Sam
Am Ende der Personalversammlung stehen Ian und ich gleichzeitig auf. Heute, mit meinen flachen Schuhen, reiche ich ihm bis zur Mitte seines Oberarms. Ich bin mir dessen bewusst, als wir versuchen, umeinander herumzugehen, und ich mit der Nase gegen seinen Muskel stoße. Es schmerzt so, als wäre ich gegen eine Backsteinmauer gerannt.
»Autsch, Herrgott.«
Er streckt die Hände aus, um mich festzuhalten, und ich starre gegen seine Brust, bevor ich mich aus seinem Griff befreie.
Nein. Anfassen ist nicht erlaubt. Nicht, wenn von mir erwartet wird, den Ist-Zustand aufrechtzuerhalten: dass wir Freunde sind.
»Ms. Abrams, dürfte ich Sie kurz sprechen?«, fragt George von vorne im Konferenzraum.
Keine Ahnung, wen er mit dieser Förmlichkeit auf den Arm nehmen will. Ich habe miterlebt, wie er sich nach einem schulinternen Kickball-Match Leichtbier in den Rachen hat laufen lassen.
Ian murmelt irgendwas von meinem gelben Kleid, das ich nicht richtig mitbekomme.
»Was war das?«
Er schüttelt den Kopf. »Soll ich auf dich warten?«
Ich lächele. »Glaubst du, ich kriege Ärger wegen des Keuschheitskommentars?«
»Entweder das oder wir sind wieder bei ›Drei gewinnt‹ ertappt worden. Du hättest nach dem letzten Durchgang nicht triumphierend die Faust in die Luft recken sollen.«
»Ich hatte gerade die dritte und letzte K.-o.-Runde gewonnen. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Meinen Sieg mit Souveränität und Aplomb auskosten?«
»Aplomb? Ihr Geisteswissenschaftlerinnen benutzt die merkwürdigsten Ausdrücke.«
»Ms. Abrams?«, ruft George ungeduldig.
Ian zieht mich an meinem locker sitzenden Zopf. »Viel Glück. Hab keine Hemmungen, ihn mit einem Kasten Leichtbier zu bestechen.«
Ich setze eine höchst besorgte Miene auf. »Okay, und ich sage ihm, dass das mit ›Drei gewinnt‹ deine Idee war.«
Wie sich herausstellt, stecke ich nicht in Schwierigkeiten. George hat einen Auftrag für mich.
»Wie Sie wahrscheinlich schon gehört haben, geht Jen früher als erwartet in den Mutterschutz. Deshalb kommt morgen früh ihre Langzeitvertretung. Ich hätte gern, dass Sie sie herumführen und ihr alles zeigen.«
Ich gebe einen bedauernden Zischlaut von mir. »O Mann, ich wünschte, das ginge, aber ich habe Aufsicht.«
In seiner Zeit in der Verwaltung wurde er offenbar schon mit so einigen Tricks konfrontiert, denn er ist auf meine Ausrede vorbereitet. »Ich habe für diese und die nächste Woche schon eine Vertretung für Sie organisiert.«
Ich lächele bedauernd und blättere durch meine mentale Rolodex-Kartei mit »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karten. »Oh, diese Zeit könnte ich gut für die Vorbereitungen für diese Aufklärungssache gebrauchen …«
»Vorbereitungen? Das gesamte Material stellt der Staat. Sie brauchen nur ein Kondom über eine Banane zu ziehen und Fragen zu beantworten.«
Mein Gehirn verknotet sich, und mir gehen die Ausreden aus. Die Runde geht an dich, George.
»Na schön. Wie heißt die Vertretung?«
»Ashley. Ich sage ihr, dass Sie sich morgen früh um 7.30 Uhr mit ihr treffen.«
Wie versprochen wartet die Langzeitvertretung in aller Herrgottsfrühe vor dem Büro der Schulleitung auf mich. Sie hat sich leicht übertrieben in einen schwarzen Blazer mit dazu passendem Bleistiftrock geworfen und sieht aus, als wollte sie mich in einem Fall vor dem Obersten Gerichtshof vertreten. Was ihr Aussehen betrifft, entgeht mir nicht, dass sie genau in das Schema von Ians Ex-Freundinnen passt. Sie ist blond und groß und keinen Tag älter als dreiundzwanzig.
Anscheinend schätzt sie mich ähnlich ein, nur noch jünger. Sie hält mich für eine Schülerin.
»Entschuldigung, weißt du, wo ich Ms. Abrams finde?«
Als ich mich ihr vorstelle, läuft sie wegen ihres Patzers rot an.
»Du liebe Güte, verzeihen Sie. Es ist nur, Sie sind so … zierlich.«
Ich straffe die Schultern. Um das mal festzuhalten, so klein bin ich nun auch wieder nicht.
»Okay, tja, ich soll Sie herumführen, also legen wir los.«
Die Highschool ist riesig, und man kann sich leicht in den Gängen verlaufen. Ich beschließe, es möglichst unkompliziert zu machen, und meide Orte wie den Orchestersaal und den Theaterraum. Sie wird sich sowieso nicht alles merken können, deshalb halte ich mich an die wichtigen Dinge.
»Das ist der Serverraum. Der zuständige ITler verkauft hier Gras, hab ich gehört.« Wir biegen in einen anderen Flur ein. »Und hier ist der Kunstraum. Sie werden feststellen, dass es im Raum für den Kunstzubehör ganz ähnlich riecht wie im Serverraum«, deute ich mit einem Augenzwinkern und einem verschwörerischen Stupser an.
Ashleys kindliche Augen weiten sich, und ich denke, ich hätte sie vielleicht doch lieber zum Orchestersaal führen sollen. Sie sieht entsetzt aus.
»Äh, war nur ein Scherz. Kommen Sie, ich bringe Sie in Ihren Klassenraum.«
Unser Rundgang endet ziemlich abrupt, aber Ashley abzuschütteln ist nicht so leicht. Zur Mittagszeit steht sie vor meiner Klassentür und wartet auf mich. Ihren schwarzen Blazer hat sie abgelegt und wirkt jetzt geringfügig weniger spießig. Dafür hält sie eine mit ihrem Monogramm versehene Vera-Bradley-Lunchtasche in der Hand.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen zu Mittag esse?«
Ich weiß, dass Ian stöhnen wird, wenn er hereinkommt und sie an unserem Tisch vorfindet. Er hasst Neuzugänge, weil er findet, dass sie die geheiligte Lockerheit im Pausenraum stören. Aber ich zucke mit den Achseln und lächele. »Gerne.«
Als wir dort ankommen, setze ich mich hin und fange an, meinen Proviant vor mir aufzureihen. Die heutige Verpflegung besteht aus Spaghettiresten, grünen Bohnen und einem halben Hershey-Schokoriegel. Um die Schokolade werden wir uns sicher streiten.
Ashley packt mich am Arm und krallt sich fest. »O mein Gott, wer ist der Typ?«
Ich habe keine Ahnung, wen sie meint, weil ich mich auf ihre Finger konzentriere. Sie reißt mir gleich die Haut ab. Ich befreie meinen Arm und streiche über die schmerzende Stelle. Derweil strafft Ashley die Schultern und plustert ihre Haare auf. Sie fährt sich mit dem Finger über die Schneidezähne, um sich davon zu überzeugen, dass sie nichts darin hängen hat, und lächelt besonders breit. Als ich ihrem Blick folge, entdecke ich Ian in der Mikrowellenschlange. Es sieht so aus, als hätte er auch Spaghettireste mitgebracht. Das passiert, wenn man fast jeden Abend das Gleiche isst.
»Ist er Lehrer?«, fragt sie aufgeregt und außer Atem. Sie klingt, als hätte sie eine Hitzewallung.
»Das ist bloß Ian.«
Bloß Ian ist die Untertreibung des Jahrhunderts, und Ashley weiß es. Er sieht aus wie ein Hollywood-Schauspieler, der einen normalen Lehrer zu verkörpern versucht, und das macht er nicht mal besonders gut. Ihr Blick fällt auf mich, und sie runzelt die Stirn, zutiefst verwirrt, wie ein so attraktiver Mann wie er mit einem Attribut wie »bloß« versehen werden kann.
»Kennen Sie ihn?«
»Ja. Er und ich sind gute Freunde.« Beste Freunde.
»Ah, okay.« Ihr Lächeln wird noch breiter, was mir Bauchschmerzen verursacht. »Das heißt also, er ist Single?«
Nein! Nein. Nee. Nö.
Ich senke den Blick auf den Tisch und presse die Wahrheit heraus. »Ja.«
Eine Schallplatte kommt kratzend zum Stillstand, als sich alle Blicke auf mich richten. Gabeln halten auf halbem Wege zu Mündern inne. Augen werden groß. Vögel drehen sich nach mir um und krachen gegen Gebäude.
Neben mir wird ein Stuhl zurückgeschoben, und als ich einen Blick über meine Schulter werfe, sehe ich, dass das Neuntklässler-Quartett zu mir herüberstarrt. Das ist die erwachsene Version der Clique der beliebtesten Schülerinnen – die Lehrerinnen, die für das Cheerleader- und Drillteam-Programm an der Oak Hill zuständig sind. Außerdem haben sie noch nie eine Botox-Spritze getroffen, die sie nicht sympathisch fanden.
Ihre Anführerin Bianca mit ihren Wimpernverlängerungen beugt sich näher zu mir und zischt: »Warte, ich dachte, du und Ian seid schon … ewig zusammen?«
In Sorge, dass er dieses Gespräch mitbekommt, drehe ich mich zu ihm. Zum Glück hat die Sportlehrerin ihn drüben an der Mikrowelle in ein Gespräch verwickelt. Sie ist die einzige Frau, die ich je gesehen habe, die es auf dem Gebiet der Körpergröße mit ihm aufnehmen kann.
»Genau. Was meinst du damit, er ist Single?«, schaltet sich ihre Lakaiin Gretchen ein. »Ihr seid doch schon seit Jahren zusammen!«
»Was?« Ich schüttele entschieden den Kopf. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. »Nein.«
»Ernsthaft?«
»Wir dachten alle …«
Offensichtlich gab es, was uns betrifft, ein Missverständnis. Weil wir befreundet sind und so viel Zeit miteinander verbringen, gehen alle davon aus, dass wir ein Paar sind. Der Gedanke, dass dieses Gerücht Ian zu Ohren gekommen sein könnte, entsetzt mich. Wenn er nun glaubt, dass ich es befeuert habe?
»Nein, nein, Ian und ich sind nur Freunde.«
Verblüffung schlägt um in zufriedenes Grinsen. Meine Worte wirken wie eine geschwenkte Startflagge. Das Rennen ist eröffnet.
Wenige Minuten später gesellt sich Ian zu uns, und ich wünschte, Ashley würde verschwinden, damit wir uns unter vier Augen unterhalten können. Ich muss ihm erzählen, was passiert ist, und dafür sorgen, dass er die Wahrheit erfährt. Ich habe nie irgendjemandem erzählt, dass wir zusammen seien. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Gerücht zustande kam.
Ashley, deren Haare wie Sonnenlicht glänzen, stellt sich ihm vor. »Ich werde ein paar Monate hier arbeiten. Ich vertrete Mrs. Baker, solange sie im Mutterschutz ist.«
»Cool. Nett, Sie kennenzulernen. Sam, was für ein Tauschpaket kann ich dir für die Schokolade schnüren? Ich hab sie heute wirklich nötig.«
»Was? Ach ja.« Ich schiebe die zerknitterte Verpackung auf seine Tischseite. »Die kannst du haben.«
»Echt? Ich bin gewillt, mich von diesen Cheez-Its zu trennen – die magst du doch am liebsten.«
Mir ist der Appetit vergangen, und ich kann ihn nicht ansehen. Stattdessen schüttele ich den Kopf und konzentriere mich auf meine Spaghetti. »Danke, aber ich hab nicht so großen Hunger. Nimm sie einfach.«
»Woher kommen Sie, Ian?«, fragt Ashley mit hochgejazzter Begeisterung.
»Von hier. Sam, warum bist du so komisch?«
Ich lache eine Oktave zu hoch, nach dem Motto: Hahaha, was um alles in der Welt meinst du damit? Ich weiß, dass ich ihm in die Augen sehen muss, um es glaubhaft leugnen zu können. Mein Blick huscht von meinen Spaghetti zu Ashley, zur Decke, zu Ian und zurück zu meinen Spaghetti. Da. Alles in Ordnung.
»Ein Junge von hier, wie cool!«, antwortet Ashley. »Ich bin etwa eine Stunde von hier entfernt aufgewachsen, in einer Kleinstadt namens Frisco.«
»Du rührst dein Essen kaum an«, wundert sich Ian.
Ich inhaliere einen Mund voll Spaghetti, um ihn Lügen zu strafen. Ich kaue und kaue, aber das Essen bleibt mir im Halse stecken. Daher bin ich gezwungen, es mit einer spektakulären Menge von Ians Wasser runterzuspülen.
Ashley quatscht immer weiter und kriegt gar nicht mit, dass niemand sie beachtet. »Ja, Frisco ist in Ordnung, aber in Oak Hill ist es viel schöner. Vielleicht können Sie mich irgendwann einmal herumführen. Was unterrichten Sie denn?«
»Chemie.«
Sie legt die Hand auf seinen Arm. »Nein! Das war am College mein Lieblingsfach.«
Am liebsten würde ich sie bitten, ein einziges chemisches Element aus dem Periodensystem zu nennen. Nur eins. Außerdem würde ich ihr für mein Leben gern mit meiner Gabel in den Handrücken stechen.
Ein Schatten fällt über unseren Tisch, und als ich aufblicke, sehe ich das Neuntklässler-Quartett, dessen Mitglieder sich drohend wie Vampire vor uns aufbauen. Sie lächeln Ian an und zeigen ihre Reißzähne, bereit zum Blutsaugen.
»Ian! Hi!«, flötet Bianca, als wären sie alte Freunde, die ständig miteinander reden. »Wir haben uns gefragt, wann dein nächstes Fußballspiel ist.«
Von der Frage höchst irritiert, runzelt er die Stirn. »Nächsten Donnerstag.«
Bianca klatscht in die Hände. »Nein! Das ist perfekt. An dem Tag haben wir weder Cheerleading- noch Tanztraining.«
»Wir sitzen auf der Tribüne! Halt Ausschau nach uns!«, verkündet Gretchen einen Tick zu enthusiastisch.
Bianca stößt sie mit dem Ellbogen aus dem Weg und lächelt.
»Fußball? Sind Sie Trainer?«, fragt Ashley.
Biancas Blick landet auf ihr. »Und wer sind Sie?«
»Ach, ähm, ich bin Ashley, Mrs. Bakers neue Vertretung.«
»Seit wann dürfen Vertretungslehrer in den Pausenraum? Aber egal. Ian, gib uns Bescheid, wenn die Mannschaft eine kleine Stärkung braucht. Wir können diese kleinen Orangenscheiben und Gatorade mitbringen.«
»Ich bringe hausgemachte Müslikugeln mit!«, bietet sich Gretchen an.
»Sei nicht so aufdringlich, Gretchen«, zischt Bianca.
Der Rest der Mittagspause ist eine totale Katastrophe. Ian kommt kaum zum Essen, weil er von allen Seiten von alleinstehenden weißen Frauen bedrängt wird. Ich dachte immer, die Vorstellung, dass ein Typ Frauen mit einem Stock verscheuchen muss, sei übertrieben, aber Ian sieht aus, als könnte er einen Besen gebrauchen. Er tut mir richtig leid, aber ich mir selbst noch mehr. Vor dieser Mittagspause köchelte Ians Beliebtheit auf niedriger Flamme. Die Frauen rangelten sich trotzdem um ihn, aber es blieb auf normalem, maßvollem Niveau. Jetzt wird mir klar, es lag daran, dass sie davon ausgingen, er sei vergeben. Und ich in meiner Dummheit hätte genauso gut ein Zu-verkaufen-Schild über sein rechtes Grübchen kleben können.
Was zum Teufel habe ich angerichtet?