Ian
Ich habe Sam vierunddreißigmal angerufen. Als ich es zum fünfunddreißigsten Mal versuche, verdreht mein Handy die Augen und schickt mir eine Warnmeldung, die nur besagt: Hat keinen Zweck, Alter. Dieser Tag ist einer der schlimmsten seit Beginn der Aufzeichnungen, vor allem im Vergleich zu den Tagen davor. Mit Sam zu frühstücken, in meinem Auto mit ihr rumzumachen, per E-Mail mit ihr zu flirten – das Leben lief nach Plan, doch dann musste sie versehentlich dieses Foto an die gesamte Schule schicken. Mist. Ich wünschte, ich wäre es gewesen. Sam gibt sich immer so belastbar und stark, doch in Wahrheit besteht sie aus Marshmallow-Masse. Sie kann die Sache nicht mit einem Lachen abtun und einfach weitermachen. Für sie ist es demütigend, und wie zum Beweis ist sie während der ersten Stunde einfach abgehauen. Als ich zu ihrem Klassenraum ging, um sie dazu zu zwingen, mit mir zu reden, saß eine ältere Frau an ihrem Tisch. Mein erster Gedanke lautete: Wow, Stress lässt dich ganz schön altern. Doch dann wurde mir klar, dass es Mrs. Orin war, die einsprang, bis Sams Vertretung kam.
Ich bin sauer auf Sam, weil sie meine Anrufe ignoriert und mich ausschließt. Ich will ihr doch nur helfen, die Last zu tragen. Sie ist damit nicht allein.
Aber dann verstehe ich es. Es herrscht eine Doppelmoral. Wäre sie dageblieben, hätte man sie verspottet und gnadenlos veralbert. Mir hingegen begegnen den ganzen Tag irgendwelche Lehrer- und Trainerkollegen im Flur und gratulieren mir. Ich vermeide zahllose High-Fives, Faustchecks und kumpelhaftes Schulterklopfen. Der nächste Typ, der mir anzüglich zuknurrt oder zuzwinkert oder einen Witz über Sam und Schlagsahne reißen will, wird sich seinen zertrümmerten Kiefer verdrahten lassen müssen.
Nach dem Fußballtraining verzichte ich aufs Duschen und fahre direkt zu Sam nach Hause. Ich klopfe so lange an ihrer Tür, bis ihr Nachbar mich anschreit, endlich abzuhauen.
Als ich ihn frage, ob er Sam gesehen hat, antwortet er: »Nie von ihm gehört.«
Okay – wir haben beide sonst keine Freunde.
Als ich wieder im Auto sitze, versuche ich noch einmal, sie anzurufen, werde aber direkt zu ihrer Voicemail geleitet. Mir bleibt nichts anderes übrig, als durch die Stadt zu fahren und alle möglichen Orte abzuklappern, an denen sie sein könnte. Ich sehe in dem Bäckerladen nach, wo sie gerne Cupcakes kauft, in dem anderen, in dem sie sich gern Cookies holt, und in dem dritten, wo sie immer ihren Bananenpudding ersteht. Keiner hat sie gesehen. Ich frage im Eiscafé, im Popsicle Shop und schließlich im Frozen-Yogurt-Shop.
Der Mann dort schüttelt wütend den Kopf.
»Ein zierliches kleines Ding? Rothaarig? Ja, die war hier – hätte sie fast rausschmeißen müssen. Sie war auf Drogen, kam hier rein und hat eine Riesensauerei angerichtet.«
Was?
»Haben Sie gesehen, wohin sie danach gegangen ist?«
»Wahrscheinlich irgendwohin, um sich mehr Pferdetranquilizer zu besorgen.«
Ich gehe wieder raus und versuche, wie Sherlock Holmes zu denken. Ich suche den Parkplatz nach Hinweisen ab und versuche, mich in ihre Lage zu versetzen.
Mir gehen die Ideen aus, doch dann beschließe ich, dass es nicht schaden kann, im Haus ihrer Eltern nachzusehen, auch wenn sie ihnen nicht besonders nahesteht. Sie sind versnobt und voreingenommen, und ich bezweifele, dass sie sich an einem solchen Tag an sie wenden würde, aber tatsächlich, ihr Fahrrad liegt in ihrer Auffahrt.
Ich parke und gehe zur Haustür, doch niemand reagiert auf mein Klopfen.
Im Erdgeschoss ist es dunkel, und die Jalousien sind geschlossen, aber ich höre drinnen Stimmen. Es ist eindeutig jemand da. Als ich an der Klinke rüttele, geht die Tür auf. Sie war die ganze Zeit unverschlossen.
Ich trete ein und rufe, aber niemand antwortet. Die Stimmen, die ich von draußen hören konnte, kommen aus dem Radio in der Küche. Unheimlich.
Ihre Eltern sind eindeutig nicht zu Hause, doch ich weiß, dass Sam da ist. Ich war zwar erst wenige Male hier, aber ich erinnere mich, dass ihr Zimmer das erste rechts im Obergeschoss ist.
Und tatsächlich, dort finde ich sie auf ihrem Bett, an die Zimmerdecke starrend.
Ich bleibe in der Tür stehen, während sich in meinem Gesicht ein Lächeln ausbreitet. Es fühlt sich gut an, sie gefunden zu haben, zu wissen, dass es ihr gut geht … einigermaßen. Ich meine, sie liegt da in ihrer albernen Blaskapellenuniform aus der Highschool. Sie versinkt total in dem steifen rot-schwarzen Stoff. Auf dem Kopf hat sie den Blaskapellenhut mit rotem Federschmuck. Sie sieht damit aus wie ein Gockel. Die Katze ihrer Eltern spielt damit wie mit einer Maus.
Ihre Augen und Wangen sind rot. Ich frage mich, wie viel sie heute schon geweint hat.
Zögernd trete ich einen Schritt hinein, aber ihr Blick bleibt an der Zimmerdecke haften, als wäre sie ins Koma gefallen.
»Wo sind deine Eltern?«
»Auf Alaska-Kreuzfahrt.« Ihre Stimme ist ruhig.
Das ergibt Sinn.
»Sie lassen das Radio an, während sie weg sind?«
»Sie wollen sichergehen, dass eventuelle Einbrecher über das aktuelle Weltgeschehen informiert sind, wenn sie das Haus ausräumen.«
Mein Lächeln wird breiter.
Am liebsten würde ich sie küssen, aber mir ist klar, dass es der falsche Zeitpunkt ist.
Stattdessen setze ich mich an ihren Schreibtisch – zumindest versuche ich es. Ihr Stuhl ist winzig, und meine Hüften passen kaum zwischen die Armlehnen. Schließlich gelingt es mir, und wir sitzen eine Weile schweigend da, während ich ihr Zimmer auf mich wirken lasse. Vor heute hatte ich nie die Gelegenheit, es mir richtig anzusehen. Als wir das letzte Mal hier waren, war sie zu schüchtern, mir zu erlauben, mich darin umzuschauen, aber jetzt kann ich mich an der Teenie-Version von Sam sattsehen. Die Wände sind in Lindgrün gestrichen. CDs füllen ein ganzes Bücherregal. Auf ihrer Kommode sind Blaskapellen-Trophäen und Uni-Journalismus-Preise aufgereiht. Wo andere Mädchen ein gerahmtes Bild einer Boygroup stehen hätten, hat sie ein Foto von Jean-Luc Picard auf dem Nachttisch.
Ich liebe sie.
Sie macht ein Geräusch wie ein Tier, das in einer Bärenfalle gefangen ist, und ich sehe zu ihr. Sie versucht, sich auf dem Bett anders hinzusetzen, aber der steife Stoff ihrer Blaskapellenuniform schränkt ihre Bewegungsfähigkeit ein.
»Was soll die Aufmachung?«
Sie sieht an sich herab, als würde ihr gerade erst einfallen, was sie anhat. »Ach ja. Ich gehe an einen Zeitpunkt in meinem Leben zurück, bevor ich diese Mail an die ganze Schule verschickt habe. In der Psychologie nennt man das Regression, glaube ich.«
Ich lege den Kopf schief und warte darauf, dass sie mir in die Augen sieht, aber Fehlanzeige.
»Ich verstehe total, dass du heute nicht in der Schule sein willst, aber nur damit du es weißt, das ist keine große Sache. Es gibt keine Vorschrift gegen das Versenden lustiger Bilder.«
Als sie antwortet, triefen ihre Worte vor Sarkasmus. »Wie schön. Ich bin ja so froh, dass es keine Vorschrift gegen öffentliche Demütigung gibt – aber warte, wenn es die nicht gibt, warum werden wir dann ins Büro des Schuldirektors bestellt?«
»Als Erwachsener wird man nicht ›ins Büro des Schuldirektors bestellt‹. Man wird zu einer Besprechung gebeten.«
»Wir sind so oder so im Arsch.« Sie hebt resigniert die Arme und lässt sie dramatisch wieder sinken. Ihre Querflöte segelt auf den Boden.
»Er will nur mit uns über die E-Mail sprechen.«
»Und uns sagen, dass wir gefeuert sind.«
»Wahrscheinlich müssen wir unsere Beziehung betreffend nur irgendeine Auskunft für den Personalrat unterzeichnen.«
»Beziehung? Ich bin die fünfzehnjährige Sam. Ich hab dich noch nicht kennengelernt. Und jetzt geh bitte, damit ich mir weiter TRL reinziehen kann. Danach kommt MTV Cribs, das will ich nicht verpassen.«
Na schön, ich lasse sie. Sie hatte einen harten Tag.
Ich wende mich ab und fange an, an ihrem Schreibtisch herumzuschnüffeln. Ich will in jeder einzelnen Schublade nachsehen, jedes Buch aufschlagen. In ihrem Schreibtisch finde ich einen violetten Game Boy, eine CD von Blink-182 und eine handgeschriebene Liste ihrer Myspace-Top-8. Namen wurden durchgestrichen und darunter neue hinzugefügt. Ich frage mich, wie ich abgeschnitten hätte.
»Was guckst du dir an?«
»Nichts.«
Sie ist zu neugierig und steht stöhnend vom Bett auf. Meine List hat funktioniert. Sie stellt sich neben mich und versucht, die Schublade zuzuschieben, was ich nicht zulasse. Stattdessen ziehe ich ein zerlesenes Taschenbuch mit abgerissenem Cover heraus.
»Was ist das?«
»Nichts! Gib das her, Ian!«
Ihre überzogene Reaktion bewirkt, dass ich es ihr erst recht nicht zurückgeben werde. Ich halte Sam mit ausgestrecktem Arm auf Abstand, sodass sie nicht herankommt und ich den Buchrücken lesen kann.
»Der versteckte Schatz des Piraten.«
Ach, das ist ja hochinteressant.
»Hat Teenie-Sam gern Liebesromane gelesen?«
»Ian, komm schon.«
»Lass mich nur eine Seite lesen.«
Mit einem Knurren schlüpft sie unter meinen Arm, entreißt mir das Taschenbuch und schleudert es quer durch den Raum. Es klatscht an die Wand und sackt zu Boden.
Mir steht der Mund offen. Sam atmet schwer. Einen Moment später rückt sie ihren Hut gerade und zieht ihr Uniform-Oberteil herunter. Dann gibt sie seelenruhig zu: »Meine Mutter hat mir nicht erlaubt, irgendetwas anderes als Hühnersuppe für die Teenager-Seele zu lesen. Ich musste meiner Freundin dieses Buch klauen, nur um … na ja, zu erfahren, worum es geht.«
Ich gebe vor, ihr zu glauben. »Ach, dann hast du es nur aus Neugier gelesen? Denn dieser Buchrücken sieht ganz schön mitgenommen aus.«
Sie stöhnt. »Jetzt hör mal gut zu. Ja, ich hab ständig darin gelesen. Den Teenies von heute stehen Kindles und Highspeed-Internetzugänge zur Verfügung, und ich hatte Der versteckte Schatz des Piraten, also lass mich in Ruhe.«
Ich greife nach ihren Hüften und ziehe sie auf meinen Schoß. Ihr museumsreifer Schreibtischstuhl aus Holz protestiert ächzend. Unser gemeinsames Gewicht kann sich jeden Moment als zu viel erweisen, und wir werden zu Boden krachen.
Sam versucht, sich aus meinem Griff herauszuwinden, aber ich halte sie gut fest. Als sie endlich Ruhe gibt und auf mir sitzen bleibt, nehme ich ihr den Hut ab. Er fällt zu Boden, und ich streiche mit dem Daumen über die hochrote Linie, die er auf ihrer Stirn hinterlassen hat. Mit ihren blauen Augen sieht sie in meine, und zum ersten Mal, seit ich hier bin, hat sie den Mut, meinen Blick zu erwidern. Ich habe sie noch nie so deprimiert erlebt.
Ich lege besorgt die Stirn in Falten.
»Das von heute tut mir leid.«
Sie schließt die Augen und schiebt die Unterlippe vor. »Nein. Gott, ich bin doch diejenige, die Mist gebaut hat. Ich sollte mich bei dir entschuldigen.«
Sie sieht an die Zimmerdecke, während ihr die Tränen in die Augen steigen. Sie bemüht sich sehr, nicht zu weinen, während ich ihre Taille noch fester umfasse. Ich schiebe meinen Daumen nur ein kleines Stückchen unter ihre Blaskapellenbluse, und ihre weiche Haut fühlt sich so gut an, dass ich die ganze Hand unter den Stoff schiebe und sie auf Sams Rücken lege. Viel Hautkontakt ist das nicht, aber ich habe Herzklopfen, weil sie mir so nahe ist.
Eine Träne fließt schließlich doch, woraufhin Sam sich nach vorne lehnt und den Kopf an meine Schulter legt. Sie zieht die Knie an und hat sich quasi auf meinem Schoß zusammengekauert. Ich ziehe sie noch fester an mich. Wenn mein Shirt dehnbarer wäre, würde sie versuchen, sich darunter zu verkriechen und bis in alle Ewigkeit dortzubleiben.
»Das ist doch albern. Aber ich weine nicht nur wegen heute. In letzter Zeit hat sich so viel verändert, und dafür bin ich nicht gemacht. Es ist zu viel.«
Das ist mir klar. Sam ist ein Gewohnheitstier, was bedeutet, dass die letzten Tage für sie doppelt schwer waren.
»Wie kann ich helfen?«
Ich spüre, wie sie den Kopf an meiner Schulter schüttelt. »Gar nicht, aber zumindest riechst du gut.«
Ich lächele, als mir etwas einfällt.
»Der Froyo-Typ hat gesagt, du hättest Drogen genommen.«
Sie lacht leise, ohne den Kopf anzuheben. »Nein, ich hab mich übergeben. Keine Sorge, ich hab mir die Zähne geputzt, als ich hierherkam.«
Ich runzele die Stirn. »Warum hast du dich übergeben?«
»Ich habe Pruitts E-Mail bekommen, und bei dem Gedanken, was noch auf uns zukommen könnte, wurde mir schlecht.«
Verdammt.
»Hör auf, dich zu sorgen. Alles wird gut.«
»Das glaube ich nicht. Ich werde mich morgen krankmelden.«
»Also, ich gehe zu der Besprechung. Aber wenn du hierbleiben und weiter tun willst, was immer das auch ist, verstehe ich es.«
»Regression, erinnerst du dich?«
»Du bist stärker als das hier, Sam. So schlimm ist die E-Mail gar nicht.«
Sie stöhnt.
»Wenn du dazu kommst, solltest du mal den ganzen Thread lesen. Du könntest positiv überrascht sein.«
Der Stuhl senkt sich leicht. Holz knarzt und erbebt. Gerade sitzt Sam noch an mich gekuschelt auf meinem Schoß, und in der nächsten Sekunde liegen wir auf dem Boden. Ein Stuhlbein rammt sich in mein Kreuz, und ich zucke vor Schmerz zusammen.
Wäre ich ein Sprachwissenschaftsfreak statt eines Naturwissenschaftsfreaks, würde ich diese Szene als passende Metapher für unsere aktuelle Situation begreifen. Sam muss es mir erklären: »Willkommen ganz unten.«