau mit der heraushängenden Zunge schockierte sie. Sie waren Berufsanfänger, es war ihre erste Tote. Sie riefen die Zentrale, und die Zentrale rief Zurita.
Der Comandante rückte mit einem ganzen Trupp an. Alles wurde durchsucht, diesmal, ohne am Tatort Spuren zu vernichten. Die Polizisten inspizierten auch den Rest des Hauses, fanden aber nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete. Alles war aufgeräumt. Die Wäsche lag frisch gewaschen und gefaltet auf dem Bett, das Geschirr fein säuberlich in der Ablage. Die Böden waren blitzblank. Unordentlich waren allein die am Balken hängende Frau, das offene Fenster und der vom Regen durchnässte Teppich.
Keiner der Polizisten traute sich, sie anzufassen. Die einen aus Aberglauben: Eine Leiche zu berühren, konnte Unglück bringen. Die anderen aus Ekel vor der bläulich verfärbten Haut und dem Gestank. Wieder andere aus religiösen Gründen: Eine Selbstmörderin versündigte sich gegen Gott und verdiente kein Mitleid.
Zurita stieg auf den Stuhl, zog ein Klappmesser heraus und schnitt das Seil durch. Die Frau plumpste auf den feuchten Teppich. Sie kam so unglücklich zum Liegen, dass einige Polizisten mit morbider Veranlagung ihr unter den Rock linsen konnten.
Die Mutter hatte ihren Abschiedsbrief gut sichtbar ins Wohnzimmer
gelegt, auf eine Fensterbank. Auf den Umschlag hatte sie den Adressaten geschrieben: »Für Humberto.« Der Neffe der Nachbarin erzählte, Zurita habe den Brief zweimal gelesen. Anschließend habe er ihn wieder in den Umschlag gesteckt, zurück an seinen Platz gelegt und sich bleich in einen Sessel gesetzt.
Humberto bestellte den billigsten Sarg, fast schon eine Warenkiste. Drittklassiges Kiefernholz. Unlackiert, schmucklos. Geld für sie ausgeben? Natürlich nicht. Für Humberto war seine Mutter eine gottverfluchte Frau, und gottverflucht blieb sie auch im Tod. Nur eine so labile, verhurte, irrationale Frau hatte auf die Idee kommen können, sich an einem Balken aufzuhängen und denjenigen, die sie fanden, die Zunge rauszustrecken.
In dem Brief gab sie ihm die Schuld an ihrem Selbstmord. So erzählte es Zurita einem Beamten, und der erzählte es dem Neffen, und der Neffe Agüitas, und Agüitas mir. Es war ein harter, kalter Brief an einen harten, kalten Menschen.
Einige Tage später kam Humberto zurück und schloss sich mit ihr ein. Niemand durfte sie sehen: Selbstmörderinnen mussten fremden Blicken entzogen werden. Waren eine Schande. Kleingeister. Gotteslästerer.
Er war ganz allein. Mit ihrem Tod, mit ihrem Brief, mit seinem Gott. Allein. Mit dem Regen, dem Leichengestank, dem Teppichmuff. Allein. Mit der Wut, der Schuld, dem Schmerz, der Verwirrung. Allein. Allein da drin. Auf dem Präsentierteller. In Reichweite meiner Rache.
Im Morgengrauen wachte Robert auf und verließ das Zelt. Chuck fand er nicht, dafür Nujuaqtutuq, der neben Amaruqs Leichnam lag. Wachsam richtete der Wolf sich auf. Robert bemerkte, dass er nicht angekettet war. Er nahm den Haken und versuchte, sich ihm zu nähern, doch der Wolf bleckte seine Reißzähne. Robert wich einige Schritte zurück. Der Wolf folgte ihm mit dem Blick, und als Robert weit genug entfernt war, legte Nujuaqtutuq sich wieder neben die Leiche
.
Chuck hatte im Pick-up geschlafen. Robert weckte ihn und deutete auf den Wolf. »Hast du ihn freigelassen?«, fragte er leise. Chuck nickte. »Warum?«, fragte Robert. Chuck zuckte mit den Schultern. Er stank nach Whisky. »Ich weiß nicht.« Robert musterte den Wolf. Er wusste nicht, ob er schon wieder kräftig genug war, um sie anzugreifen. Er wollte aber auch nicht, dass er floh. In seinem Zustand würde er von anderen Wölfen zerfleischt werden. Sie mussten ihn wieder einfangen. Bevor sie es in Angriff nahmen, wollten sie einige Minuten abzuwarten, bis Nujuaqtutuq sich beruhigt hatte.
Sie entfernten sich ein Stück, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Der Wolf lag ruhig neben der Leiche und senkte nach einer Weile den Kopf. Robert und Chuck nutzten die Gelegenheit. Robert schlich sich hinter dem Auto an. Als er ihm die Schlinge um den Hals legen wollte, stand Nujuaqtutuq auf und drehte sich zu ihm um. Einige Sekunden lang sahen sie einander in die Augen. Der Wolf bemerkte, dass Chuck sich von der anderen Seite näherte. Drohend wandte er sich zu ihm um. Robert machte zwei Schritte auf den Wolf zu und warf ihm die Schlinge um den Hals. Wütend schnappte Nujuaqtutuq nach dem Seil und kippte bei dem Versuch, sich loszureißen, um. Chuck nutzte die Chance und fesselte ihn an den Füßen. Gemeinsam zerrten sie ihn zurück in den Käfig, und als er drinnen war, hakten sie die Kette an sein Geschirr.
Sie fuhren in die weite Ebene hinein. Zwei Stunden später erreichten sie die asphaltierte Straße, wenn man diese enge, mit Schlaglöchern übersäte Piste als asphaltiert bezeichnen konnte. Sie fuhren immer weiter nach Süden. Zweimal mussten sie anhalten und Schnee wegschaufeln, bevor sie ihren Weg fortsetzen konnten. Sie begegneten nur wenigen Autos, und wenn, dann hielten sie an und plauderten mit dem Fahrer. In diesen einsamen Gefilden war es wichtig, Informationen über den Zustand der Straße auszutauschen. So erfuhren sie, dass sie nur mit wenigen Hindernissen rechnen mussten. Etwas Eis, Schnee und die Überreste eines überfahrenen Elchs, den wegzuräumen niemand sich die Mühe gemacht hatte.
Nach fünfzig Kilometern hielten sie in einem Dorf, um zu
tanken. Sie durften das Telefon benutzen, und Robert rief seine Frau Linda an. Er hatte beschlossen, ihr nichts von seiner Reise zu erzählen. Sobald sie seine Stimme hörte, sprudelte es regelrecht aus ihr heraus. Sie erzählte ihm von den Kindern, den Alkoholproblemen einer Freundin, den notwendigen Reparaturen am Haus, dem neuen Lebensmittelladen, der in Whitehorse eröffnet werden sollte. Immer, wenn er sie anrief, erzählte Linda ihm erst einmal ausführlich von ihrer Woche, bevor sie ihn fragte, wie es ihm ging. Sie führte ein Leben unter Kindern und Frauen, die genauso einsam waren wie sie, gefangen in einem banalen, erstickenden Alltag, den sie nicht mit ihm teilen konnte. Robert teilte ihr nur knapp mit, dass alles in Ordnung war, dass das Unternehmen sich für seine Trassenführung entschieden hatte, dass die Wetteraussichten gut waren und die Arbeiten vorangetrieben werden konnten. Von den zwölf Minuten, die der Anruf dauerte, redete sie elf.
Er legte auf und ging zurück zum Pick-up. Der Tankwart, ein muskulöser Mischling mit schlitzförmigen Augen und üppigem Haar, betrachtete neugierig den Wolf im Käfig. Es war der größte Wolf, den er je gesehen hatte. Es sei jammerschade, dass er in einem so schlechten Zustand sei, er selbst besitze eine Wölfin, die er liebend gern mit ihm gekreuzt hätte.
Bei Einbruch der Dunkelheit schlugen sie ihr Zelt neben der Landstraße auf. Es war so kalt geworden, dass an manchen Stellen der Asphalt gefror. Sie hatten es nicht eilig, und es lohnte sich nicht, ein Risiko einzugehen. Es waren nur noch siebzig Kilometer bis zum Bahnhof. Insgesamt würden sie rund vierhundert Kilometer zurückgelegt haben. Robert schätzte, dass zwischen der Stelle, an der sie Amaruq gefunden hatte, und dem Bahnhof etwa hundertachtzig Kilometer Luftlinie lagen. Wieso hatte Amaruq sich so weit von zu Hause entfernt? Was war sein Geheimnis?
Robert dachte an seine beiden Söhne und seine Tochter. In gewisser Weise hatte auch er sie im Stich gelassen. Sicher, er musste beruflich viel reisen, aber das konnten die Kinder nicht verstehen. Sie nahmen ihm seine Abwesenheit übel. Manchmal sah er sie sechs
Monate lang nicht. Im letzten Winter aber hatte er viel Zeit mit ihnen verbringen können, weil das Wetter den Ausbau der Pipeline verzögert hatte. Der Winter war so kalt gewesen, dass sie kaum hatten nach draußen gehen können. Er hatte sich eingesperrt gefühlt. Das lautstarke Toben seiner Kinder, das ihm anfangs große Freude bereitet hatte, trieb ihn am Ende in die Verzweiflung. Auch seine Frau raubte ihm die Nerven. Ihr ständiger Rededrang, wo er sich doch danach sehnte, in Ruhe zu lesen oder ein Nickerchen zu halten. In Liebesdingen war seine Frau eher plump. Um sich zu erregen, stieß sie heftig mit dem Becken und tat ihm weh. Außerdem war sie verklemmt. Sie mochte es nicht, wenn er sie nackt sah, und entblößte nie ihre Brust. Nach ihren Schwangerschaften hatte sie fünfundzwanzig Kilo zugenommen, und ihr schwabbeliger Körper und der von Streifen überzogene Bauch waren ihr peinlich. Ja, Linda war eine gute Frau und hingebungsvolle Mutter, doch von Charakter flach und besitzergreifend. Nach einem Monat zu Hause verspürte Robert das dringende Bedürfnis, zu seiner Arbeit zurückzukehren, doch es erwarteten ihn weitere sieben Wochen erzwungenen Zusammenlebens. Seine Laune verschlechterte sich zusehends. Er schimpfte wegen nichtiger Dinge seine Kinder aus und brachte Linda mit einem lauten Zischen zum Schweigen, wenn sie wieder einmal endlos plapperte.
Als er den Anruf erhielt, der ihn zurück zur Baustelle beorderte, brach er in Windeseile auf. Und nun vermisste er sie. Er vermisste seine Tochter und ihren Geruch, seinen Sohn, wenn er auf seinem Schoß saß und eine Zeichnung bunt ausmalte, seinen älteren Sohn, wenn er ihm von seinen Abenteuern erzählte. Und er vermisste Linda. Sie ging ihm auf die Nerven, ja, aber er liebte sie auch, und sie musste ertragen, dass er so oft nicht da war.
An diesem Vormittag kamen sie schneller voran als zuvor. Je weiter südlich sie gelangten, desto besser wurde der Zustand der Straße. Nach zwei Stunden erreichten sie die Kreuzung mit dem fünfzehn Kilometer langen Feldweg, der zum Bahnhof führte. Chuck bat Robert, kurz anzuhalten. Schlagartig war ihm klar geworden, dass es
zwei Möglichkeiten gab: Entweder er sah gleich die Frau wieder, die er vor dreißig Jahren verlassen hatte, oder er erhielt die Nachricht, dass auch sie gestorben war. Beides würde schwer zu verkraften sein. Er atmete tief durch. »Fahren wir«, sagte er.
Sie kamen an. Chuck bat Robert, hinter dem Haus zu parken. Er stieg aus und nahm alles in Augenschein. Der gleiche verrostete Briefkasten, die Veranda, die zum Wald ging, die Bänke aus Metall. Er hatte mitgeholfen, das Haus zu errichten. Hatte mit Amaruqs Großvater Stamm für Stamm gesetzt. Hatte die Dachbalken angebracht. Die Fenster gezimmert und eingebaut. Das Haus war gealtert, sah aber noch genauso aus wie damals. Chuck ging zur Tür und klopfte. Respektvoll blieb Robert auf Abstand. Schritte ertönten. Eine Inuitfrau öffnete und musterte den Mann mit den blauen Augen und dem ergrauten Haar, der auf der Schwelle stand und sie ansah. Nach einem kurzen Moment des Schweigens trat sie beiseite und ließ ihn ein.