Kapitel 7

Sam

Es ist der Morgen nach dem Telefonat, und ich habe eine Art posttraumatische Belastungsstörung. Ich nehme Ians Weckanruf nicht entgegen, hauptsächlich weil ich ihn nicht benötige. Ich bin schon auf und verquirle in meiner Küche Eier. Auf meiner Theke habe ich Schinkenspeck, frische Blaubeermuffins, Obststückchen, Kaffee und Orangensaft aufgereiht. Ich sehe aus wie eine Mom in einer Sitcom. Jeden Moment wird ein Teenager mit vom Schlaf verwuschelten Haaren hereinschlendern. Ich werde ihn auffordern, sich in Ruhe hinzusetzen und zu frühstücken, und er wird genervt murmeln: Mom, ich komme zu spät in die Schule! Und während er zur Tür geht, werde ich ihm einen Müsliriegel an den Hinterkopf werfen.

Das viele Essen habe ich, weil ich gleich nach dem Aufwachen beschlossen habe, dass ich ein herzhaftes Frühstück brauche. Ich muss mich für den bevorstehenden Tag stärken. Bloß keine Unterzuckerung riskieren, nicht, wenn ich vorhabe, dieser neuen Version von Ian ein starker Gegenpol zu sein. Ian 2.0: erotischer Teufel, heiserer Telefonsex-Telefonist.

Gestern Abend habe ich mich von ihm in ein schräges Szenario locken lassen, in dem wir nicht mehr Ian und Sam, beste Freunde, waren. Es war ein Rollenspiel: Ian und Sam, geile Teenager.

Ich wünschte, ich könnte in der Schule anrufen und mich für einen Tag freistellen lassen, aber Lehrer bekommen nicht gerade viele Krankentage zugestanden. Ich weigere mich, einen davon zu vergeuden, nur weil ich Angst habe, Ian gegenüberzutreten. Dass er Angst hat, mir gegenüberzutreten, bezweifele ich allerdings. Nein, nicht nach der Nachricht, die er mir gestern Abend noch geschickt hat. Es ist klar, dass er derjenige ist, der alle Karten in der Hand hält.

Ich rufe die Textnachricht noch einmal auf, nur um mich zu vergewissern, dass es kein Traum war.

Ja, da ist sie.

Ich erschaudere, sperre meinen Bildschirm und schaufele mir weiter Essen in den Mund.

Mein Outfit habe ich strategisch ausgewählt. Eine Stunde später, als ich in die Schule schlendere, trage ich ein Kleid, das problemlos als Kostüm bei einem historischen Reenactment der Landung der Pilger bei Plymouth Rock getragen werden könnte. Das schwarze Kleidungsstück ist so lang, dass es mir bis zu den unteren Waden reicht, und bis zum Hals zugeknöpft. Das mit Rüschen besetzte Revers verleiht dem Ganzen einen hübsch kolonialen Touch. Normalerweise ziehe ich es zu Beerdigungen an, was mir nur angemessen erscheint, weil gestern Abend mein altes Leben mit Ian begraben wurde.

Lehrerkollegen halten mich auf dem Flur an und fragen, ob wir heute in Verkleidung hätten kommen sollen. »Mist, heute ist doch nicht ›Verkleide-dich-wie-eine-literarische-Figur-Tag‹, oder?« Das ist nicht einmal scherzhaft gemeint; sie sind aufrichtig verwirrt. Ich beschließe, dass es vertretbar ist, ein paar Knöpfe zu öffnen. Jetzt ist mein Dekolleté zwar immer noch völlig verdeckt, aber die Durchblutung in meinem Hals ist wiederhergestellt.

Als ich in meinen Klassenraum einbiege, entdecke ich Ian, der auf mich wartet. Er sitzt auf meinem Stuhl und hat die Füße auf dem Lehrertisch hochgelegt. Ich erschrecke mich zu Tode. Meine Tupperdose fällt zu Boden, und der Deckel springt ab. Muffins rollen in alle Richtungen.

»Herrgott, Ian!«

Er antwortet seelenruhig und gelangweilt: »Komisch, dasselbe hast du gestern Abend gesagt.«

Ich reiße entsetzt die Augen auf und sehe mich hektisch auf dem Gang um.

»So was kannst du nicht sagen! Spinnst du?!«

Ich knie mich hin und fange an, Muffins zurück in die Tupperdose zu schaufeln. Ian macht sich nicht die Mühe, mir dabei zu helfen, und sieht nur mit einem amüsierten kleinen Lächeln zu.

Als ich wieder aufstehe, deutet er mit dem Kinn auf mich. »Was für ein Kleid! Hast du das für mich angezogen?«

»Fragst du mich, ob ich seit unserem Telefonat an dich gedacht habe? Denn nein, das hab ich nicht. Ich hab vergessen, dass du existierst.«

»Du siehst aus wie eine American-Girl-Puppe namens Chastity.«

»Und du siehst aus, als würdest du unrechtmäßig hier eindringen. Was suchst du in meinem Klassenraum?«

Er steht auf, kommt auf mich zugeschlendert und greift um mich herum, um die Tür zu schließen.

Alarmglocken schrillen, weil er mich an der Tür in die Enge getrieben hat und weil er sie überhaupt zumachen will. Ich greife hinter mich und drehe am Türknopf, aber er legt die Hand neben meinem Kopf an das Holz und hält die Tür zu.

In Zeitlupe hebe ich den Blick und sehe in ein Paar vertrauter blauer Augen, die vollkommen unvertraute Sachen mit meinem Körper anstellen. Mein Magen zieht sich zusammen. Meine Fäuste sind geballt, meine Zähne zusammengebissen. Alles ist steif und angespannt. Wenn ich so weitermache, könnte meine Milz reißen.

Ich glaube, er will da weitermachen, wo wir gestern Abend aufgehört haben. Mein Verdacht erhärtet sich, als er näher tritt und unsere Körper sich fast berühren.

Gott, er ist wirklich groß und einschüchternd. Dass ich nie mit Männern ausgegangen bin, die so groß sind wie er, hat einen Grund. Er ist das Pferd, und ich bin der Jockey – nur dass Jockeys mit Helmen und Peitschen ausgestattet sind. Ich habe nichts, um mich gegen ihn zu wehren, nur Muffins.

Er nimmt die Hand von der Tür, und ich schließe die Augen.

Ich bin total irrational. Das weiß ich, aber wie gesagt, seine Größe schüchtert mich ein. Ich hätte mich heute Morgen für Plateau-High-Heels entscheiden sollen, vielleicht sogar für Stelzen. Selbst ein Springstock würde es mir erlauben, zumindest Millisekunden mit ihm auf Augenhöhe zu sein.

Etwas stößt an meine Brust, und nach allem, was ich weiß, könnte es eine Bombe sein. Sekunden könnten herunterticken, und wir könnten beide explodieren. Ich finde den Gedanken reizvoll – das würde mich von meinen Qualen erlösen.

»Mach die Augen auf, Sam.«

Sein Ton ist spöttisch und unbefangen. So hat Ian 1.0 immer geklungen. Deshalb öffne ich erst ein Auge, dann das andere und sehe an mir herunter.

Er drückt mir eine blaue Gatorade-Flasche an die Brust.

Einen unschuldigen kleinen Sportdrink.

»Entspann dich.«

»Du willst mich nicht küssen?«

»Soll ich das denn?«

Ich halte den Blick auf die Flasche gerichtet. »Ich weiß nicht. Ich spüre meine Füße nicht, und die erste Stunde fängt gleich an.«

Er tritt kopfschüttelnd zurück. »Trink das aus. Du siehst durstig aus. Weißt du nicht mehr? Die erste Stunde fällt heute aus. Wir müssen gleich den Aufklärungskurs geben.«

Alle Elft- und Zwölftklässler füllen die Ränge in der Sporthalle. Ian und ich stehen etwas abseits und warten darauf, vom Schuldirektor vorgestellt zu werden. Das wird ein totales Desaster. Auf dem Weg hinein sollten die Schüler anonym ihre Fragen zur Sexualkunde in einen Schuhkarton werfen, den ich jetzt in meinen Armen halte. Er ist schwer. Diese Jugendlichen sind neugierige kleine Mistkerle.

»Hast du den Penis?«, fragt mich Ian.

Ich halte die Banane hoch. Sie ist eine Woche alt und gesprenkelt. Ehrlich gesagt, sieht sie ziemlich ekelhaft aus. Vielleicht verwende ich sie auch gleich dazu, die Gefahren sexuell übertragbarer Krankheiten zu demonstrieren.

»Hast du das Kondom?«

Er zieht es aus seiner Gesäßtasche. Die Worte Magnum und Gerippt für ihr Vergnügen springen mir ins Auge wie eine blinkende Leuchtreklame.

»Du machst Witze.«

Er wirkt verwirrt.

»Stammt das aus deiner Reserve?«, frage ich und klinge wie ein Idiot.

»So war’s doch verabredet.«

Mir bleibt keine Zeit, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen, denn übers Mikrofon werden unsere Namen angesagt, und wir betreten unter Applaus und lautem Gejohle das Basketballfeld. Es dauert Minuten, bis endlich alle still sind und uns zuhören.

Die erste Hälfte des Kurses verläuft strikt nach dem Lehrplan. Schuldirektor Pruitt hatte uns gebeten, einen Überblick über die häufigsten Geschlechtskrankheiten und ihre Übertragungswege zu geben, während ein Projektor hinter uns begleitend dazu eine Diashow präsentiert. Bei jeder neuen Aufnahme wird aufgestöhnt. Augen werden sich zugehalten. Ein Schüler fällt in Ohnmacht und muss ins Krankenzimmer gekarrt werden.

»Eklig!«, ruft ein Mädchen in der ersten Reihe.

»Allerdings«, antworte ich ernst. »Neurosyphilis ist eklig und tödlich. Und das bringt uns zum nächsten Teil unseres Kurses: einer Vorführung, wie man ein Kondom richtig anwendet. Ian, das Verhütungsmittel, wenn ich bitten darf.«

Er schüttelt lächelnd den Kopf und reißt die Präservativverpackung auf, während ich die Banane vor mir ausstrecke. Ich lasse ihn erklären, wie man das Kondom am besten abrollt, da er damit natürlich mehr Erfahrung hat als ich, worüber ich nicht weiter nachzudenken versuche. Danach nimmt uns Schuldirektor Pruitt die Banane ab und zeigt sie in der Sporthalle herum, damit alle sie sehen können.

Als Nächstes widmen wir uns den Fragen im Schuhkarton. Ian greift hinein, holt je einen zusammengefalteten Zettel heraus und reicht ihn mir. Dann lese ich jeden einzelnen laut vor.

Ich hatte auf sehr reife Fragen gehofft, bekomme aber keine einzige.

»Wie groß ist ein Penis im Durchschnitt?«, lese ich vor, was im Publikum Gekicher provoziert. »Nun ja … warum beantwortet Ian das nicht?«

Er ist kein bisschen verlegen, als er selbstbewusst antwortet: »Jungs, macht euch darüber nicht zu viele Gedanken. Die meisten Frauen tun es auch nicht. In der Populärkultur wird ein großes Ding daraus gemacht, aber die überwiegende Mehrheit von euch wird gegen Ende der Pubertät irgendwo bei fünfzehn Zentimetern landen.«

Er dreht sich wieder zu mir, und meine Augen fragen: Was ist mit dir, Mr. Magnum?

Er seufzt und greift nach der nächsten Frage.

Ich begehe den entscheidenden Fehler, sie vorzulesen, bevor ich sie erst selbst überflogen habe. »Mrs. A. ist heiß und …« Meine Stimme erstirbt, während ich den Zettel zusammenknülle. »Okay. Sehr witzig. Ian, nächste Frage.«

Er reicht mir rasch einen neuen Zettel, während er den Jungs im Publikum einen drohenden Blick zuwirft.

»Kann eine Frau beim Sex mehr als einen Orgasmus haben?«, lese ich laut vor. Diese Frage finde ich sehr persönlich, und ich hasse es, dass ich erröte, während ich antworte: »So spontan würde ich sagen Ja.«

Ich hake die Frage schnell ab und greife hastig nach dem nächsten Zettel, wobei ich Ians frechem Blick ausweiche.

»Kann man beim Trockensex mit Nike-Shorts schwanger werden?« Ich verziehe das Gesicht und wende mich an Ian. »Ich glaube nicht … Aber sie sind recht durchlässig, nicht?«

Ian stöhnt und reißt mir den Zettel aus der Hand. Dann beugt er sich vor und spricht ins Mikro: »Nein. Nein, kann man nicht. Trotzdem, benutzt ein Kondom – Problem gelöst.«

Als wir drei Viertel der Fragen beantwortet haben, blicke ich auf und sehe einen Jungen in der ersten Reihe, der verstört wirkt. Seine Augen nehmen die Hälfte seines Gesichts ein.

»Oh, Mist«, fluche ich halblaut. »Hey, Johnny, kannst du rausgehen und dich in den Flur setzen? Deine Mom hat die Einverständniserklärung hierfür nicht unterschrieben.«

Schuldirektor Pruitt kommt angestürmt, um ihn hinauszukomplimentieren. »Vergiss einfach alles, was du heute gesehen hast, Kumpel.«

Wir haben zweifellos bleibende Schäden verursacht, bei den Kids und bei uns selbst.

Nach einer weiteren halben Stunde andauernder Folter, während der ich mehr schlecht als recht Fragen beantworte, sind wir fertig, und Ian bringt mich zurück in meinen Klassenraum.

Da es nichts zu sagen gibt, schweigen wir.

Wir sind allein im Gang. Die Schuhschachtel mit den übrig gebliebenen Fragen drücke ich an meine Brust.

Ich hab keine Ahnung, worüber wir früher immer gesprochen haben. Hatten wir jemals Gemeinsamkeiten, oder war das nur Einbildung? Mir fällt absolut nichts ein, was ich zu ihm sagen könnte, wobei es nicht um Gatorade oder unser Telefonat von gestern Abend geht. O Mann.

»Was für ein schöner Frühlingstag«, sage ich wehmütig.

Wir kommen an einem Fenster vorbei und sehen, dass es draußen schüttet. Äste werden hin und her gepeitscht. Ein kleiner Tornado wirbelt schreiendes Vieh hierhin und dorthin.

»Jap. Schön«, sagt Ian mit einem wissenden Lächeln.

»Na schön, okay, schweigen wir einfach weiter. Das ist einfacher.«

»Ich gebe dir nur Zeit, dich zu beruhigen.«

»Mich zu beruhigen? Beruhigen?!«

Er fängt meinen Blick auf und zieht eine Augenbraue hoch. Na schön. Wenn wir an einem Spiegel vorbeikämen, würde mein Spiegelbild mich sicherlich entsetzen. Meine Haare stehen mir bestimmt zu Berge, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Ich habe Schatten unter meinen aufgerissenen Augen. Ich bin nur Minuten davon entfernt, in eine Gummizelle gesteckt zu werden.

»Das gestern Abend war wahrscheinlich hart für dich«, fährt er fort.

Ja, Telefonsex ist eine so aufreibende Erfahrung. Allein der Gedanke daran ermüdet mich.

»Und ich weiß, dass du gern so tun würdest, als sei nichts passiert, damit wir weitermachen können wie bisher …«

Ja, ja. Ich drücke Daumen und Zehen und hoffe, dass er gleich das sagt, womit ich rechne.

»Als Freunde.«

Genau.

Wie Chandler von Friends sagen würde: Das wäre perfekt.

»Aber …«

»Samantha! Hallo, Sam! Warte!«

Als wir uns synchron umdrehen, kommt Logan im Laufschritt über den Gang auf uns zu.

»Hallo«, begrüßt er mich, bleibt stehen und stemmt die Hände in die Hüften. Er atmet nicht mal schwer. Wenn ich versuchte, über den Gang zu joggen, bekäme ich Seitenstiche.

»Ach, hallo, Logan. Was gibt’s?«

»Nicht viel. Was geht, Ian?«

Ian knurrt angriffslustig. Ich runzele die Stirn und will seinen Blick auffangen, aber Logan spricht zuerst.

»Ich habe mich gefragt, ob du schon die Gelegenheit hattest, mein kleines … Gedicht zu lesen?«

Ich verziehe verwirrt das Gesicht. »Gedicht?«

Er grinst, und er ist nicht so ein Quasimodo, wie ich dachte. Er hat schöne Arme, ein freundliches Lächeln und einen frischen Haarschnitt. »Ja, das war bei dem Teddybären … für die Chorspendenaktion?«

Ich hab nur rote Rosen bekommen, keine Bären. Auf die hat Ian das Monopol.

»Tut mir leid, Logan, ich hab kein Gedicht bekommen.«

»Sam, wir sollten jetzt los«, mischt sich Ian ein. »Sonst kommen wir zu spät zur nächsten Stunde.«

Logan zuckt gutmütig mit den Achseln. »Dann ist es wahrscheinlich mit den ganzen anderen verloren gegangen. Nach allem, was ich so höre, hast du in diesem Jahr eine ganze Menge Bewunderer.«

Wovon um alles in der Welt spricht er?

»Oh … ähm, hm.«

Ist ihm klar, dass ich den morgigen Tag allein verbringe? Dass ich einen Highschoolball beaufsichtige? Ich könnte mit Leichtigkeit den Weint-sich-am-wahrscheinlichsten-in-den-Schlaf-Wettbewerb gewinnen.

»Aber davon lasse ich mich nicht abschrecken.« Er grinst. »Hast du deine Haare heute anders gestylt? Sieht toll aus.«

Überrascht von dem süßen Kompliment, berühre ich die losen, welligen Strähnen.

»Musst du nicht irgendwo hin, Logan?«

Er lacht, weil er Ians Frage offenbar für Höflichkeit hält. »Das ist meine Freistunde. Also, Sam, falls du morgen …«

Er verstummt, als er Ians Blick auffängt. Etwas darin mahnt ihn, zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören.

»Morgen?«, souffliere ich ihm.

»… Zeit hast.«

»Hat sie nicht«, sagt Ian scharf.

Ich ziehe eine Grimasse. »Vormittags muss ich beim Jahrmarkt helfen und später den Schulball beaufsichtigen.«

Er schaukelt auf seine Fersen zurück. »Ah, alles klar.«

Mir bricht es das Herz. Er hatte immerhin den Mut, mich in Ians Anwesenheit einzuladen, und ich will ihm nicht eine komplette Abfuhr erteilen. »Aber vielleicht am Sonn…«

Ian schlingt den Arm um meine Schulter und führt mich über den Gang weg. »Sag jetzt tschüss, Logan.«

»Ähm. Äh … tschüss. Wartet!« Ian wartet nicht. »Okay! Wir sprechen uns später, Sam. Vielleicht können wir einen anderen Termin finden?!«

Ich habe keine Chance, zu antworten, weil Ian um die Ecke biegt und mich mit sich zerrt.

Als wir außer Hörweite sind, entwinde ich mich aus Ians Griff.

»Was zum Teufel sollte das?«

Er schüttelt den Kopf und dirigiert mich in mein Klassenzimmer. Zum zweiten Mal heute schließt er die Tür hinter sich. Wir sind allein, und er läuft auf und ab wie ein Löwe in Gefangenschaft. Ich habe das Bedürfnis, zu fliehen. Am liebsten würde ich ein Fenster zerschlagen und den Kopf rausstrecken, um frische Luft einzuatmen. Der Regen würde mir ins Gesicht prasseln, aber das wäre es mir wert.

Stattdessen gehe ich an meinen Tisch, drehe mein Gatorade auf und trinke einen großen Schluck. Als ich schlucke, fällt mir etwas ein.

»Glaubst du, er hat mir wirklich einen Teddy geschickt, der unterwegs verloren gegangen ist?«

Schweigen.

»Ian?«

»Möglich. Du weißt doch, wie diese Chor-Kids sind.«

Nein, weiß ich nicht. Will er damit andeuten, dass sie kriminell sind? Sie bingewatchen Glee und singen A-capella-Versionen von Taylor-Swift-Songs. Sie sind harmlos.

»Deine Bären scheinen alle rechtzeitig angekommen zu sein«, sage ich.

»Hm.«

Er tigert immer noch auf und ab.

»Du verhältst dich merkwürdig. Was verschweigst du mir?«

Er dreht sich zu mir und stemmt die Hände in die Hüften. Ich wünschte, er würde das lassen. Das ist seine Superman-Pose, und heute, mit seinem gebügelten weißen Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat, und mit seiner schwarzen langen Hose ginge er leicht als Mr. Kent durch.

»Das ist nicht wichtig. Du wirst lachen, wenn ich es dir erzähle.«

Das heißt, das werde ich ganz sicher nicht.

»Wenn du mir was erzählst?«

Seine Augen verengen sich, und er sieht aus dem Fenster hinter mir. Sein Gesichtsausdruck ist hart, als er antwortet: »Ich habe einen der Chorjungs bestochen, deine Geschenke abzufangen und sie stattdessen mir zu bringen.«

Was. Zum. Teufel.

»Warum?«

Vielleicht habe ich seinen angeblichen Teddyfetisch nicht ernst genug genommen. Wie sicher kann ich mir sein, dass er diese Säcke wirklich dem Kinderkrankenhaus gespendet hat? Er könnte sie in seinem Wandschrank versteckt haben, als winzigen Plüsch-Lustschrein.

»Warum nicht?« Von meinem Ärger unbeeindruckt, zuckt er mit den Schultern. »Vielleicht fand ich, dass du Logans grauenhafter Schreibkunst nicht ausgesetzt werden solltest.«

»Und jetzt die ehrliche Antwort.«

»Das ist die ehrliche Antwort. Sein Gedicht war scheiße und seine Handschrift sogar noch schlimmer – eigentlich nur Gekritzel.«

»Jetzt hör auf.« Ich bin sauer – stinksauer. »Ich fasse es nicht. Ich hab mich in den letzten zwei Wochen beschissen gefühlt, weil du haufenweise Geschenke bekamst und ich so gut wie nichts. Ich kam mir vor wie der letzte Loser.«

»Sam …«

Er versucht, näher zu treten, doch ich hebe abwehrend die Hand. Im Grunde weiß ich, dass es ein sinnloses Unterfangen ist. Wenn er mir nahe treten wollte, würden meine Arme einknicken wie Spaghetti.

»Sam … Samwich … Sam and cheese.« Jeder meiner Spitznamen zerreißt mir das Herz. Er beugt sich zu mir, sodass sein Gesicht direkt vor meinem ist. »Ich hab es getan, weil es an der Zeit ist, dass du und ich damit aufhören, um das Offensichtliche herumzutänzeln, diese Sache zwischen uns.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Du hast recht. Ich will mich klar ausdrücken.«

Seine blauen Augen glimmen, und mir jagt ein Funke aus Angst über den Rücken.

»Ähm … Könntest du mir nicht einfach nur die Hand schütteln, dich umdrehen und es gut sein lassen?«

Er runzelt die Stirn. »Wovor hast du Angst?«

Ich winke ab. »Ach, vor einer Menge Sachen. Das Übliche: Spinnen, Kakerlaken, Gespenster. Außerdem davor, meinen besten Freund zu verlieren, weil er findet, wir sollten Sex haben.«

»So ist es nicht.«

Seine Seelenruhe erzürnt mich. »Wie würdest du denn unser Telefonat von gestern Abend bezeichnen? Als harmlosen Plausch?«

»Als das genaue Gegenteil. Hör zu, wir werden nicht diese Freunde-mit-gewissen-Vorzügen-Nummer abziehen. Wir werden nicht nur unverbindlichen Sex haben.«

»Natürlich. Warum sollten wir? Das klingt viel zu einfach.«

»Wenn du bereit dafür bist, werde ich dich um eine Verabredung bitten.«

»Eine Verabredung?! Momentan will ich mit dir nicht mal als Freund abhängen! Du hast meine Teddys und meine Blumen geklaut!«

»Nein. Erinnerst du dich?« Jetzt klingt auch er verärgert. »Die Blumen hab ich dir gegeben.«

Stimmt, aber sie haben mich vor Eifersucht so sehr zur Weißglut gebracht, dass ich sie weggeschmissen habe. Und jetzt bin ich noch wütender auf ihn.

Ich stoße mit dem Finger gegen seine Brust, und seine harten Muskeln verursachen einen Riss in meinem Fingerknochen. Toll, nun hab ich mir wahrscheinlich was gebrochen.

»Jetzt versuch nicht, dich mit einer Formalie rauszureden, du Arsch.«

Er packt meine Hand, sodass ich sie nicht wegziehen kann. Wir könnten genauso gut im 19. Jahrhundert leben, denn dass er meine Hand berührt, fühlt sich unanständig und intim an. Sind die Nerven in der Hand etwa mit dem Unterleib verbunden?

»Ich kaufe dir eine Million Teddybären, wenn es das ist, was du willst.«

Na schön, konzentrieren wir uns auf das wahre Problem. Er hat mich verraten und angelogen, und worüber bin ich wütend? Über den nicht zu übersehenden Mangel an Billigladen-Bären.

»Nein! Diesen … Diesen Betrug kannst du mit nichts wiedergutmachen!«

Sein Mundwinkel verzieht sich nach oben. »Sei nicht so dramatisch.«

»Lass mich los.«

Er tritt zurück und kneift sich in den Nasenrücken, als versuchte er, nicht zu lachen – oder zu schreien.

»Du brauchst offenbar etwas Zeit. Willst du morgen früh mit mir zum Jahrmarkt radeln?«

»Auf keinen Fall.«

Er tritt zurück und geht zur Tür. »Dann sehen wir uns morgen dort.«

Ja! Und ob wir das werden!