Kapitel 13

Sam

Ich habe beschlossen, mir eine neumodische Lebenseinstellung zuzulegen, die besagt, dass ich nicht mehr zehn Schritte in die Zukunft vorausdenke, sondern stattdessen im Moment lebe. Ich habe vier Tage ohne Ian durchgestanden, und es war total ätzend. Wenn ich ihm also in seiner Dusche einen Blowjob geben muss, um ihn nicht zu verlieren, dann soll es so sein.

Ich will ihn. Das ist offensichtlich. Was kann schon schiefgehen?

Nach unserer gemeinsamen Dusche koche ich in von Ian geliehenen Klamotten (ein zu großes T-Shirt und Baseball-Socken, die mir bis zu den Knien reichen) das Abendessen. Danach sitzen wir auf seiner Couch und gucken West Wing. Der Serie gelten fünf Prozent meiner Aufmerksamkeit; die anderen 95 sind auf Ians Lippen fokussiert.

Er ist sich dessen bewusst, denn mitten in der Folge hält er den Film an und wendet sich an mich. »Heute Abend läuft sonst nichts mehr.«

Das ist mir neu. Ich hatte gehofft, wir würden es wenigstens in sein Bett schaffen. Ich habe mir nicht ohne Grund die Beine rasiert, bevor ich herkam.

»Warum? Du weißt schon, dass in westlichen Gesellschaften Oralsex normalerweise auf Gegenseitigkeit beruht?!«

Er schüttelt den Kopf und steht auf, um unsere Teller vom Couchtisch zu räumen. Ian räumt gern auf. Sein Haus ist immer picobello, und er findet es furchtbar, wie chaotisch ich beim Kochen bin. Er glaubt, ich benutze jeden Topf, jede Pfanne und jedes Schneidebrett in seinem Besitz, nur um ihn zu ärgern. Er kann ja nicht ahnen, dass das nur der halbe Grund ist.

»Daran liegt es nicht – glaub mir, ich freue mich sehr darauf … mich zu revanchieren, aber meinst du nicht, dass du, wenn wir in dem Tempo weitermachen, vielleicht … keine Ahnung, verschreckt wirst?«

»Tss. Was weiß ich. Wie wär’s, wenn wir nur ein bisschen zu softer Musik rummachen?«, frage ich. »Bei Spotify gibt’s Playlists für jede Gelegenheit.«

»Nein.«

»Okay, wie wär’s mit einer leichten Massage, Öl auf Wunsch, mit einer coolen Jazz-Playlist? So was habe ich auch.«

»Nix ist.«

»Könnten wir nicht nur schweigend Händchen halten? Gibt’s auf Spotify Schweige-Songs?«

Er hört mit dem Abräumen auf und stützt sich auf der Theke ab. Entweder lacht er, oder er versucht, sich zu sammeln. Ich kann sein Gesicht nicht in Gänze sehen, aber seine Augen sind geschlossen. Der Arme.

»Ich mache es dir leicht: Ich ziehe mich nackt aus, und du kannst einfach kommen und von mir naschen, an mir knabbern und dir nehmen, was dir gefällt. Ich bin wie ein preisgünstiges chinesisches Buffet.«

Er fährt herum, wie um sich zu vergewissern, ob ich mich wirklich auf seiner Couch ausziehe.

Das tue ich nicht. Ich lächele nur diabolisch.

»Sam, wir sind keine Freunde mit gewissen Vorzügen. Das will ich in aller Deutlichkeit sagen. Wenn wir das machen, dann machen wir es richtig.«

Ich lache. »Ich sag’s dir nur ungern, Freundchen, aber wir haben es schon verbockt. Telefonsex und ein Blowjob vor unserem ersten Date? Wie Shakespeare schon sagte, Scheiße gelaufen, Bro. Es hat keinen Sinn, das jetzt noch korrigieren zu wollen.«

Er dreht sich wieder weg, strafft die Schultern, und ich weiß, dass die Diskussion beendet ist. »Das findet nicht statt, Sam.«

Na schön. Ich stehe von der Couch auf und stapfe zu seiner Tiefkühltruhe, in der ich eine Familienpackung seiner Lieblingseissorte vorfinden werde: Rocky Road. Ich werde sie ganz leer futtern, nur um ihn zu ärgern. Das hat er davon, mir eine Abfuhr zu erteilen.

Mir fällt gerade noch rechtzeitig ein, mir auch eine Tüte Erbsen für meine Knie herauszuholen.

Ian hält Wort und rührt mich den ganzen Abend nicht an.

Ich muss nach Hause gehen und mich zu Erinnerungen an ihn unter dieser Dusche selbst berühren wie ein geiler Teenager.

Ich glaube, unser nächster Kuss steht unmittelbar bevor. Es muss so sein. Am nächsten Tag befeuchte ich meine Lippen alle fünfzehn Minuten mit Fettstift. Ich vergewissere mich, dass mein Atem frisch und minzig ist, und überprüfe unentwegt, ob ich Essensreste zwischen den Zähnen hängen habe. In der ersten Stunde sagt Nicholas mir, dass ich anders aussehe. »Strahlend« ist der genaue Ausdruck, den er wählt. Der Junge ist zu aufmerksam.

Mittags warte ich mit auf dem Tisch vor mir ausgebreitetem Proviant im Lehrer-Pausenraum auf Ian. Als er hereinkommt, unterhält er sich gerade mit einem Kollegen, und ich kriege einen Lungenkollaps. Ich ringe um Atem, als hätte ich ein Leben lang geraucht.

Heute trägt er passend zu seinen Augen ein blassblaues Hemd. Seine marineblaue lange Hose ist neu und sitzt zu gut an seinem Hintern. Seine Haare sind dicht und kaffeebraun. Das sind die Details, die meine Asthmasymptome verursachen.

Damit bin ich nicht allein.

Ashley sitzt neben mir und starrt Ian an wie ein saftiges Lammkotelett.

»Gott, ich liebe es, wenn er Blau trägt«, haucht sie.

Wenn ich eine Waffe griffbereit hätte, wäre sie tot, und ich hätte eine lebenslange Gefängnisstrafe vor mir, aber keine Sorge – ich würde einen landesweiten Radiosender anheuern, damit sie einen Podcast über mich machen. Sie würden meine leidenschaftliche Liebe für Ian enthüllen, und den Hörern würde es leidtun, dass er es mir gestern Abend nicht französisch gemacht hat. Sie würden meine Tat für ein Verbrechen aus Leidenschaft halten und die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangen. Der Richter würde aufgrund eines obskuren Cunnilingus-Gesetzes die Verurteilung aufheben, und ich würde im Nullkommanichts wieder freigesprochen. Sorry, Ash.

Ich beobachte, wie Ian durch den Raum kurvt, um zu unserem Tisch zu gelangen. War er schon immer so ein Pfundskerl? War ich schon immer in ihn verliebt?

Ich setze mich kerzengerade hin und starre auf mein Essen, weil ich mir überdeutlich bewusst bin, dass Ian und ich in Erklärungsnot geraten werden, wenn mich jemand dabei erwischt, wie ich ihn mit Herzchen in den Augen anstarre. Ich weiß nicht, ob eine Liebesbeziehung zwischen Kollegen gegen die Schulregeln verstößt. Wahrscheinlich ist es nur verpönt, aber trotzdem, ich will nicht, dass alle über unsere Privatangelegenheiten Bescheid wissen. An dieser Schule verbreitet sich Tratsch wie ein Lauffeuer, vor allem wenn er so pikant ist wie das hier.

»Hallo, Ian!«, ruft Ashley aus, sobald er sich den Stuhl mir gegenüber herauszieht.

Er nickt ihr zu, während er sich setzt. Unsere Knie stoßen aneinander, aber so rot, wie ich anlaufe, hätte er genauso gut seine Hand in meinen Slip schieben können.

»Hast du gestern Abend etwas Interessantes unternommen?«, fragt Ashley ihn. »Ich bin bei einem Real-Housewives-Marathon versackt. Ich kann diesen Zickenkriegen einfach nicht widerstehen!«

»Ach, ähm, ja, mein Abend war okay. Nichts Denkwürdiges.«

»Gar nichts davon?«, blaffe ich ihn an, bevor ich mich eines Besseren besinnen kann.

Sein Lächeln erstirbt, während er sich damit beschäftigt, sein Mittagessen auf dem Tisch auszupacken. »Wenn ich so drüber nachdenke, war es einfach nur einer dieser Abende, die echt ätzend sind, weißt du?«

Ich gebe einen Laut von mir, der irgendwo zwischen einem Lachen und einem Weinen angesiedelt ist.

Ashley sieht verwirrt von einem zum anderen. »Das tut mir leid zu hören. Du bist jederzeit herzlich eingeladen, mit mir Bravo zu bingewatchen.«

»Keine Ahnung, was das heißen soll.« Er wendet sich an mich. »Sam, ich habe die Reste von gestern mitgebracht. Es ist eine Menge. Willst du was davon?«

»Ja. Hier, mein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich will ich nicht. Du kannst es als Snack vor dem Fußballtraining essen.«

»Reste? Dann habt ihr gestern Abend zusammen abgehangen?«, fragt Ashley Ian. »Was habt ihr gemacht?«

»Ist es mit Himbeergelee?«, will er skeptisch wissen. »Ich dachte, du hättest keines mehr.«

Ich verdrehe die Augen und schiebe ihm das Sandwich hin. »Ich hab gestern auf dem Heimweg noch welches geholt, weil du jedes Mal, wenn ich Traubengelee benutze, vier Tage am Stück darüber jammerst.«

»Hallo?«, sagt Ashley, die es satthat, ignoriert zu werden.

»Was?«, frage ich ungeduldig.

»Was habt ihr gemacht?«

Ich zucke mit den Schultern. »West Wing geguckt.«

Ian grinst geheimnisvoll, was Ashley nicht entgeht.

»Das klingt doch nicht so schlecht. Was war daran ätzend?«

Meine Augen werden vor Angst groß. Seit wann hat sie uns auf ihrem Radar? Ach ja, seit sie beschlossen hat, auf Ian zu stehen.

»Das war einfach keine gute Folge«, rettet er sich mit einer Lüge. Jeder echte Fan weiß, dass es so was nicht gibt. »Und ich habe mir den Zeh gestoßen.«

Er will nur helfen, macht es aber bloß noch schlimmer.

»Ah … okay. Tja, dann hoffe ich, Sam hat dir eine schöne Fußmassage gegeben oder so …«

Sie weiß es. Sie weiß es!

Ich handele schnell.

»Isst du gern Brezeln, Ashley?«, frage ich freundlich.

Sie lebt förmlich auf. »Total.«

Ich werfe ihr die Tüte zu, und sie lässt sie in ihre Handtasche plumpsen.

Dann beobachte ich, wie sie sich der Macht bewusst wird, die sie auf einmal hat.

»Weißt du, was, Schokolade mag ich auch«, sagt sie mit einem zu höflichen Lächeln. Was sie damit meint, ist völlig klar: Gib mir die Schokolade, oder ich erzähle allen, dass ihr rumgemacht habt. Ich klatsche ihr den Becher mit meinem Schokodessert in die Hand, und sie triumphiert. »Sehr nett.« Dann wendet sie sich an Ian. »Übrigens, Ian, ich hab mich gefragt, was du an diesem Samstag vorhast. Ich will diesen neuen Naturpfad bei mir in der Nähe ausprobieren, und du scheinst gern an der frischen Luft zu sein.« Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Das könnte spaßig werden.«

Moment mal. Was?

»Als Freunde«, stellt sie klar, um das Terrain zu sondieren. »Es inspiriert mich, wie freundschaftlich hier alle miteinander umgehen.«

Ian erklärt ihr, dass er am Wochenende zu tun hat, und dann quatscht Ashley über irgendwas anderes, das mich nicht interessiert. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, ihr dabei zuzusehen, wie sie meinen gottverdammten Pudding in ihren Mund löffelt. Dabei kleckert ein kleines bisschen auf ihre Lippe. Ich kaue an meinen Fingernägeln. Sie leckt den Löffel ab, und ich widerstehe dem Bedürfnis, ihr den Becher aus der Hand zu schlagen. Und dann – dann – isst sie nicht mal alles auf.

»Bäh, ich bin so voll.«

Ich bohre meine Fingernägel so fest in meine Handfläche, dass es blutet.

Ian ist schlau genug, mir auf dem Weg zurück in unsere Klassenzimmer am Automaten einen Schokoriegel zu ziehen. Er drückt ihn mir in die Hand und sagt mir, dass ich ihn restlos aufessen soll.

»Und beruhige dich. Was wir machen, interessiert keinen. Du bist paranoid.«

Er hat recht, ich bin paranoid, aber das spielt keine Rolle. Denn schon bald implodiert mein Leben ganz von selbst.