Kapitel 10

Sam

Ian berührt mich nicht, was bedeutet, dass er mich eigentlich nicht zwingt, aber er sagt trotzdem, wo es lang geht. Wir laufen schweigend durch den Gang. Mein Eingeständnis trottet hinter uns her wie das fünfte Rad am Wagen. Unsere Jobs als Aufpasser sind erledigt. Wir sind abgelöst worden und können nach Hause gehen. Aber zuerst muss ich noch meine Handtasche holen, und Ian hat darauf bestanden, mich in mein Klassenzimmer zu begleiten.

Seine Anzugjacke hängt über meinen Schultern. Vor ein paar Minuten, als ich mir fröstelnd mit den Händen über die Arme rieb, hat er sie mir angeboten. Mein kleiner Trick hat perfekt funktioniert. Ich bin in Eau de Ian eingehüllt, eine berauschende Mischung aus würzigem Rasierwasser und Duschgel. Ich senke den Kopf und schnuppere so unauffällig wie möglich. Er ertappt mich trotzdem dabei.

»Du bist seltsam.«

Es klingt wie ein Kompliment, und ich leugne es nicht.

Als er mir die Tür zum Klassenzimmer aufhält, denke ich, dass er das Licht einschalten will, aber Fehlanzeige. Durch die halb geschlossenen Jalousien schimmert der Mond. Genau wie in der Cafeteria spielt die Beleuchtung auch hier meinem Gehirn Streiche. Diese Kulisse ist romantisch und geheimnisvoll, voller verlockender Möglichkeiten. Ich muss sofort hier raus.

»Oookay, ich hole nur schnell meine Handtasche, und dann können wir los. Hier ist sie ja, und schau, da sind auch meine Schlüssel.«

Ich glaube, die Situation in den Griff zu bekommen, indem ich jeden Pups begleitend kommentiere, aber Ian hat ganz eigene Vorstellungen.

Er entdeckt die aktuelle Ausgabe der Oak Hill Gazette auf meinem Schreibtisch und dreht sie zu sich.

»Ach! Das ist nichts. Gehen wir.«

Zu spät. Sein Blick bleibt an der Titelstory und den dazugehörigen Fotos hängen. Es ist Phoebes Artikel, und die Aufnahme, die sie während des Fußballspiels von mir gemacht hat, ist nicht zu übersehen. Die Bildunterschrift besagt irgendetwas Harmloses darüber, dass ich mir das Match anschaue, aber das spielt keine Rolle, weil das Bild tausend Worte sagt. Am unteren Rand kichert das Neuntklässler-Quartett über Ian. Den meisten Platz nehme ich ein, vor Eifersucht finster aus der Wäsche guckend. Phoebe hat mich hervorragend getroffen. Das Foto ist großartig, und ich sehe mich gezwungen, ihr für die Story eine Eins zu geben.

»Hattest du Spaß bei dem Spiel?«, fragt Ian unschuldig.

Er ködert mich.

»Weiß nicht mehr. Komm, wir gehen.«

»Du siehst ganz schön verstimmt aus, was merkwürdig ist, wo wir doch die meiste Zeit geführt haben.«

Er gibt keine Ruhe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich vorzubeugen und mir das Bild genau anzuschauen, während ich vorgebe, mich an die Situation zurückzuerinnern.

»Ach, stimmt ja.« Ich tippe mit dem Finger auf die Seite. »Jetzt weiß ich’s wieder – da war mir gerade eine Heuschrecke in den Rachen geflogen. Echt ekelhaft. Wo hast du geparkt?«

Er dreht mich langsam zu sich um und streckt die Hand aus, um meine Wange zu berühren. Ich presse instinktiv die Schenkel zusammen.

»Dir gehen langsam die Gründe aus, Sam … dafür, warum wir das nicht tun sollten.«

»Ist das ein Ratespiel oder was?«

Unsere Blicke treffen sich, und ein köstliches Versprechen hängt zwischen uns in der Luft. Ich lenke stümperhaft ab.

»Bianca schien sich vorhin in deinen Armen wohlzufühlen. Willst du dich mit ihr verabreden?«

Er richtet sich zu seiner vollen Größe auf und rückt von mir ab. »Du hast mir keine andere Wahl gelassen, als mit ihr zu tanzen. Du hast mich ignoriert. Ich wollte nur eine Theorie weiter überprüfen.«

»Und die lautet?«

»Steht Samantha Abrams auf mich?« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Ist sie eifersüchtig?«

»Und was hast du herausgefunden?«

Er tritt näher, sodass sich unsere Schuhspitzen berühren. Er greift nach dem Revers seiner Jacke um meine Schultern und zieht mich zu sich.

»Meine Hypothese traf zu. Dieses Foto bestätigt sie.«

Unsere Oberkörper berühren sich, und die Wärme seiner Haut versengt mich durch unsere Klamotten. Ich lege den Kopf weit in den Nacken, bis ich zu ihm aufsehen kann. Er fährt mit dem Daumen über meine Unterlippe, und ich muss das Bedürfnis unterdrücken, ihn in meinen Mund zu saugen. Ich muss die Antwort auf die jahrhundertealte Frage wissen: Wie schmeckt Ian Fletcher?

Er senkt den Kopf um einen weiteren Zentimeter, und ich spüre seinen Atem an meinen Lippen. Er ist minzig-frisch. Gleich küssen wir uns. Dies ist der Moment, von dem ich meinen Enkelkindern erzählen werde. Ich werde die Details in eine Steinplatte meißeln und sie ans Nationalmuseum schicken.

Stattdessen lächelt er. »Lass uns ein Spiel spielen.«

Mit den Händen umfasse ich seine Hüften. Ich habe ihn in den letzten … ach mehreren Tausend Sekunden unbewusst an mich gezogen. Was für kleine Flittchen meine Hände sind.

»Na schön.«

»Das Spiel heißt Wahrheit oder Kuss.«

Ich grinse. »Meinst du nicht Wahrheit oder Pflicht? Bist du so realitätsfern?«

»Ich schreibe die Regeln neu. Ich stelle dir eine Frage, und wenn du sie nicht beantworten willst … tja, du kannst dir wahrscheinlich denken, was du dann machen musst.«

Von uns beiden hat er das Sagen, der Mann in Schwarz. Und ich? Ich schwitze plötzlich unter seiner Jacke, die für Riesen gemacht ist.

»Klingt nach einem Spiel, das ich lieber nicht spielen würde.«

Blitzschnell lässt er mich los und tritt zurück. Kalte Luft aus der Klimaanlage ersetzt seine Körperwärme. Es ist, als hätte er mich im Wassertank versenkt.

»Na schön. Okay!« Ich lenke rasch ein und hoffe, dass er gleich wieder näher zu mir tritt, aber das tut er nicht. Er lehnt sich an meinen Lehrertisch und kreuzt die Fußknöchel. Der Anblick erinnert mich lebhaft an eine alte Fantasie von mir: wie wir beide auf diesem Tisch Sex haben. Ich muss den Blick abwenden, damit Fhantasie und Realität nicht miteinander verschmelzen.

»Wir fangen langsam an. Fühlst du dich zu mir hingezogen?«

»Im allgemeinen Sinn?« Ich gestikuliere wild. »Fühlen sich Bienen zu Blumen hingezogen? Ja.«

Meine markige Antwort kommt nicht gut an. Als ich ihn wieder ansehe, hat er die Arme verschränkt und sieht wütend aus, als wollte er mich bestrafen, vorzugsweise mit einem Lineal. Moment, nein – meine Fantasie spricht aus mir.

»Wenn du nicht ehrlich antworten willst, lassen wir das.«

»Ja … Ich fühle mich zu dir hingezogen.« Es klingt, als gäbe ich zu, dass ich in der Nase bohre.

Das ist eine schreckliche Angewohnheit, an der ich arbeiten muss – dass ich mich zu ihm hingezogen fühle, meine ich.

Er nickt, anscheinend zufrieden mit der Antwort. »Obwohl ich ganz anders bin als die Typen, mit denen du sonst ausgehst?«

Ich puste Luft aus, und es klingt wie Pah. »Natürlich bist du ganz anders als die Typen, mit denen ich ausgehe.«

»Was heißt das?«

»Gehört das zum Spiel dazu?«

Sein Mundwinkel verzieht sich nach oben. »Ja.«

Was heißt, wenn ich nicht antworte, müssen wir uns küssen. Bin ich dazu bereit? Für seine Lippen auf meinen?

Ich erbebe bei dem Gedanken und senke den Blick auf meine frisch lackierten Fingernägel, damit ich seine Reaktion nicht sehen muss, während ich ihm die Wahrheit sage. »Weil du eine Nummer zu groß für mich bist, Fletcher, buchstäblich und im übertragenen Sinn. Du warst nie mit einer Frau zusammen, die kleiner war als 1,82. Sie waren alle groß und kräftig. Wachstumshormon-Milchtrinkerinnen, wenn man so will.«

»Milchtrinkerinnen?«

»Wenn ich früher meine Milch nicht trinken wollte, sagte meine Mutter immer zu mir, dass ich nicht groß und stark würde. Ich mochte lieber Orangensaft, und wer hat jetzt das Nachsehen?«

Er findet diesen kleinen Einblick sehr amüsant. »Charmant.«

Am liebsten würde ich ihn würgen und ihm beweisen, wie un-charmant ich sein kann, wenn man mich provoziert. »Streitbar« ist eins der Adjektive, die Menschen in den Sinn kommen, die mich beschreiben wollen. Ich bin rauflustig. Ich kann unter Arme schlüpfen und Karateschläge in die Nieren austeilen – zumindest in meiner Fantasie.

Ian sieht mich an, als würde er mein volles Potenzial nicht erkennen. Ich spotte.

»Weißt du, was? Beruht dieses Spiel auf Gegenseitigkeit? Meiner Schätzung nach schuldest du mir etwa fünfzig ehrliche Antworten.«

»Oder, wenn ich nicht antworten will, die Alternative.«

Meine Augen werden groß.

Fünfzig Küsse? Meine Lippen würden anschwellen, Hämatome bekommen und abfallen.

Seine blauen Augen versprechen mir, dass mir das Ergebnis nicht gefallen wird, wenn ich ihn herausfordere.

Ich seufze, schleudere meine Stöckelschuhe von mir und quetsche meinen Po auf den kleinen Tisch hinter mir. »Na schön. Dann stell mir weiter Fragen.«

»Wann war dir zum ersten Mal klar, dass du dich zu mir hingezogen fühlst?«

Ha.

»Am ersten Tag. Nächste Frage.«

Er zieht geschockt die Augenbrauen hoch.

»Warst du jemals kurz davor, mir die Wahrheit zu sagen?«

»Natürlich.«

»Wann?«

Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht nach drei Monaten, als du gerade mit dieser Hautärztin Schluss gemacht hattest … Aber dann erschien ein Typ, den ich schon eine ganze Zeit mochte, wieder auf der Bildfläche, und ich wollte einen Versuch mit ihm wagen.«

»Mason«, sagt er im Brustton der Überzeugung. Ein Schatten verdunkelt seinen Blick. Wenn wir in einem kitschigen Film mitspielten, hätte er den Namen gesagt und dabei mit der Faust in seine Handfläche geschlagen.

»Genau der. Aber dann bist du mit dieser Anwältin zusammengekommen. Mit dieser Frau, die darauf bestand, mich Samantha zu nennen, und es nur noch schlimmer machte, indem sie jede Silbe überbetonte. Sah-mahn-thah. Als hätte sie Schleim im Hals oder so.«

»Karissa. Ja, die war ätzend.«

»Ich weiß.«

Er kneift die Augen zusammen. »Warum hast du es mir nicht gesagt, nachdem ich mit ihr Schluss gemacht hatte? Das war das erste Mal, dass wir gleichzeitig Single waren.«

Dass er das weiß, ist sehr aufschlussreich. Wenn dieses Spiel ausgeglichen wäre, würde ich ihn unterbrechen und ihn fragen, ob auch er mich damals schon attraktiv fand. Ich kann nur mit Mühe verarbeiten, dass es vielleicht so war – oder vielmehr so ist.

»Sam?«

Ich starre auf ein Stück Rigipswand neben seinem Kopf. »Keine Ahnung. Wir hatten eine Freundschaft aufgebaut. Sie funktionierte, und ich wollte sie nicht gefährden.«

»Und jetzt?«

»Das will ich jetzt immer noch nicht.«

Deshalb spiele ich bei diesem albernen Spiel mit und beantworte seine Fragen, statt mich von ihm küssen zu lassen. Natürlich will ich diesen Kuss. Soll das ein Witz sein? Hat er mal in den Spiegel geschaut? Er sieht heute Abend so scharf aus, dass ich wette, dass er in Versuchung gerät, sich vorzubeugen und sein eigenes Abbild zu knutschen, sodass dabei der Spiegel beschlagen würde.

»Erkläre es, Sam.«

Ich verschränke die Finger und pule an meinem Nagellack. Normalerweise trage ich keinen, weil es zu viel Spaß macht, ihn abzupulen, so wie jetzt. Was für eine Verschwendung von dreißig Dollar. »Eigentlich ist es ganz einfach: Wir haben den Spatz in der Hand. Du und ich sind ein hervorragendes Team. Du bist mein bester Freund. Im Grunde, wenn ich so darüber nachdenke, bist du mein einziger Freund. Alle, mit denen wir abgehangen haben, sind entweder weggezogen oder haben Kinder gekriegt, aber wir nicht. Wir sind nie erwachsen geworden oder haben uns gebunden. Wir haben immer noch Zeit für West-Wing-Mittwochstreffen und Quizabende und für Sachen wie damals, als ich Inlineskaten lernen wollte und dich gezwungen habe, neben mir zu gehen und meine Hand zu halten.«

Bei der Erinnerung daran unterdrückt er ein Lachen.

»Ja, die Leute haben mich für deine kleine Schwester gehalten. Frauen haben versucht, dich anzubaggern, weil sie dachten, du seist ein vernarrter großer Bruder, der mir mit Engelsgeduld das Rollerbladen beibringt. Aber was ich eigentlich sagen will: Ich glaube, wir haben festgestellt, dass das ein supertolles Szenario ist, und wenn wir beschließen, ein Paar zu werden, besteht eine 99-prozentige Chance, dass es nicht funktionieren wird, und was dann? Ich verliere auf einen Schlag meinen Freund und meinen besten Kumpel. Kein Spatz in der Hand und keine Taube auf dem Dach. Nein. Das mache ich nicht.«

»Du klingst, als hättest du viel darüber nachgedacht.«

»Und ob. Ich hab sogar recherchiert. Ich kenne jede Sitcom von den späten 1990ern bis heute, die dieses Thema anreißt.«

»Was ist mit Chandler und Monica?«

»Das war reines Glück.«

»Jim und Pam?«

»Na ja … das dauerte ’ne Weile.«

»Leslie und Ben?«

»Das war eine Zeit lang holprig.«

Lachend stößt er sich vom Schreibtisch ab und richtet sich auf. »Ich hab’s kapiert.«

Er pirscht sich an mich heran wie ein Panther, und dann steht er vor mir und überragt mich. Er bückt sich und stützt seine Hände rechts und links von meinen Hüften auf dem Tisch auf. Jetzt sind wir auf Augenhöhe, blaue Augen sehen in blaue. Meine Knie streifen seinen Hosenstall. Heiliger Bimbam. Er ist riesig. Meine Augen werden groß. Er stößt einen tiefen Atemzug aus und senkt den Blick. Nur mit Mühe kann er ein Knurren unterdrücken. Der Saum meines Kleides ist bis zum höchsten Punkt meiner Schenkel hochgerutscht, und ich wünschte, ich hätte daran gedacht, seine Jacke um mich herum zuzuknöpfen. Ich brauche diese zusätzliche Schutzschicht, wenn ich dieses Klassenzimmer so picobello verlassen will, wie ich es betreten habe.

Ich versuche, von dem Tischchen zu rutschen, aber er lässt mich nicht. Stattdessen tritt er noch näher, sodass ich meine Knie spreizen muss.

Jetzt sind wir ineinander verkeilt, und meine Schenkel umfassen seine Hüften wie eine Stange, an der ich gleich herunterrutschen werde. Feuerwehrfrau Sam zu Ihren Diensten.

»Gehört das immer noch zu dem Spiel?«, frage ich und klinge, als würde mir jemand die Luft abdrücken. Ich sterbe.

»Nein.« Er streicht mit einer Hand an meiner Kinnlinie entlang. »Keine Spiele mehr.«

Seine Berührung ist federleicht, und ich stelle peinlich berührt fest, dass ich mich an seine Hand schmiege. Ich bin wie eine Katze, die Streicheleinheiten will.

»Die Sache ist die«, sagt er ernst. »Ich bin bereit, das auszuprobieren, aber du anscheinend nicht.«

Dabei sieht er auf meine Lippen – betrachtet sie, als müsste er sie später aus dem Gedächtnis nachbilden.

»Und?«

Heißt das, dass er sich trotzdem nehmen wird, was er will? Denn in Wahrheit gefällt mir diese Vorstellung – reine Lust und keine Konsequenzen. Er kann die Hand unter mein Kleid schieben und mich berühren, wie er es neulich Abend am Telefon wollte, während ich vorgebe, nicht den Kopf zu verlieren. Ich werde die moralisch Überlegene sein, während er meine unmoralischen unteren Regionen erkundet. Ein Gewinn für beide Seiten.

»Und deshalb lasse ich dich jetzt von diesem Tisch rutschen, und wir gehen gemeinsam zum Parkplatz, wie wir es immer tun, als Freunde.«

Macht er Witze? Ich dachte, das würde zu etwas führen. Mein Slip ist durchnässt, weil mein ganzer Körper dachte, dass es zu etwas führen würde.

Er will von mir zurücktreten, doch meine Finger krallen sich an seinem Smokinghemd fest und ziehen ihn näher zu mir. »Stell mir noch eine Frage.«

»Nein.«

»Na schön, dann frage ich eben. Sam, darf ich dich jetzt küssen?«

Dann neige ich den Kopf zur Seite und drücke leicht meine Lippen auf seine.