Sam
Zweiundsiebzig Stunden sind genug Zeit, um so oft auf einer Achterbahn der Unentschlossenheit zu fahren, dass mir davon schlecht ist. In einer Sekunde bin ich spontan und abenteuerlustig und sage mir Dinge wie: Zweifele es nicht an. Tu es einfach! Lebe! Und in der nächsten denke ich über die praktische Durchführbarkeit nach. Wir treffen einen vorschnellen Entschluss. Man heiratet nicht einfach aus einer Laune heraus. Wir kennen uns zwar sehr gut, aber Ian hat bestimmt auch verborgene Seiten. Zum Beispiel habe ich mir noch nie ein Bett mit ihm geteilt. Ich weiß nicht, wie hoch er die Heizung nachts dreht. Er könnte mir total rücksichtslos die Decke wegziehen.
Dienstagnacht schlafe ich nur sehr wenig, und am Mittwochmorgen ist es Zeit, die Suppe, die wir uns eingebrockt haben, auszulöffeln. Die ganze Aufregung um unsere eventuelle Heirat hat das Schlagsahne-Foto in meinen Gedanken in den Hintergrund rücken lassen.
Im Prinzip sind Ian und ich bis auf Weiteres auf Bewährung. Das ist Schuldirektor Pruitts Art, uns vor Zwangsurlaub zu bewahren, oder noch schlimmer, vor einer Kündigung. Mrs. O’Doyle stellt das nicht zufrieden, weshalb der Teil meines Gehirns, der nicht mit Gedanken an Ian beschäftigt ist, auf die nächste Hiobsbotschaft wartet.
Sie ist nicht die Einzige, die auf Rache aus ist.
Als ich zur Schule komme, warten Bianca und Gretchen vor meinem Klassenraum auf mich.
Bianca versperrt mir mit verschränkten Armen den Weg, sodass ich meine Tür nicht aufschließen kann. »War es spaßig für euch, uns dabei zuzusehen, wie wir Ian angeschmachtet haben? Warum habt ihr uns nicht gesagt, dass ihr zusammen wart, wenn es eindeutig so war?«
Ich seufze. Ich bin müde vom Schlafmangel und einem unentwegt kreisenden Gedankenkarussell. »An dem Tag im Lehrer-Pausenraum habe ich nicht gelogen. Damals waren wir noch nicht zusammen.«
»Spar dir das. Wir wissen, dass du wegen deiner Beziehung zu ihm unter Bewährung stehst. Sie verstößt gegen die Vorschriften. Die Eltern sind verärgert. Bis zum Ende der Woche seid ihr zwei Geschichte.«
Mit einem wütenden Schnauben reckt sie die Nase in die Luft und blafft Gretchen an, ihr zu folgen.
Ich kann mir einen schöneren Start in den Tag vorstellen, doch dann betrete ich meinen Klassenraum und finde auf meinem Tisch eine Thermosflasche mit heißem Kaffee, einen Müsliriegel und eine rote Rose mit vollen Blütenblättern vor. Ich schneide den Stiel an, stelle sie sofort ins Wasser und bewundere sie fast den ganzen Tag.
Ian hält Wort, und wir sehen uns weder am Mittwoch noch am Donnerstag. Er kommt nicht zum Mittagessen in den Lehrer-Pausenraum. Ashley sitzt beim Neuntklässler-Quartett, und ich bleibe ganz allein, knabbere lustlos an meinem Putensandwich und vermisse Ian. Unser West-Wing-Mittwoch fällt aus. Wir simsen oder mailen nicht mal, was sich seltsam anfühlt, aber ich glaube, er will mir wirklich Freiraum geben.
Am Donnerstag gehe ich nach Schulschluss zum Fahrradständer und sehe in der Ferne das Fußballfeld. Ian ist dort und trainiert seine Mannschaft. Meine Beine wollen mich in seine Richtung bis mitten ins Getümmel tragen. Seine Kicker müssten aus dem Weg hechten, um mich nicht umzurennen. Ich würde auf Ians Rücken springen, die Arme um seinen Hals schlingen und ihm sagen, dass er das Training einfach fortsetzen soll. Ich würde nicht stören. Ich will ihn nur riechen, seine Arme und Hände und Haare spüren und mich daran erinnern, dass dieser perfekte Mensch mich heiraten will und ich total verrückt wäre, ihm einen Korb zu geben.
Stattdessen radele ich besonders schnell nach Hause.
Ich bin überrascht, als mein Vater vor meiner Wohnung auf mich wartet. Er trägt einen seiner schicken Anwaltsanzüge und wirkt sehr unbehaglich dort am Straßenrand. Seine finstere Miene verheißt nichts Gutes, doch als er mich kommen sieht, steht er auf und winkt.
»Hallo, Kleines.«
Ich lege meine Waffen nieder. »Hallo, Dad.«
Er war noch nicht oft bei mir. Er findet, ich sollte zu Hause wohnen und Geld sparen. Seiner Meinung nach sind der beschädigte Linoleumboden und der hässliche braune Teppich unter meiner Würde.
»Mir gefällt, was du aus der Wohnung gemacht hast«, sagt er, als wir eintreten. Er zieht eins der Bücher aus meinem Regal und liest den Titel auf dem Buchrücken. Ich bin heilfroh, dass es sich nicht um Der versteckte Schatz des Piraten handelt.
»Danke. Hat Mom dich geschickt?«, frage ich, als ich ihm ein Glas Wasser bringe.
Er nimmt es mir ab und nickt. »Sie wollte sichergehen, dass es dir nach neulich Abend gut geht. Und außerdem will sie ihre Teller zurück.«
Sein scherzhaftes Lächeln überrascht mich. Ich muss lachen.
»Okay, die Teller kannst du haben, aber wenn du versuchen willst, mir die Heirat mit Ian auszureden, kannst du dir die Mühe sparen.«
Er nippt an seinem Wasser und stellt es auf einem Untersetzer auf dem Couchtisch ab. »Will ich nicht.«
»Aha«, sage ich zögernd.
»Aber ich will dir etwas erzählen, und ich möchte, dass du mir zuhörst.« Die Hände in die Hüften gestemmt, wendet er sich zu mir. Auf einmal wirkt er wie ein Respekt einflößender Gegner, und ich frage mich, ob er so vor Gericht auftritt. »Eine Ehe sollte man nicht leichtfertig eingehen. Deine Mom und ich waren verliebt, als wir heirateten. Wir sind seit über dreißig Jahren zusammen, und es gibt noch immer viele schwierige Phasen.«
Das ist mir neu – sie kamen mir immer perfekt vor.
»Ich weiß, du findest es jetzt aufregend, aber es werden Prüfungen auf euch zukommen, und wenn ihr nicht auf einem soliden Fundament aufbaut, wird es zehnmal so schwer, die Stürme zu überstehen.«
»Über all das habe ich schon nachgedacht.«
Er zieht interessiert eine Augenbraue hoch. »Und du hältst die Entscheidung trotzdem noch für richtig?«
Es hat keinen Sinn, ihn anzulügen, deshalb weiche ich der Frage aus. »Hat sich Mom damit abgefunden?«
Ich setze mich aufs Sofa, und er gesellt sich zu mir.
»Leider nein. Sie weint immer noch, weil du weder das Kleid ihrer Großmutter tragen noch in der Kirche heiraten willst.«
Ich lehne mich mit dem Kopf an ein Kissen und lächele bei dem Gedanken an die Monstrosität, die in einem ihrer Wandschränke hängt. »Ich würde das Kleid auch nicht tragen, wenn ich eine traditionelle Hochzeit hätte.«
Er lehnt sich neben mir zurück, und wir starren gemeinsam an die Zimmerdecke. »Das habe ich ihr auch gesagt.«
»Dad?«
»Ja?«
»Ich könnte einen Riesenfehler machen.«
»Das könntest du.«
»Oder die beste Entscheidung meines Lebens treffen.«
Er nickt nachdenklich. »Wer weiß das schon?«
Ich senke den Blick und sehe in seiner Hand ein gefaltetes blaues Taschentuch. Es ist das, das er immer benutzt hat, als ich noch ein Kind war. Damals faltete er es immer zu einem ordentlichen Quadrat und steckte es in die Brusttasche seines Sakkos; die untere Ecke ist mit seinen Initialen bestickt. Als er bemerkt, dass ich darauf starre, hält er es mir hin.
»Etwas Altes, etwas Geborgtes und etwas Blaues.« Er reicht es mir. »Etwas Besseres konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben.«