Sam
Ich kann nicht aufhören, Ian anzuschauen. Wir sprechen nicht mal miteinander. Er hat seinen Platz ganz hinten in der Cafeteria am Bowletisch eingenommen, während ich am anderen Ende des Raumes stehe und mir ein Fernglas herbeiwünsche, um jeden appetitlichen Zentimeter von ihm inspizieren zu können.
»Ms. Abrams, Sie sehen heute Abend strahlend aus.« Das ist mein Schüler Nicholas, der versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Sie wissen schon, wie Wilbur in Wilbur und Charlotte – ich will damit nicht sagen, dass Sie wie ein Schwein aussehen, es ist nur … ach egal. Hey, wäre es zu dreist von mir, Sie um den nächsten Tanz zu bitten?«
Ich schiebe ihn ein paar Zentimeter nach rechts, damit ich über seine Schulter weiter Ian ansehen kann. »Ja, klar, Nicholas. Das ist großartig.«
Er kreischt vor Freude. »Ist das Ihr Ernst?!«
O nein. Ich richte den Blick auf ihn und sehe, dass ihm Tränen in die Augen steigen. Was habe ich angerichtet?
»Nicholas, Himmel, nein. Entschuldige, ich war abgelenkt. Natürlich kann ich nicht mit dir tanzen. Ich bin Lehrerin. Schuldirektor Pruitt würde es nicht erlauben.«
Nicholas ballt entschlossen die Fäuste und macht auf dem Absatz kehrt. Ich glaube schon, dass ich ihn für den Rest des Abends los bin, bis ich ihn drüben bei Schuldirektor Pruitt stehen sehe und sie sich beide in meine Richtung drehen. Nicholas hat die Hände wie zum Gebet vor der Brust gefaltet, während Schuldirektor Pruitt ihm lachend auf die Schulter klopft. Dann sieht er zu mir herüber und gibt mir das Daumen-hoch-Zeichen. Na prima, abgesegnet – genau das, was ich wollte.
Gegen Ende des nächsten Songs kommt Nicholas zu mir. Erst jetzt fällt mir auf, dass er eine Fliege und eine schicke Brille trägt, die er sich für besondere Gelegenheiten aufzuheben scheint. Es ist eine Hornbrille. Das Revers seines Smokings schmückt eine Ansteckblume. Die meisten anderen Schüler haben nur Jeans an. Mir gefällt, dass er sich solche Mühe gegeben hat, und als wir auf die Tanzfläche treten, sage ich ihm das auch.
»Du siehst heute Abend so … elegant aus, Nicholas.«
»Finden Sie wirklich?«
»Natürlich.«
»Denn ich dachte mir … Ich weiß, Sie sind zehn Jahre älter als ich, aber vielleicht nach …«
»Nein.«
»… meinem Abschluss. Wir könnten …«
»Nicholas.«
»… ein Paar werden.«
Ich seufze schwer. »Nicholas, das ist nur ein Tanz. Ich bin deine Lehrerin, und auch wenn meine Arbeit manchmal anstrengend ist: Weißt du, was schlimmer ist, als sich mit Zwölftklässlern rumzuärgern, die sich längst ausgeklinkt haben und denen Englisch total egal ist? In den Knast gehen. In den Knast gehen ist schlimmer.«
Er lässt sich nicht abschrecken. »Schon verstanden. Ich höre Sie klar und deutlich. Wir kommen auf das Thema zurück, wenn ich volljährig bin.«
Ich seufze und gebe mich dem Moment hin. Damit schade ich niemandem, und Nicholas ist so verdammt glücklich, mit mir auf der Tanzfläche zu sein. Was soll’s, dass er dreiundvierzig Kilo wiegt und siebzehn Jahre alt ist. Er mag mich! Er hat mich zum Tanzen aufgefordert, was mehr ist, als ich von Ian behaupten kann – der im Übrigen immer noch dort drüben mit ein paar anderen Aufsichtspersonen plaudert und sich nicht die Mühe macht, zu mir zu schauen.
Wir haben den ganzen Abend nicht miteinander geredet.
Wir sind getrennt hergefahren.
Als ich vorhin ankam, hat Schuldirektor Pruitt mir die linke Seite der Cafeteria zugewiesen. Ian war schon auf seinem Posten am anderen Ende am Bowletisch. Ich habe mein Handy und meine Handtasche in meinem Klassenzimmer geparkt und nicht daran gedacht, Walkie-Talkies mitzubringen, weshalb wir bisher nicht miteinander kommunizieren konnten. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm überhaupt klar ist, dass ich hier bin. Das weiß ich, weil ich ihn 99 Prozent des Abends nicht aus den Augen gelassen habe. Ich kann nicht anders. Im schwarzen Anzug sieht er heute Abend umwerfend aus. Er hat sich die Zeit genommen, seine schokoladenbraunen Haare auf lässig-elegant zu stylen, wie ich es bei ihm noch nie gesehen habe. Normalerweise dürfen die kurzen, leicht gewellten Strähnen machen, was sie wollen. Er sieht süß aus, wie kurz nach dem Aufwachen, der Stoff, aus dem feuchte Träume sind. Doch heute Abend ist er der Meinung, dass wir uns noch nicht genug gequält haben. Mit dem Anzug, der Frisur und dem schwelenden Blick will er alles noch schlimmer machen. O ja, er hat noch einen Zacken zugelegt. Seine blauen Augen glänzen wie Saphire unter seinen dunklen Brauen. Seine scharfen Wangenknochen könnten Augen ausstechen.
Wenn ich schlau bin, komme ich ihm nicht zu nahe. Ich werde bleibende Schäden davontragen, wenn ich nicht aufpasse.
Und trotzdem …
»Nicholas, hey, dreh mich in die Richtung des Bowletischs.«
»Drehen? Ääh, so weit bin ich mit dem Tanz-Lehrvideo nicht gekommen …«
Ich übernehme die Führung und zerre den armen Nicholas quer durch die Cafeteria. Er stolpert und taumelt gegen mich. Ich tue so, als hätten wir wahnsinnigen Spaß und könnten uns vor Lachen kaum halten.
»Lachen, Nicholas«, befehle ich ihm streng.
»Sie machen mir Angst.«
Wir sind jetzt nur wenige Meter von Ian entfernt, und ich stoße ein Gackern aus, das an Irrsinn grenzt. »Nicholas, hör auf. Du bringst mich noch um.«
»O mein Gott, trete ich Ihnen etwa auf die Zehen?«
Das tut er tatsächlich, aber ich ignoriere den stechenden Schmerz und lächele freundlich in Ians Richtung. Schließlich fange ich seinen Blick auf, und er legt den Kopf mit einer sexy hochgezogenen Augenbraue schief. Damit will er mir sagen: Samantha, bitte. Du machst keinem was vor.
Diese Runde gewinnt er.
Meine armen Füße nicht.
Später, als ich mich hingesetzt habe und meine Zehen mit Eis kühle, beobachte ich, wie das Neuntklässler-Quartett sich quer durch den Raum auf Ian stürzt. Die vier waren nicht mal zur Aufsicht eingeteilt, und trotzdem sind sie hier, in leuchtenden Kleidern in Regenbogenfarben mit so vielen Pailletten, dass sie einer Discokugel Konkurrenz machen können. Ihre Verführungsstrategie beruht auf Eichhörnchen-Psychologie: Attraktivität bedeutet, poppig und glänzend zu sein. Ihr Überfall auf Ian ist koordiniert. Jede kommt aus einer anderen Himmelsrichtung, sodass er umzingelt ist. Ich beobachte schadenfroh, wie er versucht, ihnen zu entkommen. Wenn er mich nicht ignorieren würde, könnte ich zu ihm hinübergehen und dem Armen helfen. Jetzt ist er fällig. O ja, er wird was abkriegen.
Außer dass er eine Minute später die Hand ausstreckt und ich mit offenem Mund zusehe, wie er Bianca auf die Tanzfläche führt. Bianca, die böse Hexe der Oak Hill High! Sie hat noch nie selbstgefälliger ausgesehen.
Als ich einen Bruchteil ihres Gesprächs mitbekomme, verenge ich die Augen zu Schlitzen.
»Bianca, hör auf, hör auf. Du bringst mich noch um.«
Oh, okay, du Komiker.
Sie tanzen gefährlich nahe bei mir mit meinem Eisbeutel, aber Ian kann gut tanzen und weiß, wie er Bianca dazu bringen kann, ausgelassen lachend den Kopf in den Nacken zu werfen. Also bitte, Bianca. Dein Humor beschränkt sich auf die erste Hälfte von Klopf-Klopf-Witzen. Du kannst dir nicht mal die Pointen merken.
Als sie noch näher zu mir hin tanzen, fängt Ian meinen Blick auf. Er legt den Kopf schief und lächelt total selbstgefällig. Ich stehe auf, zucke vor Schmerz zusammen und humpele so eilig davon, wie es mir sieben zerschmetterte Zehen erlauben.
Ich bin mir nicht mal sicher, was für ein Spiel wir spielen oder wie die Regeln lauten, aber ich weiß, dass er mit diesem dämlichen, umwerfenden schwarzen Anzug den Einsatz erhöht hat.
Worauf ich mit einem törichten Tanz mit Nicholas gekontert habe, und jetzt führt er mit Bianca am Arm einen hinterlistigen Gegenangriff auf mich durch. Meiner Zählung nach führt er mit zwei zu null. Wenn mich jemand fragen würde, was das alles soll, würde ich antworten, dass es dafür eine sehr gute Erklärung gibt, es aber niemanden etwas angeht. In Wahrheit ist es sinnlos. Ich habe keine Ahnung, was meine Motive sind, denn ich nehme mir keine Sekunde Zeit, darüber nachzudenken. Ich bin zu beschäftigt damit, zu reagieren, eine Strategie zu entwickeln. Bis auf Ian ist kein einziger geeigneter Junggeselle im Raum. Schuldirektor Pruitt ist nicht nur steinalt, sondern auch glücklich verheiratet. Selbst jetzt vergnügt er sich mit seiner Frau auf der Tanzfläche. Sie tanzen aneinandergeschmiegt unter der Discokugel, und im Angesicht ihrer Liebe würde ich am liebsten im Strahl kotzen.
Ich hätte heute Abend eine Verabredung haben können. Offenbar hätte ich heute Abend sogar Verabredungen haben können! Einen regelrechten männlichen Harem, wenn Ian nicht irgendwelche Kinder bestochen hätte, damit sie mich bestehlen. Ich frage mich, wie viele Teddybären er auf diese Weise abgefangen hat – zig, Hunderte, Tausende? Man weiß es nicht. Ich hätte unter Füllmaterial, Kunstfell und winzigen Augäpfeln, die eine Erstickungsgefahr darstellen, begraben sein können. Wie traumhaft.
Was es noch schlimmer macht, ich habe heute Abend viel Zeit und Mühe auf mein Aussehen verwendet, damit es Ian den Atem verschlägt. Ich habe in einem Schönheitssalon Termine für Haare und Make-up vereinbart und den ganzen Nachmittag in einem Stuhl mit schlechter Lendenwirbelstütze gelitten. Sie haben Dinge mit meinen Augenbrauen angestellt. Meine langen Haare wurden gezwirbelt, toupiert, gelockt, ausgebürstet und dann mit Spray fixiert. Sonst trage ich nicht viel Make-up, doch momentan fühle ich mich, als würde ich gleich bei einem Schönheitswettbewerb auf die Bühne steigen.
Und da habe ich noch nicht mal vom Kleid gesprochen.
Es ist kurz und blau und sexy. Nicht so kurz, dass die Schüler Gefahr laufen, einen Blick auf meine Genitalien zu erhaschen, aber kurz genug, um zu zeigen, dass meine Beine »der Hammer sind, Schätzchen«, wie die Verkäuferin anmerkte. Ich wünschte, ich hätte mir einfach einen Trainingsanzug aus Velours angezogen. Nachdem ich mir solche Umstände gemacht habe und Ian nicht mal zu mir rübergekommen ist, um mit mir zu reden, komme ich mir jetzt lächerlich vor.
Ich drücke mich im Dunkeln herum, bis er mit Bianca fertig getanzt hat, und als er außer Sichtweite ist, kehre ich widerwillig auf meinen Aufsichtsposten zurück.
Es ist zwanzig Uhr. Dieser Abend wird bestimmt bald ein Ende haben. Müssen die Kids nicht gegen 20.30 Uhr im Bett sein?
Wie als Antwort auf meine Überlegungen wechselt der DJ die Musik plötzlich von sanften, langsamen Songs zu Techno, die Deckenleuchten erlöschen, und flimmernde Stroboskoplichter treten an ihre Stelle. Die Schüler flippen aus. Der DJ (der übrigens bloß ein nerdiger Vater vom Elternbeirat ist) springt in die Luft, hält sich mit einer Hand die Kopfhörer an den Kopf und pumpt mit der anderen so hart in die Luft, wie er kann. Er steht kurz vorm Bandscheibenvorfall, und es ist ihm egal. Für ihn ist das der Abschlussabend auf dem Coachella-Festival.
»Was machen deine Zehen?«, ertönt Ians Stimme von links, woraufhin ich mich zu Tode erschrecke und vor Überraschung einen unverständlichen Laut ausstoße.
Ich erhole mich schnell. »Musst du mir im Dunkeln auflauern, du Unsympath?«
Eigentlich ist es, seit die Lichter aus sind, im ganzen Raum dunkel.
Die Stroboskoplichter spielen meinen Augen Streiche. Jede zweite Sekunde geht mir verloren, sodass das Leben wie ein Film im Zeitraffer aussieht. Deshalb reagiert mein Gehirn erst mit Verzögerung, als Ian die Hand ausstreckt und an einer meiner Haarsträhnen zieht. Ich stehe ganz still, lasse es geschehen und sehe verwundert zu.
»Was hat Logan gestern gesagt?« Er muss sich nah zu mir beugen, damit ich ihn bei der lauten Techno-Musik verstehe. »Hast du eine neue Frisur? Das sieht toll aus.«
»Warum hast du mich dann den ganzen Abend ignoriert?«
Er steckt die Hände in die Taschen, um mich nicht zu berühren, wie ich vermute. »Ich könnte dich das Gleiche fragen.«
»Du hattest einen Anzug an.«
»Du hattest ein Kleid an.«
»Wir sehen beide aus, als wollten wir zum Abschlussball.«
»Hattest du Spaß auf deinem Abschlussball?«
Er sieht jetzt so ernst aus, dass ich den Blick abwenden muss.
»Nein. Ich musste mit Freundinnen hingehen, weil mich niemand eingeladen hatte, und gegen Ende haben mich alle wegen irgendwelcher Jungs sitzen lassen. Das war scheiße.«
»Ich wünschte, ich hätte dich begleiten können.«
Diese Vorstellung ist total absurd. Ich habe Ians jüngere Version in gerahmten Fotos bei ihm zu Hause gesehen. Für ihn gab es keine schwierige Pubertät. Sie wissen doch, dass in Hollywood Highschoolschüler manchmal mit Dreißigjährigen besetzt werden? So sah Ian aus, groß und bärenstark sogar schon mit siebzehn. Ich hingegen wurde wegen allem Möglichen gnadenlos gehänselt: widerspenstige rote Haare, elfenhafte Statur, knöchrige Knie. Ist das gerecht?
»Ich könnte es wiedergutmachen«, schlägt er vor und hält mir seine Hand hin.
Mein Herz steppt gegen meinen Brustkorb.
»Ich halte das für keine gute Idee.«
»Warum nicht?«
Warum nicht?!
»Weil ich wie diese törichte Maus aus dem Märchen bin. Wenn du Sam einen Tanz schenkst, wird sie um einen Kuss bitten. Wenn du ihr einen Kuss gibst, will sie …«
Unsere Blicke treffen sich, und mir wird ganz anders. Um seinen Kopf müsste Absperrband gespannt werden, denn sein Blick ist erhitzt und verführerisch, und ich sollte auf keinen Fall näher treten. Mein Körper spielt verrückt. Zuerst keuche ich und fächele mir Luft zu. Dann trocknet mein Mund aus, und ich bekomme eine Gänsehaut.
»Was?«, bohrt er nach und tritt näher. »Sag’s mir.«
»Mehr.« Das Wort platzt aus mir heraus. »Ich würde mehr wollen.«