Kapitel 11

Sam

Er ist total geschockt, und eine Sekunde lang schließt keiner von uns die Augen. Wir sind nur zwei Freunde, die ihre Münder aufeinanderdrücken. Für Außenstehende sähe es aus, als wollte ich ihn wiederbeleben. Aber aus meinem Blickwinkel sehe ich, dass seine Augen sich verdunkeln. Drei lange Sekunden rühren wir keinen Muskel. Ich lasse mich in den Ian-Ozean fallen und gehe total in diesen blauen Augen unter. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben, und mir wird bewusst, dass wir uns immer noch nicht bewegt haben.

Er wird mich zwingen, der aktivere Part zu sein. Das ist okay. Jahrelange Erfahrungen mit schlechten Küssern haben bewirkt, dass ich einseitiges Knutschen meisterhaft beherrsche. Mit einer Hand fahre ich über seine Brust (nett), sein Schlüsselbein (netter), seine breite Schulter (am nettesten) und lege sie dann an den sehnigen Muskel an seinem Hals. Ich fahre mit den Nägeln an seinem Haaransatz im Nacken entlang, und er entspannt sich. Ich unterdrücke ein Grinsen. Schritt eins ist abgeschlossen.

Schritt zwei ist schwieriger, weil ich dazu den Kuss unterbrechen muss. Es ist wie das Öffnen einer Druckschleuse im Weltall; entweder ist die Außentür versiegelt und wir überleben unverletzt, oder die ganze Luft wird herausgesogen, und ich sterbe. Einen Moment lang legen wir unsere Stirnen aneinander, ohne dass unsere Lippen sich berühren. Wir sind uns unglaublich nahe, und ich steigere die Spannung, indem ich meine Finger in seine Haare schiebe und meine Unterlippe befeuchte. Als er meine Taille fester umfasst, weiß ich, dass ich ihn habe, aber ich muss sichergehen. Der K.-o.-Schlag kommt, als ich seine volle Unterlippe zwischen meine Zähne nehme. Er stöhnt. Ja, Ian, du wirst diesen hübschen Anzug gleich ablegen wollen, denn ich spiele mit unfairen Mitteln.

Was zum Teufel machst du mit mir, fragt er mich im Stillen.

Dich mit deinen eigenen Waffen schlagen, antworte ich grinsend in Gedanken und küsse ihn wieder. Diesmal nimmt er es nicht so stoisch hin. Er hebt mich hoch und senkt den Mund auf meinen. Dass wir uns küssen, haut mich total um. Ian Fletcher und ich küssen uns. Ich würde es laut herausschreien, wenn mein Mund nicht gerade viel Wichtigeres zu tun hätte.

Die Sache ist die: Eben war Ian noch wie erstarrt, aber jetzt nicht mehr. Seine Hände tauchen unter seine Jacke auf meinen Schultern und schieben sie herunter. Die heißen Handflächen streichen über meinen Nacken, und dann tiefer, streifen die äußeren Ränder meiner Brüste. Meine Brustwarzen ziehen sich zusammen. Seine Berührung versengt mich. Ich habe keinerlei Zweifel, dass mein Kleid verkohlt und nur wenige Minuten davon entfernt ist, zu meinen Füßen in einen Haufen Asche zu zerfallen.

Wir sind beste Freunde und küssen uns so, wie wir alles andere tun: Wir nehmen uns Freiheiten heraus, wir gehen zu weit, wir verwischen die Grenzen unserer Komfortzonen und ziehen sie neu.

Er umfasst meine Taille fester und lässt seine Hüften an mir kreisen, reibt sich an mir. Als ich die Hand an seinen Hosenstall lege, kommt mir das gleiche Adjektiv in den Sinn wie eben: groß. Und dazu noch ein neues: hart. Vollständige Sätze werden später kommen, wenn mein Gehirn nicht mehr verrücktspielt.

Er wiegt wieder seine Hüften, womit er mir sagt: Fühlst du das, Sam? Das ist für dich.

Aus meiner Kehle steigt ein Laut, wie ich ihn noch nie gehört habe (ein kehliges Stöhnen, vermischt mit dem Wort »bitte«), und er liefert, drängt sanft meine Lippen auseinander und berührt mit seiner Zungenspitze meine. O ja. Unser jugendfreier Kuss wechselt in die Kategorie »Über 18«. Ich stelle mit Freude fest, dass er jetzt mit Feuereifer dabei ist.

Hör nicht auf, hör nicht auf.

Ich habe so lange auf diesen Kuss gewartet, dass ich mir jetzt, wo es passiert, wünsche, dass er mindestens ein oder zwei Jahrzehnte dauert. Wir werden die Fenster und die Tür verbarrikadieren. Wir werden die Seiten aus den Englisch-Lehrbüchern reißen, die an der hinteren Wand gestapelt sind, und uns daraus ein gemütliches Liebesnest bauen. Wir werden überleben, indem wir hin und wieder kleine Häppchen voneinander abknabbern, wie kleine verliebte Kannibalen. Mir ist bewusst, dass diese Gedanken während eines leidenschaftlichen Kusses nicht die normalsten sind, aber über genau solche Witze können Ian und ich uns stundenlang totlachen. Es passt.

Bei dem Versuch, mich mit dem ganzen Körper an ihn zu schmiegen, falle ich fast vom Tisch. Er grinst an meinem Mund, woraufhin ich warnend knurre. Auch er denkt an lustige Sachen, was mich plötzlich ärgert. Diese neu entdeckte Lust will ich nicht mit den alten Sam und Ian teilen – die zwei haben so vieles, was sie trägt, aber dieses rot glühende Feuer ist das Einzige, was diesen Moment im Fluss hält.

Wie zum Beweis greife ich nach dem oberen Rand seiner Anzughose. In einer Tausendstelsekunde schwindet sein Lächeln, und unser Kuss steigert sich um weitere Hitzegrade. Als Belohnung für seine hervorragenden Fähigkeiten werde ich ihm erlauben, mich aus diesem dünnen Kleid zu schälen, damit wir jede Fantasie ausleben können, die ich jemals hatte. Was für eine geniale Idee. Kommen wir zur Sache.

Ich lasse die Hand weiter in seine Hose gleiten, als eine laute Klingel schrillend die Wände meines stillen Klassenzimmers durchdringt. Wir fahren so schnell auseinander, dass ich mich festhalten muss, um nicht rückwärts vom Tisch zu kippen.

Als Nächstes ertönt Schuldirektor Pruitts Stimme über die Lautsprecheranlage. »Das waren ein paar großartige Dance Moves, Oak-Hill-High-Schüler! Ich wünschte, wir könnten die ganze Nacht feiern, aber es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Bitte begebt euch zum Abholpunkt, wenn Eltern oder Freunde euch einsammeln. Kein Herumtrödeln!«

Damit schaltet er ab. Bäh. Stellen Sie sich vor, Ihr Arbeitgeber könnte sich plötzlich akustisch einschalten, während Sie lebensverändernden Sex haben. Die Stimmung wäre dahin.

Ian und ich sehen einander schweigend an.

Ich keuche, als hätte ich den Mount Everest bestiegen. Mein Herz klopft.

Ich will da weitermachen, wo wir aufgehört haben, bin aber wie erstarrt.

Ian wirkt total entspannt. Er atmet nicht mal schwer. Niemand würde ihm anmerken, dass ich gerade über ihn hergefallen bin, wenn dank meiner gierigen kleinen Hände seine Haare nicht so hinreißend zerzaust aussähen und sein Hemd nicht so zerknittert wäre.

Als ich mich vom Tisch hochstemmen und aufstehen will, beschließen meine Knie, weniger wie Knie, sondern eher wie Wackelpudding zu funktionieren. Ich überspiele das, indem ich so tue, als wollte ich sowieso auf dem Boden zusammensacken. Schließlich muss ich wirklich meine Stöckelschuhe wieder anziehen.

Er tritt vor und hilft mir beim Aufstehen. Dann greift er nach seiner Anzugjacke und legt sie mir behutsam wieder um die Schultern.

»Komm jetzt. Wenn wir uns nicht beeilen, schließen sie uns hier noch über Nacht ein.«

Aus seinem Mund klingt das wie etwas Schlechtes.

»Wir haben doch Snacks. Ich glaube, ich hab noch einen von deinen Energieriegeln unter meinem Stuhl …« Ich verstumme.

Er schüttelt den Kopf und wendet sich ab, um in den Flur hinauszugehen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hinterherzudackeln.

Wir sind kaum ein paar Schritte gegangen, da richtet schon ein Wachmann anklagend eine Taschenlampe auf uns. Dabei ist es im Flur nicht mal dunkel. Das ist ein bisschen zu viel des Guten. »Hey! Schüler müssen in der Cafeteria bleiben.«

»Wir sind Lehrer«, antwortet Ian seelenruhig.

Der Wachmann presst ungläubig die Lippen zusammen und brummt halblaut, als wir vorbeigehen: »Das beurteile immer noch ich.«

»Ich glaube, wir müssen nachsitzen«, scherzt Ian.

Ich lache nicht. Ich verliere langsam den Verstand.

Er wirft mir einen Blick zu und schüttelt verärgert den Kopf. Was ist los? Sehe ich so schlimm aus?

»Wenn du nach Hause kommst und ausflippst, vergiss nicht, dass du dir das selbst zuzuschreiben hast.«

»Was denn?«

»Dass du dich in einer Abwärtsspirale befindest.«

Ich lache schrill wie eine Irre. »Nein, tue ich nicht!«

Und ob. Eine leichte Brise könnte mich umwehen. Als wir zu meinem Wagen kommen, lasse ich mich nicht von Ian anfassen. Ich befürchte, dass ich ihn sonst wieder küssen werde, was schrecklich wäre, weil wir jetzt nicht mehr allein sind. Auf dem Parkplatz tummeln sich andere Leute – Lehrkräfte, Aufsichtspersonen, Schuldirektor Pruitt. Er winkt uns zu, als er mit seiner Frau zu seinem Auto geht. Ian und ich lächeln ihm zu und winken wie solarbetriebene Plastikfiguren. Unsere Körpersprache besagt: Hier wird nicht geknutscht! Überhaupt nicht! Nur zwei brave Angestellte!

»Ich dachte, ihr zwei wärt nach dem Ende eurer Schicht gegangen?«, ruft er uns über ein paar Autodächer hinweg zu.

»Das wollten wir auch, aber dann ist Ian schlecht geworden.« Die Lüge kommt mir mühelos über die Lippen. Am liebsten würde ich mir selbst auf die Schulter klopfen.

»O nein.« Schuldirektor Pruitt runzelt die Stirn. »Was haben Sie denn, Junge?«

»Lebensmittelvergiftung«, helfe ich ihm aus. »Sie wissen ja, wie das ist – oben und unten raus, ziemlich schlimm. Ich musste die Abstellkammer aufschließen, um Nachschub an Toilettenpapier für ihn zu holen.«

»Genau. Sam hatte es auch, sogar noch schlimmer als ich. So was hab ich im Leben noch nicht gehört.«

Ich widerstehe dem Drang, ihm mit Schmackes auf den Fuß zu treten.

Schuldirektor Pruitt wirkt zutiefst beunruhigt. »Jetzt, wo Sie es sagen, Sie sehen beide aus wie durch die Mangel gedreht. Haben Sie sich ihr Essen geteilt oder was?«

Wir haben Speichel ausgetauscht – zählt das?

Er befiehlt uns, uns auszuruhen, viel zu trinken und es morgen ruhig angehen zu lassen.

Als sie weg sind, öffnet Ian meine Autotür und setzt mich in den Wagen. »Lebensmittelvergiftung? Echt jetzt?«

»Das war die einzige Möglichkeit, unser derangiertes Äußeres zu erklären.«

Er greift über mich hinweg und lässt meinen Motor an.

»Kannst du fahren?«

»Keine Ahnung. Was ist, wenn ich angehalten werde? Ich bin zwar nicht betrunken, aber momentan kann ich todsicher nicht auf einer geraden Linie laufen. Hast du mich unter Drogen gesetzt?«

Er steht vor der Tür und beugt sich herunter, sodass er den gesamten Türrahmen ausfüllt. »Ich hasse es manchmal, wie dein Gehirn arbeitet.«

Diese Stichelei trifft mich zutiefst. Ich kann nichts daran ändern, wie ich bin, egal wie sehr ich es versuche.

Ich richte den Blick stur geradeaus, durch die Frontscheibe nach draußen.

»Warum kannst du es nicht einfach geschehen lassen, ohne es zu sabotieren?«

»Ich sabotiere es nicht«, beharre ich gekränkt.

»Okay, dann geh morgen Abend mit mir aus.«

»Ich kann nicht.«

Er schüttelt wütend den Kopf. »Gute Nacht, Sam.«

Nein! Kapiert er es nicht? Versteht er nicht, dass ich das, was wir haben, bewahren will? Dass Menschen ihr ganzes Leben lang darum kämpfen, eine Freundschaft wie unsere zu finden? Wir sind Seelenverwandte, die es nicht riskieren sollten, in die Kiste zu springen. Seelenkumpel. Seelenfreunde?

»Warte!« Ich halte ihn am Unterarm fest. Der ist so muskulös und sexy, dass ich vergesse, was ich gerade sagen wollte. Als ich den Blick erneut auf sein finsteres Gesicht richte, fällt es mir wieder ein. »Sei nicht sauer auf mich.«

Er war noch nie sauer auf mich. Bis zu diesem Moment war mir nicht klar, dass das meine größte Angst ist.

»Das bin ich nicht, Sam …« Er unterbricht sich selbst und seufzt tief. Dann tritt er zurück und greift nach der Tür. »Fahr nach Hause.«

Und das tue ich. Ich fahre nach Hause und liege wach in meinem Bett und versuche, das schreckliche Gefühl zu ignorieren, dass meine Freundschaft mit Ian nach dem heutigen Abend nie mehr dieselbe sein wird. Dass ich schon begonnen habe, ihn zu verlieren. Der Gedanke zerreißt mir das Herz.

Ian und ich sprechen den ganzen Sonntag nicht miteinander. Es ist der schlimmste Tag, den ich seit Langem erlebt habe. Ich blase in meiner Wohnung Trübsal und bleibe im Schlafanzug. Mehrmals bilde ich mir ein, dass mein Handy klingelt, und greife danach. Auf PBS sehe ich mir eine Sondersendung über Quallen an und muss daran denken, wie ich einmal am Strand von einer gestochen wurde und Ian mich heroisch hochgehoben und aus dem Wasser getragen hat.

Am Montagmorgen bleibt mein Weckanruf aus. Ich verschlafe bis zum Beginn der zweiten Stunde; so sehr bin ich inzwischen auf Ian angewiesen. Zum Glück geht Schuldirektor Pruitt davon aus, dass ich mich immer noch von der Lebensmittelvergiftung erhole, weshalb ich mein Zuspätkommen nicht zu erklären brauche, oder warum eine Vertretung für mich organisiert werden musste. In der Mittagspause meidet Ian den Lehrer-Pausenraum, sodass ich gezwungen bin, mich mit anderen zu unterhalten. Es ist total lästig. Ich muss in vollständigen Sätzen sprechen, sonst sind sie verwirrt. Ashley fragt mich, wie der Valentinsball gelaufen ist, und ich bin so paranoid, dass ich sie scharf ansehe und sie frage, was sie damit meint.

Sie verzieht verwundert das Gesicht. »Nur ob es todlangweilig war.«

Ach so.

Ich sage ihr, dass es okay war, verschlinge mit zwei Bissen mein restliches Mittagessen und haste auf direktem Weg zurück in mein Klassenzimmer. Das ist nicht gerade ein kluger Schachzug. Immerhin ist es der Schauplatz des Vergehens. Der Tisch, auf dem wir rumgemacht haben, sollte aus dem Verkehr gezogen und eingeschreint werden. Den ganzen Vormittag haben Schüler daran gesessen, ohne zu ahnen, dass Ian vor achtundvierzig Stunden genau an dieser Stelle meine Welt auf den Kopf gestellt hat.

Seit unserem Kuss habe ich viel an ihn gedacht, mich geradezu zwanghaft mit ihm beschäftigt. Zum Beweis: Mein Gehirn kann jedes Thema auf ihn beziehen. Während meine Schüler einen Test schreiben, sehe ich aus dem Fenster in den wolkenlosen blauen Himmel … Ian-blau. Nach der Stunde höre ich zufällig mit, wie meine Schüler die gestrige Folge von Game of Thrones durchhecheln, und frage mich, ob Ian sie sich ohne mich angeschaut hat. Beim Scrollen auf Reddit finde ich ein lustiges Meme und widerstehe dem Bedürfnis, es ihm weiterzuleiten.

Ich wollte Ian meine Gefühle nie gestehen, weil ich befürchtete, dass es unsere Freundschaft zerstören würde. Ich wollte das Leben nicht ohne Ian erleben, und jetzt stellt sich raus, dass meine Befürchtungen berechtigt waren. Das ist total beschissen.

Nach der sechsten Stunde, nachdem fast alle anderen hinausgegangen sind, kommt eine meiner Schülerinnen zu mir. Ihr Name ist Jade. Sie ist süß und nimmt meinen Unterricht ernst. Ich mag sie.

»Ms. Abrams, dürfte ich Sie um einen Rat fragen?«

Ich bin nicht in der Verfassung, Ratschläge zu erteilen, aber ihre Augen sind so hoffnungsvoll, dass ich mich schrecklich fühlen würde, wenn ich ihr einen Korb gäbe. »Klar. Was gibt’s?«

»Tja, ich hab mich gefragt … Ich habe einen besten Freund, Truman. Er ist in Ihrer vierten Stunde. Jedenfalls sind wir seit der sechsten Klasse beste Freunde, aber ich glaube, ich wünsche mir, dass mehr daraus wird.«

Ich blinzele irritiert.

Ist das ein Witz?

»Wovon sprichst du? Hat dich jemand dazu angestiftet?«

An ihrer zitternden Unterlippe erkenne ich, dass sie keine Ahnung hat, wovon ich rede. »Entschuldigen Sie. Ich kann auch mit jemand anderem sprechen …«

»Nein. Entschuldige, ignorier das einfach. Was ist los?«

Sie legt mir rasch die Fakten dar, und es ist, als würde ich mit einer jüngeren Version meiner selbst sprechen. Das Gespräch kommt mir vor wie ein schräges Therapieverfahren. Ich frage mich, ob es ihr Zettel war, der konfisziert und neulich im Lehrer-Pausenraum laut verlesen wurde.

»Finden Sie, ich sollte es drauf ankommen lassen?«, fragt sie. »Sie wissen schon, ihm meine Gefühle gestehen?«

Ich zögere nicht, bevor ich im Brustton der Überzeugung antworte: »Gesteh ihm unter keinen Umständen deine Gefühle. Nimm sie mit ins Grab.«

»Ins Grab?« Ihr klappt die Kinnlade herunter.

Ist das zu morbide?

»Okay, nimm sie nur mit ins College. Diese Freundschaft willst du nicht kaputt machen.«

»Es ist nur … Neulich haben wir in Ihrem Unterricht dieses Tennyson-Gedicht gelesen, das mit ›Besser geliebt und verloren, als überhaupt nicht geliebt zu haben‹ endet.«

»Ach, Tennyson? Das ist ein Scharlatan.«

»Aber Sie sagten, er sei aufgrund der Kraft seiner Poesie in den Adelsstand erhoben worden.«

»Hab ich das gesagt? Nun, der Punkt ist, warum solltest du das aufs Spiel setzen, was du jetzt hast?«

»Ich glaube, daraus könnte sogar noch mehr werden.«

»Mehr?!« Am liebsten würde ich sie schütteln. »Warum brauchst du mehr? Ist eure Freundschaft nicht großartig so, wie sie ist? Ist Zeit mit ihm zu verbringen für dich nicht das Schönste im Leben? Warum solltest du das verderben wollen?«

In ihren Augenwinkeln sammeln sich dicke Tränen. Erst in dem Moment bemerke ich, dass ich geschrien habe.

Sie macht auf dem Absatz kehrt und rennt aus dem Zimmer. Ihr Rucksack bringt sie fast zu Fall, als sie um die Ecke fegt.

Tja, meine Arbeit hier ist erledigt.

Abgesehen davon, dass ich sie am nächsten Tag mit Truman im Flur Händchen halten sehe. Truman bringt sie zu ihrem Schließfach, stützt sich rechts und links von ihr ab und küsst sie. Wenn ich ein Nebelhorn hätte, würde ich es ihnen direkt in die Ohren blasen.

Zum Glück hat Ian Fluraufsicht und beendet die Zurschaustellung ihrer jungen Liebe, bevor ich es kann.

Er rät den zweien, sich das für nach der Schule aufzusparen, oder noch besser, bis sie fünfundzwanzig werden. Dann dreht er sich um, und unsere Blicke treffen sich. Das ist seit zwei Tagen das erste Mal, dass ich ihn sehe. Sein normalerweise freundlicher Blick hat sich verdüstert. Sein für ihn typisches unbefangenes Lächeln ist verschwunden. Die dunklen Augenbrauen sind zusammengezogen.

Das ist alles meine Schuld.

Ich muss das Bedürfnis unterdrücken, zu ihm zu rennen und mich in seine Arme zu werfen.

Bitte sei wieder mein Freund, würde ich am liebsten rufen.

Aber sein schwelender Blick warnt mich, auf Abstand zu bleiben. Mehr noch, er besagt: Das könnten wir sein. Ich könnte dich so an ein Schließfach drücken, wenn du mich nur ließest.

Zumindest glaube ich, dass er das besagt. Mir bleibt nicht viel Zeit für die Übersetzung, denn er rauscht wortlos an mir vorbei. Es verschlägt mir den Atem und fühlt sich an, als wäre ich angeschossen worden.

»Ian!«, rufe ich ihm impulsiv nach.

Er schüttelt den Kopf und geht weiter. »Ich muss zurück in meine Klasse.«

Ich bin emotional – und sexuell – so frustriert, dass ich schreien könnte. Genau genommen tue ich es sogar. Ein winziger Neuntklässler rennt an meiner Klassenzimmertür vorbei, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen, und ich zögere nicht, ihn anzuschreien: »Im Flur wird nicht gerannt!«

Sein Gesicht verzieht sich vor Angst. Ich knalle meine Klassenzimmertür zu und kriege mit, wie einer der Zwölftklässler bissig sagt: »Himmel. Ms. A muss eindeutig mal flachgelegt werden.«

Endlich versteht mich jemand!