Kapitel 18

Sam

Eine Stunde später betreten wir das Standesamt, an den Fingern Plastikringe, die wir für zwei Vierteldollar in dem Lebensmittelladen gegenüber von Sonic erstanden haben. Ich rechne da drin mit einem Riesengedöns – Luftballons, Luftschlangen, weiße Vorhänge –, komme mir aber eher vor wie in der Warteschlange auf der Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle, als eine supersachliche Frau namens Ethel unsere Nummer aufruft.

Als wir in ihrer Bürozelle Platz nehmen, bin ich von Zucker und Liebe high. Ethel hingegen hat offenbar ihre Tasse Nachmittagskaffee noch nicht intus. Sie sieht zweimal auf ihre Uhr, bevor sie uns endlich zur Kenntnis nimmt.

»Nennen Sie mir Ihre Namen.«

»Tag! Hallo! Ich bin Sam – Samantha Abrams. Das ist mein Verlobter, Ian Fletcher. O mein Gott, ich werde mit Nachnamen Fletcher heißen! Ich werde nicht mehr die Erste im Alphabet sein, wenn die Anwesenheit festgestellt wird!«

Alles stürzt auf einmal auf mich ein.

Ich heirate!

Ich werde Ians Frau!

Ich bin aufgeregt und lächele so breit, dass mir die Wangen wehtun. Ian lacht und nimmt meine Hand in seine. Anders als ich zittert er nicht. Sein Energielevel entspricht eher dem Ethels.

»A-b-r-a-m-s?«, fragt Ethel und richtet ihre Glasbaustein-Brille auf ihren Computerbildschirm.

Ich beuge mich vor und schreie fast: »Ja!«

Alles, was ich sage, ist mit einem Lächeln und einem Ausrufezeichen versehen. Sie könnte mich fragen, ob meine Urgroßeltern tot sind, und ich würde von einem Ohr zum anderen grinsen und ausrufen: Aber so was von, mausetot!

»F-l-e-t-c-h-e-r?«

Ian nickt. »Ja, Ma’am.«

Ma’am! Mein Verlobter ist so respektvoll!

Ich sehe ihn mit verträumtem Blick an, und er drückt meine Hand.

Derweil tippt Ethel weiter und hämmert auf die Tastatur, als würde sie Trommeln schlagen. Sie kommt mir nicht sehr motiviert vor. Sieht sie uns an, dass wir uns erst vor einer Stunde verlobt haben? Ist es offensichtlich, dass das eine spontane und dumme Aktion ist?

Was, wenn sie uns Fragen stellt, um zu überprüfen, ob wir ineinander verliebt sind, und wir unterschiedliche Antworten geben?

Ian, ist es Sam beim Koitus lieber, wenn der Mann oben ist, oder die Frau?

Das weiß er nicht!

Plötzlich wird mir heiß, und ich gerate ins Schwitzen. Ich schiebe Panik, als wäre das eine Greencard-Hochzeit.

In Wahrheit stellt Ethel uns nur Fragen darüber, ob wir in irgendeiner Weise verwandt sind oder ob einer von uns mit Unterhaltszahlungen im Rückstand ist, aber das hält mich nicht davon ab, ihr Lügen über unsere Beziehung zu erzählen, für alle Fälle.

»Er hat mir diesen riesigen, übertriebenen Heiratsantrag gemacht, mit Helikoptern und allem Drum und Dran. Sogar Bill Murray war da!«

Sie grunzt, während sie weitertippt.

»Wir sind heute seit drei Jahren zusammen«, prahle ich. »Deshalb bin ich so emotional.«

Ethel sieht mich über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Gratuliere.« Ein aufrichtiger Glückwunsch klingt anders. »Ist einer von Ihnen bereits verheiratet?«

Ich blinzele verwirrt. »Ich sagte Ihnen doch gerade, dass wir seit drei Jahren ein Paar sind.«

Sie seufzt und sieht zum dritten Mal auf ihre Uhr. »Ich muss Ihnen jede Frage auf dem Computerbildschirm stellen. Ja oder nein?«

»Nein«, antworten wir im Chor.

So viel zur Romantik. Ethel druckt Formulare aus, klatscht Stempel darauf und bugsiert uns so schnell wie möglich aus der Tür. Wir ziehen mit einer manilafarbenen Heiratserlaubnis und der strikten Anweisung ab, zweiundsiebzig Stunden zu warten, bevor wir den Bund der Ehe schließen.

Das ist mir neu. Ich dachte, wir bekämen die Erlaubnis, kurz rüber zum Gerichtsgebäude zu springen, und hätten bis zum Abendessen alles erledigt.

Zweiundsiebzig Stunden kommen mir vor wie ein ganzes Leben. Auf alle Fälle ist es so viel Zeit, dass mein Zuckerrausch nachlässt und uns klar wird, wie ganz und gar unvernünftig das alles ist. Ich will aber nicht nachdenken. Ich will weiter Ians Spiel spielen. Ich will jetzt sofort heiraten!

Ian spürt das, glaube ich, denn auf dem Weg zurück zu seinem Wagen schweigt er. Er öffnet mir galant die Tür, und als wir beide sitzen, greife ich wieder nach seiner Hand. Es bereitet ihm Schwierigkeiten, auszuparken und rückwärts auf die Straße zu fahren, während ich ihn festhalte, aber ich kann ihn nicht loslassen. Er ist das Einzige, was mich noch erdet.

»Wollen wir nach Las Vegas fahren? Dort gibt es keine Wartezeit.«

»Wir würden allein für den Hin- und Rückweg zweiundsiebzig Stunden brauchen. Lass uns einfach hier warten.«

»Aber ich habe das Gefühl, dass wir in Bewegung bleiben müssen! Passiert das alles wirklich?«

Er nickt und biegt an der Ampel nach rechts ab.

»Das ist doch kein ausgeklügelter Streich von dir? Denn du könntest echt eine bessere Partie machen.«

»Quatsch nicht. Du bist wunderschön und lustig.«

»Was?!«

Ein Heiratsantrag ist eine Sache, aber mich wunderschön und lustig zu nennen eine ganz andere. Ich bin mir nicht sicher, was mir wichtiger ist.

»Ian Fletcher findet mich wunderschön«, sage ich zu niemand Bestimmtem. »Wow.«

»Hmhm. Guck nicht so erstaunt. Soll ich noch kurz an der Schule vorbeifahren, damit wir dein Fahrrad holen können?«

»Ja, gern.«

»Was machen wir mit dem Abendessen? Willst du zur Feier des Tages was vom Chinesen?«

»Ja! Sesam-Hähnchen. Warte, Mist – ich muss zu meinen Eltern. Sie sind heute Morgen von ihrer Kreuzfahrt zurückgekommen, und ich habe ihnen versprochen, mit ihnen zu Abend zu essen, damit sie mir Fotos zeigen können.« Verdammt. »Ich könnte absagen.«

»Nein. Du siehst sie sowieso schon so selten.«

So ein verständnisvoller Gatte.

»Komm doch einfach mit, dann können wir es ihnen gemeinsam sagen«, schlage ich vor und hoffe, dass er mich das nicht allein durchfechten lässt.

Er zuckt mit den Achseln. »Das ist keine schlechte Idee. Was glaubst du, wie sie es aufnehmen werden?«

»Wenn mich die letzten Tage etwas gelehrt haben, dann, dass es vollkommen sinnlos ist, die Zukunft vorhersagen zu wollen. Nehmen wir es einfach, wie es kommt.«

Ich hatte mit voller Absicht den auf der Hand liegenden Ausgang des Ganzen ignoriert. Meine Eltern, Genine und Thomas, sind todlangweilig und altmodisch. Meine Mutter hat mir, bevor ich sieben war, nicht erlaubt, mir die Haare zu schneiden. Make-up durfte ich erst tragen, als ich alt genug war, es mir selbst zu kaufen. Sie trinken keinen Alkohol. Sie haben Vorurteile, und ich versuche normalerweise, sie zu meiden, ohne sie komplett aus meinem Leben zu streichen.

Als ich für sie völlig unerwartet mit Ian im Schlepptau zum Abendessen erscheine, geben sie sich höchst pikiert.

»Es ist nur so, dass wir den Tisch nur für drei gedeckt haben«, erklärt meine Mutter, als hätten sie lediglich drei Teller im ganzen Haus.

»Und ich hab nur drei Steaks gekauft«, nörgelt mein Vater.

»Wenn jeder ein Viertel von seinem abschneidet, haben alle ein drei viertel Steak!«, verkünde ich fröhlich.

»Ich mag alle meine Viertel«, fährt der Nörgler fort.

»O-kay, du kannst auch mein ganzes haben.«

Ich bin zu nervös, um echten Appetit zu haben. Außerdem war dieses Blast riesig.

»Dann ist ja alles in Butter«, sagt meine Mutter spöttisch.

Nachdem sie keine Zweifel daran gelassen haben, dass er nicht willkommen ist, rechne ich damit, dass Ian irgendeine Ausrede vorbringt (Der Ofen ist noch an? Er muss sich die Haare waschen?) und dann nach links von der Bühne abgeht. Aber nein, er bleibt an meiner Seite und nimmt hin, dass ich seine Hand immer noch fest umklammert halte. Inzwischen ist unsere Haut miteinander verschmolzen. Er muss sich operieren lassen, wenn er mich loswerden will.

Als könnte sie meine Gedanken lesen, senkt meine Mutter ihren Blick auf unsere Hände, und aufgrund ihrer Miene schaue ich auch hin. Sie sieht so entsetzt aus, dass ich kurz denke: O nein, haben wir aus Versehen Sex oder so?

Nein, wir halten nur Händchen wie das unsittliche, unmoralische Pärchen, das wir sind.

»Samantha, willst du dich vor dem Essen nicht im Bad etwas frisch machen?«, fragt meine Mutter, die mich weiter prüfend ansieht und mein Aussehen offenbar als unzureichend erachtet. »Ich glaube, ich habe noch ein Kleid, das du dir anziehen kannst, wenn du möchtest.«

Ich trage immer noch mein blaues Kleid aus der Schule. Daran ist nichts auszusetzen. Vor ihrer Bemerkung habe ich mich sogar hübsch darin gefühlt.

Ian fängt meinen Blick auf, verengt die Augen und schüttelt den Kopf. »Du siehst toll aus«, sagt er so laut, dass meine Eltern es beide hören.

Okay. Meine Mutter wendet sich mit zusammengepressten Lippen ab, um mit der Vorbereitung des Abendessens fortzufahren. Ein paar Minuten kommt das Gespräch zum Erliegen, während mein Dad sich hektisch am Herd an den Steaks zu schaffen macht und meine Mom eilig ein viertes Gedeck auf den Tisch stellt.

Dabei murmelt sie die ganze Zeit vor sich hin, Nettigkeiten wie: »Ist es zu viel verlangt, vorher anzurufen?«

Ich gehe nicht darauf ein. Wenn sie sich schon über einen zusätzlichen Tischgast so ärgert, wie wird sie es dann erst aufnehmen, wenn unsere Familie ein neues Mitglied bekommt?

Als mein Dad verkündet, dass die Steaks verzehrfertig sind, dirigiert meine Mom uns an den Tisch und fordert uns auf, uns zu setzen. Ich lasse nur widerwillig Ians Hand los.

»Kann ich mit irgendetwas helfen? Die Getränke holen?«, fragt er.

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, nein, wir haben alles im Griff. Hätten Sie lieber stilles Wasser oder Sprudel?«

Was würde ich nicht für einen ganzen Bottich Wein geben.

»Stilles ist in Ordnung. Danke«, antwortet Ian, und ich stimme ihm zu.

Dann beginnt ein absolut katastrophales Abendessen. Mein Vater sitzt vor Kopf, meine Mutter ihm gegenüber, und Ian und ich eingequetscht in der Mitte. So klein ist der Tisch zwar gar nicht, aber ihre Voreingenommenheit nimmt eine Menge Raum ein.

»Wie lange seid ihr zwei denn ein Liebespaar?«, fragt meine Mom schnippisch.

»Ach, ähm, erst seit Kurzem«, umgehe ich die Wahrheit mit einem Allgemeinplatz.

»Ich wusste nicht, dass eure Beziehung sich weiterentwickelt hat. Wart ihr nicht vorher nur befreundet?«

Ich nicke und gebe so wenig Details preis wie möglich. »Es ist noch ganz frisch.«

»Ian, was machen Sie noch mal beruflich?«, fragt mein Vater und sieht ihn unter seinen dichten, zotteligen Augenbrauen forschend an.

»Ich unterrichte an derselben Schule wie Sam.«

»Ach ja.« Er nickt. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Verdienen Sie dort gut?«

Meine Augen quellen aus meinem Kopf hervor.

»Dad.«

Ian lässt sich nicht beirren. »Das Gehalt ist in Ordnung, aber Geld war noch nie meine Motivation.«

»Ach, erzählen Sie mir nicht, dass Sie einer dieser Hippies sind, die Geld nicht für wichtig halten. Ich sage es Ihnen nur ungern, aber Frieden und Liebe allein halten einen im Winter nicht warm.«

Ian verzieht keine Miene, als er antwortet. »Sie haben recht. Glücklicherweise habe ich nach dem College eine Zeit lang in der Pharmaindustrie gearbeitet, viel gespart und es über die Jahre hinweg gut investiert. Um die Heizkosten zu decken, reicht es allemal.«

Die Augenbrauen meines Vaters schießen hoch, hauptsächlich weil Ian die Unverfrorenheit besaß, ihm Widerworte zu geben.

»Aber nebenbei bemerkt, mit Frieden und Liebe kommt man im Leben recht weit. Sam und ich brauchen nicht viel zum Glücklichsein.« Er fängt meinen Blick auf, und ich lächele ihn an.

Mein Dad knurrt unwillig und ist unübersehbar der Meinung, dass Ian erst noch erwachsen werden muss.

»Warten Sie nur, bis Sie eine Familie ernähren müssen. Kinder großzuziehen ist teuer.«

Kinder.

Mir wird ganz heiß. So weit waren wir noch gar nicht. Vielleicht will Ian gar keine Kinder. Ich senke den Blick auf mein Dreiviertelsteak und weiß, dass ich keinen einzigen Bissen werde herunterwürgen können.

»Wir schaffen das schon, da bin ich mir sicher«, antwortet Ian belustigt. Er hasst das. Er versteht sowieso nicht, warum ich mich überhaupt mit meinen Eltern abgebe. »Ich denke, wenn wir neun oder zehn Kinder haben, können wir sie als Kaminfeger arbeiten lassen …«

»Ach ja, habt ihr zwei denn schon über die Zukunft gesprochen?«, unterbricht meine Mom ihn schrill.

Ian und ich sehen uns wieder an, und er zieht die Augenbrauen hoch. Was er mir damit sagen will, ist klar: Ergreife die Gelegenheit. Jetzt oder nie.

Ich lege meine Gabel beiseite, atme tief durch und verkünde kurz und bündig: »Ian und ich sind verlobt.«

Besteck fällt klirrend auf den Tisch. Als ich zu meiner Mutter sehe, greift sie sich vor Schreck ans Herz. »Verlobt?!«

Sie proklamiert das Wort wie eine Schauspielerin vor einem brechend vollen Theater am Broadway.

Ich lächele und antworte schlicht: »Ja. Wir heiraten in zweiundsiebzig Stunden.«

»Zweiundsiebzig? Stunden?! Was …«

Die Frage meines Vaters wird von einem Schluchzer meiner Mutter unterbrochen.

»Samantha Grace, wovon sprichst du? Zweiundsiebzig Stunden?! Das ist doch Unsinn.« Sie steht auf und knallt ihre Leinenserviette auf den Tisch. »Ist das ein Witz?«

Ian und ich schütteln beide die Köpfe.

»Wir haben gründlich darüber nachgedacht.« Ganze zwanzig Minuten.

»Das kommt sehr plötzlich«, sagt sie, läuft auf und ab und legt den Handrücken an ihre Stirn. »Mein letzter Stand war, dass ihr zwei nur befreundet wart!«

»Deine Mutter hat recht«, dröhnt mein Vater. »Ihr zwei müsst einen Gang zurückschalten. An unserer Kirche gibt es eine voreheliche Beratung. Das ist ein sechswöchiger Kurs.«

Sie sind durcheinander.

»Wir wollen aber nicht warten. Wir wollen eure Zustimmung.«

»Tja, die habt ihr aber nicht. Nehmt bitte Vernunft an.«

Was sie eigentlich damit sagen will, ist: Macht es bitte genauso wie dein Vater und ich damals. Geht zur vorehelichen Beratung. Zieh dir ein bauschiges weißes Kleid an und tritt weder zu langsam noch zu schnell vor den Traualtar, damit ich allen Familienmitgliedern und Freunden beweisen kann, dass ich eine elegante junge Frau großgezogen habe, und keine Heidin, die einfach durchbrennt.

»Unser Entschluss steht fest«, beharrt Ian mit fester, sachlicher Stimme. »Wir werden heiraten, und wir hätten Sie beide gern dabei, wenn Sie möchten. Sobald Zeit und Ort feststehen, geben wir Ihnen Bescheid.«

»Zeit und Ort?!« Ihre Lippen beben. Ihre Hände zittern. Meine Mom hat vor unseren Augen einen Nervenzusammenbruch. »Noch nicht einmal das wisst ihr?! Gütiger Himmel

Sie stürmt davon und fängt an der Kücheninsel an zu weinen. Mein Vater eilt zu ihr, um sie zu trösten. Ich glaube wirklich, für sie ist es tragischer, als wenn ich ihnen eröffnet hätte, dass ich Krebs habe.

»Schau nur, was du deiner Mutter damit antust, Samantha«, schimpft mein Vater.

Mit einem Mal habe ich genug. Das ist doch lächerlich. Ich habe Verständnis dafür, wenn sie ein paar Minuten brauchen, um die Neuigkeit zu verdauen, aber das hier nimmt geradezu absurde Dimensionen an. Ich stehe so ruckartig auf, dass mein Stuhl nach hinten kippt und zu Boden kracht.

»Komm, Ian, wir gehen. Nimm deinen Teller mit. Ja, nimm ihn mit – und dein Glas! Gib her, ich helfe dir.«

Meine Arme sind mit geklautem Besteck und Essgeschirr beladen, als wir aus dem Haus flüchten. Meine Eltern weinen, als hätten sie mich für immer verloren.

»Sam, willst du wirklich nicht wieder reingehen?«, fragt Ian, nachdem wir uns angeschnallt haben.

Ich schüttele den Kopf und sage nur ein Wort: »Fahr.«

Unser geklautes Abendessen steht unberührt auf meinem Couchtisch. Ian sitzt neben mir auf dem Sofa, und die Nachwehen unseres Nachmittags und Abends haben uns verstummen lassen. Während wir aus Schuldirektor Pruitts Büro zu Sonic, zum Lebensmittelgeschäft und zum Standesamt gerannt waren, war ich geradezu high gewesen. Das waren die aufregendsten Stunden meines Lebens. Ich hatte nonstop gelächelt, doch dann mussten meine Eltern alles verderben.

Haben sie recht?

Sind wir unvernünftig?

Ich sehe zu Ian, der mit gerunzelter Stirn an die Zimmerdecke starrt. Ich glaube, ihn plagen dieselben Zweifel. Jeden Moment wird er sich zu mir umdrehen, mir fest in die Augen sehen und mir sagen, dass er mich doch nicht heiraten will. Bei dem Gedanken läuft mir eine Träne über die Wange. Ich wische sie rasch weg.

»Willst du Kinder, Ian?«

Er runzelt die Stirn. »Das weißt du doch.«

»Willst du sie mit mir?«

»Sam.«

Ich schüttele den Kopf und knabbere besorgt an meiner Unterlippe. »Vielleicht haben meine Eltern recht. Vielleicht ist das verrückt. Ich habe länger darüber nachgedacht, wohin ich das Tattoo haben will, das ich mir niemals stechen lassen werde, als über diese Ehe. Immerhin ist es für den Rest unseres Lebens.«

»Nur weil es spontan ist, heißt das noch nicht, dass es falsch ist.« Er klingt überzeugt. »Was würde dir jetzt helfen, dich besser zu fühlen?«

»Sex mit dir.«

»Sam, du bist am Weinen.«

»Dann überfrachte mein Gehirn mit deinem Mund.«

»Nein. Nicht heute Abend.«

Er klingt sauer.

Ich setze mich auf und drehe mich zu ihm. »Warum?«

Seine Hand findet meine und drückt sie. »Es ist altmodisch, bis nach der Hochzeit zu warten, aber es gefällt mir. Und außerdem: Nimm’s mir nicht übel, aber ich bin nicht so richtig in Stimmung. Es kommt mir so vor, als würde ich dich ausnutzen.«

»Na toll.« Ich gestikuliere genervt. »Ich heirate einen prüden Typen.«

»Rutsch rüber und gib mir die Fernbedienung. Ich weiß, wonach du dich besser fühlst.«

»Ich will aber keine Fernsehpornos gucken.«

Er schaltet Folge zwölf der zweiten Staffel von The Office an, in der Michael auf seinem George-Foreman-Grill seinen Fuß grillt. Diese Folge hat mich schon aus einer Sommerende-Depri-Phase gerissen, aus einer privaten Krise, nachdem eine schlimme Beziehung zu einer schlimmen Trennung eskaliert war, und mir auch das eine Mal geholfen, als ich gleich nach der Grippe eine Halsentzündung hatte. Bei alldem hat Ian mir beigestanden, und er ist auch jetzt hier und schaut sich die Folge neben mir auf meinem Sofa an. Mein zukünftiger Ehemann. Mr. Samantha Abrams.

Ich werde seine kurzen braunen Haare auf meinem Kissen finden. Samstags wird er darauf bestehen, mir ein großes Frühstück zu machen, und ich werde es essen, obwohl ich nur eine Scheibe Erdnussbutter-Toast möchte.

Auf dem Bildschirm wickelt Michael Scott seinen Fuß in Luftpolsterfolie ein, während ich anfange, die Luftpolsterfolie um mein Herz zu entfernen. Ich habe sie seit Beginn meiner Freundschaft mit Ian. Keine Frau freundet sich ohne irgendeine Schutzmaßnahme mit einem Typen an, der so gut aussehend und charmant ist wie er. Mein Herz schlägt schneller, als wäre es sich seiner neuen Freiheit bewusst. Ich habe es ausgebremst, doch jetzt schlägt es mit seinem vollen Potenzial, klopft und verlangt nach der Liebe, die ich ihm vorenthalten habe. Ian ist wunderschön, und er wird mir gehören. Ich kann es kaum glauben. Am liebsten würde ich die Hand heben und die Konturen seines Gesichts nachspüren, seiner Nase, seines Kinns, nur um mir selbst zu beweisen, dass er wirklich existiert. Das ist nicht nur ein Traum.

»Siehst du überhaupt hin?«, fragt Ian, der meinen Blick auf sich spürt.

»Nein.«

»Du verpasst deine Lieblingsstelle.«

Die ist, als Michael Pam bittet, seinen Fuß mit Country-Crock-Butter einzureiben, damit er besser heilen kann.

»Was glaubst du, wie wir fernsehen werden, wenn wir verheiratet sind?«

»Wahrscheinlich so wie jetzt.«

»Oh.«

»Außer dass wir nackt sein werden.«

Mir klappt die Kinnlade herunter. Seufzend dreht er sich zu mir und streckt die Hand aus, um meinen offenen Mund zu schließen.

»Ich mache Witze, Sam. Hör auf zu denken, sonst drehst du total frei.«

»Ich kann mein Gehirn nicht einfach abschalten. Dieses Abendessen war heftig. Meine Eltern werden mich enterben. Wahrscheinlich geben sie meine Mitgift für Ersatzgeschirr aus.«

Er heuchelt Enttäuschung. »Wirklich? Den Antrag hab ich dir doch nur deshalb gemacht.«

»Du kannst noch abspringen, wenn du willst. Dazu ist noch Zeit.«

Er senkt den Blick auf meinen Mund und greift nach meiner Unterlippe, um sie von meinen Zähnen zu befreien. Mir war gar nicht bewusst, dass ich daran genagt hatte.

»Ich könnte das Gleiche zu dir sagen. Du bist doch diejenige, die gegen ihre Eltern rebelliert. Meine Eltern finden dich wunderbar. Wenn ich sie nachher anrufe und ihnen davon erzähle, wird meine Mutter so laut schreien, dass sie ihre Stimme verliert.«

Ich grinse. »Das ist, weil ich so liebenswert bin.«

Er zeichnet mit dem Finger meine Fingerknöchel nach. Seine Berührung ist federleicht. »Ich weiß.«

Plopp. Plopp. Plopp. Weitere Bläschen meiner Luftpolsterfolie platzen.

»Um wie viel Uhr wurde uns die Heiratserlaubnis ausgestellt?«, fragt er und wechselt das Thema wie ein Profi.

»Keine Ahnung … um zehn vor fünf? Die Verwaltung machte um fünf zu, und wir waren als Letzte an der Reihe.«

»Dann werden wir am Freitag um zehn vor fünf die erforderlichen zweiundsiebzig Stunden gewartet haben.«

Das ist schon bald – noch dreimal schlafen.

»Ich halte es für eine gute Idee, wenn wir uns bis dahin nicht sehen«, fährt er fort.

»Aber morgen ist West-Wing-Mittwoch.«

Wir haben noch nie einen verpasst, nicht mal aufgrund von Krankheit. Einmal hat Ian in seinem Schlafzimmer geguckt, weil er einen Magen-Darm-Infekt hatte, während ich im Wohnzimmer schaute. Wir haben uns durch die Tür zugerufen.

»Ich weiß, aber ich halte es für wichtig, dir Zeit zu geben, dir das, was wir vorhaben, reiflich zu überlegen.«

»Ach so, ja. Okay.« Er hat es wirklich drauf, mein Gehirn zu überfrachten. »Brauchst du auch Zeit?«

»Nein.«

Das Wort kam wie aus der Pistole geschossen. Er sagt es so schnell, ohne mit der Wimper zu zucken, dass es mich trifft wie eine Kugel.

Ian ist in mich verliebt.

Plopp. Plopp. Plopp.

Unsere Blicke treffen sich, und meine Wohnung wird zum Backofen. Mein Sofa kommt mir noch kleiner vor als sonst, und Ian nimmt so viel Platz darauf ein. Ich müsste nur ein kleines bisschen rüberrutschen, um zu seinem Schoß zu gelangen. Ich könnte auf ihn klettern und meine Knie rechts und links von seiner Hüfte aufstellen. Dann wäre er zwischen ihnen gefangen und mir vollkommen ausgeliefert.

»Was um alles in der Welt hast du vor?«, fragt er heiser.

»Dich auszunutzen. Weißt du noch, wie wir am Samstag in deinem Wagen gesessen haben? Ich auf deinem Schoß?«

Er stöhnt, stemmt sich vom Sofa hoch und steht auf. Dabei ist die Folge noch gar nicht zu Ende. Ryan hat noch nicht einmal zerstoßenes Aspirin in Michaels Pudding getan.

Ian verschwindet im Bad, und als er zurückkommt, sieht es aus, als hätte er sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Ich glaube, Ian will Sex mit mir haben und versucht, sich davon zu überzeugen, dass das eine schlechte Idee ist.

»Wo würde deine Traumhochzeit stattfinden?«, fragt er vom anderen Ende des Raumes, um einen Sicherheitsabstand zu mir einzuhalten.

Das ist einfach.

»Die Sternenausstellung im Naturhistorischen Museum. Du weißt schon, der Raum, direkt bevor man ins Planetarium geht.« Er ist überkuppelt und von einer Million Sternen erhellt. »Das ist da, wo du das eine Mal in einen Kaugummi getreten bist. Jetzt komm wieder her und setz dich zu mir, damit ich dich küssen kann.«

Er nickt und geht zur Tür. »Okay. Wenn du mich immer noch heiraten willst, triff dich am Freitag um zehn vor fünf dort mit mir.«

Ich springe auf. Wow. Das passiert wirklich. »Muss ich irgendwas machen?«

»Ich regele alles.«

»Was ist mit meinem Kleid?«

»Zieh an, was du willst. Von mir aus kann es auch ein Hosenanzug sein.«

Ich grinse. »Ich wusste immer, dass du auf Hillary Clinton stehst.«

»Sam.« Er sieht mich ernst an. Mit Liebe im Blick. »Überleg es dir gut.« Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Du sollst nicht das Gefühl haben, dass ich dich zu irgendetwas zwinge. Komm am Freitag nur, wenn du dir ganz sicher bist.«

»Du machst mir Angst.«

»Vielleicht sollten wir Angst haben.«

Ich haste zu ihm, schneide ihm den Weg zur Tür ab und versperre ihm den Weg. Wenn er gehen will, muss er durch mich hindurch.

»Ich werde es mir nicht anders überlegen.«

Sein Blick ruht auf meinen Lippen. Das kalte Wasser ist getrocknet, und sein Schlafzimmerblick wird heiß. Ich nutze das voll aus, packe ihn an seinem T-Shirt und ziehe ihn zu mir. Er lässt es zu und tritt einen Schritt näher. Ich lege den Kopf in den Nacken, und sein Hals ist jetzt so dicht vor meinem Mund, dass ich mich auf die Zehenspitzen stelle und ihn dort küsse, direkt auf die Halsschlagader. Er stützt sich mit der Hand neben meinem Kopf an der Tür ab.

»Sam«, warnt er mich.

»Küss mich, bevor du gehst, nur einmal. Ich brauche etwas, woran ich mich erinnern kann, wenn ich dich bis Freitag nicht mehr sehe.«

Seine Finger streichen langsam an meinem Hals hinauf. Er denkt über meine Bitte nach und wägt das Für und Wider ab. Ich wünschte, ich hätte ein aufreizendes dünnes Kleidchen an. Mein blaues Kleid ist fürs Klassenzimmer geeignet, und nicht, um einen Mann zu verführen. Meine Hände sind meine einzige Waffe, deshalb fahre ich mit ihnen über seinen Hals und umfasse sein Gesicht. Sein stoppeliger Kiefer kitzelt meine Handflächen. Als er schluckt, bewegen sich seine Muskeln. Ich war noch nie mit einem Mann zusammen, der so groß war. In der Vergangenheit habe ich mir absichtlich immer Winzlinge ausgesucht, mit denen ich mir Hosenanzüge hätte teilen können. Die Vorstellung, wie Ian verzweifelt versucht, sein Bein in eine meiner Hosen zu zwängen, zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen.

Er legt den Kopf schief. »Warum lächelst du?«

Er haucht die Worte an meinem Mund, und ein lustvoller Schauder durchfährt meinen ganzen Körper, was er mitbekommt. Daraufhin muss auch er lächeln, und dann – endlich – berühren sich unsere Lippen, während wir immer noch lächeln. Ich lache in seinen Mund. Seine Hände packen meinen Po, während er seine Hüften gegen meine wiegt und mein Herz gegen meinen Brustkorb schlägt. Das erinnert mich daran, dass Ian jede Situation mühelos umdrehen kann. In einer Sekunde ist er mein bester Freund und in der nächsten ein gar nicht mehr so netter Kerl, sondern ein Mann, der mich behandelt, als könnte er nur mit Mühe dem Bedürfnis widerstehen, mich mit Haut und Haaren zu verschlingen. Unser Lächeln erstirbt, er drückt sich fester an mich, und unser Kuss wird heiß. Seine Hände brennen auf meiner Haut. Ein paar Knöpfe an meinem Kleid stehen offen. Meine Hand ist in seiner Jeans. Noch nie habe ich so schnell einen Reißverschluss aufgezogen. Das ist ein Talent, das ich bisher größtenteils ignoriert habe, aber vielleicht sollte ich damit auf Tour gehen und meine Fähigkeiten zur Schau stellen. Die atemberaubende Samantha: Sehen Sie, wie rasant ich meinen Verlobten verführen kann. Nicht blinzeln, sonst verpassen Sie es!

Ich schiebe meine Hand vorn in seine Boxer-Briefs. Mein kleiner Kuss verwandelt sich in ein wenig mehr, und ich bin verdammt zufrieden mit mir. Wenn ich Glück habe, kriege ich einen Orgasmus, aber Ian ist schlauer. Er kannte meinen Plan von Anfang an. Schwer seufzend zieht er meine Hand heraus und tritt zurück. Für diese übermenschliche Entschlossenheit hasse ich ihn. Warum spielt es eine Rolle, wann wir Sex haben? Warum können wir das nicht einfach gleich hier auf meiner Fußmatte klären? Wen interessiert es, wenn ich danach einen Abdruck der Aufschrift am Hintern habe? Wen schert es, ob meine Nachbarn uns hören, wenn sie durch den Flur gehen, um ihre Post zu holen?

Leonard, hol das Paket. Moment mal, hörst du das? Ich glaube, in 2 A krepiert gerade ein Tier.

Sie werden sich wegen Lärmbelästigung beschweren, und ich werde das gelbe Mahnschreiben voller Stolz an meinen Kühlschrank kleben.

»Freitag«, verspricht Ian, bevor er die Hände unter meine Achseln schiebt, mich beiseite hebt und durch meine Wohnungstür verschwindet.