Himmel
Humberto hat das Haus seit drei Tagen nicht verlassen. Was ist nur los, dass er seine Mutter nicht beerdigt? Spricht er mit ihr? Bittet er diesen stummen, stinkenden Leichnam um Erklärungen? Erstickt er da drin an den Gasen der Toten? Oder hat er ihr Formaldehyd gespritzt, um die Verwesung zu verhindern? Wozu diese Grübelei, Humberto?
Tagsüber steht der Dodge Dart vor der Tür. Nachts wird er ersetzt von dem Rambler. Unbekannte bewachen Humbertos Haus rund um die Uhr. Sie sind jung und tragen ein Kreuz am Hals. Kurze Haare, blank polierte Schuhe, Kaschmirhosen, weißes Hemd. Gute Jungs von außerhalb. Kaum verhohlene Waffen. Sie bitten die Nachbarn, ihr Bad benutzen zu dürfen. Und gelegentlich um ein Glas Wasser. Stoisch stehen sie die meiste Zeit. Manchmal dösen sie im Auto. Bei Humberto zu klingeln, trauen sie sich nicht. Offenbar hat er ihnen verboten, ihn zu stören. Sie sind da, um ihn zu bewachen, nicht, um ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Zweimal sind auch Antonio und Josué aufgetaucht. Sie sprechen kurz mit den Wachen, geben ihnen Tüten mit Essen und Getränken und verziehen sich wieder. Auch Zuritas Männer lassen sich blicken. Langsam fahren sie im Streifenwagen durch die Straße, vergewissern sich, dass alles okay ist, und verschwinden wieder.
Ich kann nicht länger warten mit meiner Rache. Humberto könnte fliehen und wieder unter die Soutanen seiner Beschützer kriechen, dieser Priester, die sich so gern auf die Seite der Niederträchtigen schlagen. Wenn er erst mal weg ist, werde ich ihn nicht mehr so leicht aufspüren können. Ich muss schnell handeln, fehlerlos .
Versteckt hinter dem Wassertank der Barreras, belauere ich Humbertos Haus. Der Sarg steht mitten im Wohnzimmer, genau unter der Stelle, an der die Mutter sich erhängt hat. Vier Kerzen brennen, an jeder Ecke des Sargs eine. Mein Feind ist nervös. Er setzt sich, steht auf. Geht hin und her. Es ist der Juckreiz, verursacht von den Würmern des Todes, die ihn zu verschlingen beginnen.
Humberto schließt die Vorhänge. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, ob er isst, ob er schläft oder nicht, ob er irgendwann aufhört, ständig hin und her zu gehen. Ich zähle noch einmal die Schritte zu seinem Haus. Präge mir den Weg ein. Ich könnte ihn auch mit verbundenen Augen gehen. Ich kenne jeden Draht, jede Fernsehantenne, jede Lücke zwischen den Häusern. Ich könnte blind sein und doch, ohne zu zaudern, meine Rache verüben.
Ich beschließe, dass der Moment gekommen ist. Stelle mich darauf ein, ihn in dieser Nacht zu töten. Binde mir das Messer ans Handgelenk und übe, es blitzschnell herauszuziehen und zuzustechen. Perfektioniere meine Technik. Im Bruchteil einer Sekunde gleitet das Messer in meine Hand. Humberto wird nicht begreifen, welcher Blitz sich in seinen Bauch bohrt. Ich werde das Messer hineinstoßen und drehen, um seine Eingeweide aufzuschlitzen. Ich male mir sein verblüfftes Gesicht aus, sein weißes Hemd, das sich mit Blut vollsaugt, seine Hände, die versuchen, die herausquellenden Eingeweide zurückzuhalten.
Ich studiere das Verhalten der Wachen. Um sechs Uhr abends und um sechs Uhr morgens wechseln sie die Schicht. Um Mitternacht sind sie müde und schlafen fast im Stehen. Ich beschließe, um ein Uhr morgens anzugreifen. Dann ist niemand mehr draußen unterwegs, und seine Beschützer sabbern vor Schlaf.
Chelo weiß, dass die Zeit der Rache gekommen ist. Sie ruft mich an und beschwört mich unter Tränen. »Bitte, nicht«, fleht sie. Ich lege auf. Sie ruft erneut an. Ich gehe nicht ran. Nicht nur die Eingangstür habe ich mit Riegeln verschlossen, sondern auch die zum Dach. Ich vergewissere mich, dass sie keine Möglichkeit hat, ins Haus zu gelangen .
Ich mache eine Siesta. Den Hörer lege ich neben das Telefon und drehe die Hauptsicherung heraus. Niemand soll mich stören. Nicht meine Freunde und auch nicht Avilés. Ich werde Humberto töten, und darauf, nur darauf muss ich mich konzentrieren.
Nach vier Stunden wache ich auf. Zähne und Kiefer tun mir weh. Ich muss sie im Schlaf zusammengebissen haben. Ich räkele mich. Will meine Muskeln dehnen, flexibel machen, für die Attacke vorbereiten. Ich sehe auf die Uhr. Noch fünf Stunden bis zur Rache. Ich spähe auf die Straße. Die beiden Wachen halten streng ihre Posten ein. Humberto muss es ihnen eingetrichtert haben. »Kälte existiert nicht, Hunger existiert nicht, Schlaf existiert nicht.« Sie sind nicht von hier, kennen das Viertel nicht. Wahrscheinlich wissen sie nicht, dass ich mich auch über die Dächer in Humbertos Haus schleichen kann. In all der Zeit, in der ich sie observiert habe, haben sie nicht einmal nach oben geschaut. Ich werde das Gespenst sein, das ihren Anführer getötet hat.
Ich mache kein Licht. Nichts soll darauf hindeuten, dass ich hier bin. Ich sehe nach King. Er liegt im Dunkeln. Schnarcht. Ich setze mich zu ihm, streichle ihn. Er wacht nicht auf. Seine Ohren zittern. Er erschaudert im Schlaf. Offenbar träumt er.
Ich gehe runter zu Colmillo. Er sollte mein Verbündeter bei dieser Rache sein. Ihn sollte ich auf Humberto hetzen, damit er ihn zerfleischt. Bei lebendigem Leib frisst. Seine Eingeweide kaut. Colmillo hat sichtlich Hunger. Ich werfe ihm Fleischknochen hin, die er zermalmt, als wären es Kekse.
Die Stunden vergehen langsam. Ich tigere im Haus umher. Wieder und wieder lasse ich das Messer in die Hand gleiten. Durch das viele Üben ist das Messer zur Verlängerung meines Arms geworden. Meine Hand Teil des Stahls, der Stahl Teil meiner Hand. Ich vergegenwärtige mir die genaue Stelle, an der ich zustechen muss. In der Mitte des Solarplexus. Um Hackfleisch zu machen aus Leber, Herz und Lungen.
Ich überlege, ob ich eine der wollenen Kopfhauben anziehen soll, die mein Vater uns für unsere Ausflüge in den Schnee gekauft hat. Ich probiere sie an. Sie ist mir zu klein und drückt, aber sie verdeckt auch vollständig mein Gesicht. Ich betrachte mich im Spiegel. Meine Augen sehen einander an. Ich nehme die Haube wieder ab. Beschließe, mich nicht zu vermummen. Humberto soll mich ruhig sehen, soll wissen, wer sein Henker war. Ich werde ihn hinrichten, nicht ermorden. Hinrichten: Gerechtigkeit üben, indem man den Mörder tötet.
Die Stunde rückt näher. Ich kontrolliere noch einmal alles mit dem Fernglas. Einer der beiden guten Jungs hat sich ins Auto gesetzt. Die Scheiben sind beschlagen, Zeichen dafür, dass er schon eine Weile schläft. Der andere lehnt an der Tür. Er wirkt schläfrig. Die Augen geschlossen. Der Mund geöffnet.
Es schlägt zwölf. Ich gehe in mein Zimmer und nehme das Leinenhemd, das meine Eltern Carlos aus Italien mitgebracht haben. Ich ziehe das Hemd an, das er nie gesehen hat. Das Hemd, das meine Eltern in einem Laden in Florenz sorgfältig ausgesucht haben. Ägyptisches Leinen, hatte der Verkäufer meinen Eltern erklärt, um sie von der Qualität zu überzeugen. Als Carlos verkleidet, bereite ich mich darauf vor, ihn zu rächen. Darüber ziehe ich einen braunen Pullover an. Ich muss etwas Dunkles tragen, um unbemerkt über die Dächer zu schleichen.
Ich binde das Messer fest und verstecke es im Ärmel. In die eine Hosentasche stecke ich einen Schlagring, in die andere ein Springmesser. Meine Schläfen pochen. Mein Atem geht stockend. Ich halte es nicht mehr aus. Um zwölf Uhr achtundzwanzig steige ich die Wendeltreppe hinauf. Die Nacht ist sternenklar. Es ist kalt, ein sanfter Wind weht. Die Zeder auf der Straße wiegt sich leicht.
Ich gehe zum Dach der Garzas, steige die Leiter hinunter, springe bei der Retorno 202 auf den Bürgersteig. Ich nehme die andere Richtung, lasse meine Straße links liegen und gelange zur Río Churubusco. Kein Mensch weit und breit, nur ein paar streunende Hunde. Beim Haus der Martínez’ klettere ich über die Mauer und steige hoch aufs Dach. Vom Wassertank der Martínez’ bis zu Humbertos Haus sind es achtundsechzig Schritte. Ich atme tief durch und gehe los. Bis zum Haus der Señora Carbajal, sechsundsechzig Schritte, fünfzig, über das der Montes de Oca, siebenunddreißig, einundzwanzig, über das der Rovelos, achtzehn, fünfzehn, sechs. Ich gelange an die Wendeltreppe von Humbertos Haus. Geräuschlos nehme ich die Stufen. Es brennt kein Licht. Die Tür zur Küche ist abgeschlossen. Ich versuche, ein Fenster aufzuschieben. Schaffe es nicht. Es ist verklemmt. Ich sehe, dass ein Fenster im zweiten Stock halb offen steht. Ich gehe die Treppe wieder hinauf. Über die Fenstersimse pirsche ich mich heran. Ich ziehe das Fenster ganz auf. Spähe hinein. Niemand zu sehen. Ich klettere hinein.
Robert setzte sich aufs Bett, den Zettel in der Hand. Warum bat Patricia ihn um Hilfe? War der Vater ein perverses Monster, das sie zu unsäglichen Dingen zwang? Schlug er sie? Missbrauchte er sie? Versklavte er sie? Er war verwirrt. Die Kinder waren merkwürdig und extrem schüchtern, und der Tierarzt verhielt sich exzentrisch und schrill, aber er schien kein grausamer Mensch zu sein. Wie konnte er ihnen helfen? Und wem? Der ganzen Familie? Nur den Kindern?
Er öffnete die Tür. Davor stand ein Teller mit Brot und Schinken. Dass ihm das Frühstück aufs Zimmer gebracht wurde, machte ihn noch neugieriger. Warum war dieser Mann so gastfreundlich zu ihm? Natürlich halfen die Menschen sich in diesen unwirtlichen Gegenden meist gegenseitig, hing das Überleben doch oft davon ab, ob man eine helfende Hand fand. Auf den Tierarzt schien dies aber nicht zuzutreffen. Erwartete er eine großzügigere Bezahlung seiner Dienste, oder war es ein Versuch, ein obskures Verhalten zu verschleiern?
Er setzte sich wieder aufs Bett, um zu essen. Als er fertig war, ging er die Treppe hinunter. Es war niemand zu Hause. Er wusch den Teller, trocknete ihn mit einem Geschirrtuch ab und stellte ihn auf den Stapel neben der Spüle.
Dann sah er nach den Wölfen. Die Wölfin lag nach wie vor im Käfig und hob kaum den Kopf, als er sich näherte. Robert schob einige Scheiben Schinken zwischen den Gitterstäben hindurch, doch sie machte nicht die geringsten Anstalten, sie zu fressen .
Er ging in den Stall, aber Nujuaqtutuq war nicht da. Robert fürchtete, der Tierarzt könnte ihn getötet und zu den anderen Kadavern gehängt haben, die draußen im Wind baumelten. Besorgt stieg er in den Pick-up und fuhr die endlosen Feldwege entlang, um den Mann zu suchen. Es dauerte eine Weile, bis er ihn gefunden hatte. Er hielt sich in einem abgelegenen Teil der Ranch auf, lud Strohballen für eine Viehherde ab, die ungeduldig wartete.
Entschlossen, den Mann zur Rede zu stellen, stieg Robert aus dem Pick-up, doch die Freundlichkeit, mit der ihn der Tierarzt begrüßte, dämpfte seine Erregung. »Guten Tag«, sagte der Mann lächelnd. »Haben Sie gut geschlafen?« Robert nickte, und der Tierarzt klopfte ihm auf die Schulter. »Das freut mich.« Robert entdeckte Patricia, die ein Stück entfernt stand und mit einer Gabel Heu auf den Schnee streute. Sie wechselten einen Blick, und sie senkte den Kopf.
Robert fragte nach Nujuaqtutuq. Der Tierarzt erklärte, er habe ihn am frühen Morgen untersucht und festgestellt, dass er wegen der Kälte stark unterkühlt gewesen sei. Um einen hypothermischen Schock zu vermeiden, habe er ihn neben die Räucherkammer hinter der Scheune gelegt, damit er sich an der Glut etwas wärmen konnte.
Patricia kam herbei. Robert suchte nach einem Hinweis, warum sie ihm den Zettel geschrieben hatte, aber sie hob nicht einmal den Blick. Der Tierarzt sagte, sie würden gegen fünf nach Hause kommen, um etwas zu essen, aber wenn er Hunger habe, finde er Brot und Wurst in der Speisekammer.
Robert stieg wieder in den Pick-up. Patricia blickte kurz auf, als er wegfuhr, und half dann wieder ihrem Vater, das Stroh auszustreuen. Robert beobachtete sie im Rückspiegel. Es würde sich schon der richtige Moment finden, um sie zu fragen, warum sie ihn mitten in der Nacht um Hilfe gebeten hatte.
Robert begab sich direkt zur Räucherkammer. Nujuaqtutuq war nach wie vor bewusstlos. Robert legte eine Hand auf seinen Rücken, der sich kalt anfühlte. Unter der Haut spürte er ein permanentes Zittern. Er war nicht sehr zuversichtlich. Kaum vorstellbar, dass der Wolf überlebte .
Er hob ihn hoch, trug ihn ins Haus, legte ihn vor den Kamin und machte Feuer. Er musste dafür sorgen, dass seine Körpertemperatur anstieg, egal wie. Bestimmt würde es dem Tierarzt nicht passen, dass er ihn ins Haus geholt hatte, doch es war eine Notmaßnahme.
Er setzte sich und betrachtete ihn. Was sollte er mit ihm anstellen, wenn er sich tatsächlich erholte? Freilassen konnte er ihn auf keinen Fall, die anderen Wölfe würden ihn sofort angreifen. Sollte er ihn mit nach Hause nehmen und ihn im Hinterhof in einem Käfig halten? Nein, auch nicht. Er würde seine Frau und Kinder in Gefahr bringen, und in Whitehorse würde es auch niemand lustig finden, wenn der Wolf womöglich entwischte und jemanden anfiel, der ihm über den Weg lief.
Wenn in den Sagen des Yukon ein Tier das Böse repräsentierte, dann der Wolf. Er wurde stets als boshaft und heimtückisch beschrieben, manch einer verlieh ihm sogar dämonische Züge. Nur in wenigen Legenden der Ureinwohner galt er als ein weises, höheres Wesen, als ein für seine Ausdauer und Zähigkeit bewunderter Jäger. Für alle anderen und so auch für den Tierarzt war er ein abstoßendes Tier, das vernichtet werden musste. Bis vor kurzem hatte Robert Wölfen nicht viel Beachtung geschenkt. Anders als Wapitis und Karibus stellten Wölfe für die Pipeline kein Problem dar. Zum ersten Mal zur Kenntnis genommen hatte er sie, als er gesehen hatte, wie ein Rudel einen Wapiti bei lebendigem Leib aufgefressen hatte. Die Wölfe hatten das Tier während der Niederkunft attackiert. Das Junge hatte den Mutterleib noch nicht ganz verlassen, da hatten sie es bereits zerbissen. Der Mutter bissen sie so lange in die Beine, bis sie ins Gras sank. Auf allen vieren lag die Wapitikuh da und schien nur darauf zu warten, dass das Rudel sie verschlang. Ab und zu wandte sie den Kopf zurück, um zuzusehen, wie ihre Eingeweide herausgerissen wurden. Ohne das geringste Mitleid fraßen die Wölfe sie auf. Obwohl die Natur sich von ihrer grausamsten Seite gezeigt hatte, war Robert nicht erschüttert gewesen. In dem Kontrast zwischen der Ruhe der Wapitikuh und dem Ungestüm, mit dem die Wölfe sich um ihr Fleisch stritten, hatte für ihn eine gewisse Schönheit gelegen .
Sobald Nujuaqtutuq genesen war, würde er ihn abgeben. Er dachte an den Zoo von Vancouver oder ein Tierreservat. Und ebenso würde er es mit Pajamartuq machen, der malträtierten Wölfin, die trügerisch zahm nur auf den Moment wartete, um zubeißen zu können.
Er stand auf, um etwas zu trinken. In der Speisekammer fand er einen selbstgebrannten Whisky. Auf dem groben Etikett stand, dass er in Saskatoon hergestellt worden war. Robert öffnete die Flasche und wandte das Gesicht ab, als ihm ein penetranter Geruch nach Alkohol in die Nase stieg. Das Zeug schien zum Desinfizieren besser geeignet als zum Trinken. Trotzdem schenkte er sich ein Glas ein. Er musste sich entspannen. Der erste Schluck hinterließ einen strengen Geschmack im Mund, und der starke Alkohol brannte ihm in der Speiseröhre. Nachdem sein Gaumen sich daran gewöhnt hatte, kam der süßliche Hauch von Mais durch, kombiniert mit den bitteren Noten von Weizen.
Er nahm die Flasche mit zum Kamin. Der Wolf atmete jetzt langsamer. Mehrere Sekunden lagen zwischen den Atemzügen. Es hatte den Anschein, als könnten seine Lungen in jedem Moment kollabieren. Robert bemerkte, dass eine der Wunden eiterte, und kippte etwas Whisky darauf. Den Rest trank er aus und schenkte sich nach. Er lehnte den Kopf an die Stuhllehne und schloss die Augen.