Ian
Unseren Offizianten habe ich auf Craigslist gefunden. Eigentlich ist er ein Rabbi, aber als ich ihm unsere Situation schilderte, willigte er ein, Sam und mich im Museum zu trauen. Mir soll’s recht sein. Mir ist im Prinzip egal, wie wir heiraten. Wenn wir dabei zum Judentum bekehrt werden, dann sei’s drum. Shabbat shalom.
Die letzten Tage sind wie im Flug vergangen. Zwischen Unterrichten und Coachen habe ich meine Pläne für Freitag umgesetzt. Als ich meine Eltern anrief, um ihnen von der Hochzeit zu erzählen, und meine Mutter zu weinen aufgehört hatte, sagte sie mir, dass sie schon immer gewusst hätte, dass ich so etwas tun würde.
»Wenn du dir etwas in den Kopf setzt, ziehst du es auch durch! Ohne Wenn und Aber. Als du das Fahrradfahren lernen wolltest, bist du mit Helm und Knieschützern nach draußen in die Auffahrt gegangen und hast es so lange versucht, bis du an allen anderen Kindern in der Nachbarschaft vorbeigeradelt bist.«
Eigentlich wollten sie extra zu der Zeremonie herkommen, konnten sich aber so kurzfristig nicht freinehmen. Deshalb versprach ich ihnen, mein Handy in meiner Hemdtasche angeschaltet zu lassen, damit sie alles mithören können.
Jetzt sind sie dran.
Ich senke mein Kinn. »Test, Test. Hört ihr mich?«
»Laut und deutlich!«, ruft mein Dad lautstark zurück.
Der Rabbi wirft mir einen belustigten Blick zu.
Es ist Viertel vor fünf. Der Rabbi und ich sind im Museum und stehen im Vorraum, wo die Gäste auf den Beginn der nächsten Sternenshow im Planetarium warten. Die hohe Decke ist überkuppelt und erhellt wie der Nachthimmel. Trotzdem ist es in dem Raum ziemlich dunkel und voll. Ich werde Schwierigkeiten haben, Sam ausfindig zu machen. Sie ist so klein.
»Ist sie schon da?«, fragt meine Mom.
»Nein.«
»Beschreib sie uns, wenn du sie siehst!«, verlangt sie.
Mir ist, als würde ich schon ewig warten. Ich hätte nicht so früh herkommen sollen, aber ich wollte die Gegend ausbaldowern und sichergehen, dass alles vorbereitet ist. Danach ging ich zur Toilette … suchte mir eine Kleinigkeit zu essen … schlenderte durchs Museum.
Ich habe mein Zeitgefühl verloren, will aber nicht schon wieder auf mein Handy sehen. Falls es schon nach zehn vor fünf ist und Sam nicht erschienen ist, will ich es gar nicht wissen. So wie die Dinge liegen, bin ich noch voller Hoffnung, dass sie kommen wird.
Eine weitere Gästegruppe drängt sich ins Planetarium, sodass es noch voller wird. Der Rabbi tritt von einem Fuß auf den anderen; wahrscheinlich ist er verärgert, weil ich ihn zwinge, so lange zu warten, doch dann sehe ich zu ihm, und er schenkt mir ein mitleidiges Halblächeln.
»Ist sie schon da, Schatzi?«, fragt meine Mom.
»Ihr sollt nur zuhören, nicht reden. Wenn ihr mich noch einmal fragt, lege ich auf.«
Mir bricht der Schweiß aus. Ich kann nicht glauben, dass Sam mich an unserem Hochzeitstag sitzen lässt. So war das nicht gedacht. Wir sollten wild und verrückt sein. Ich will ihr keine langweilige Liebesgeschichte bieten. Für uns gibt es eine Million Sterne, einen Rabbi und einen Raum voll schreiender Kinder. Das passt besser zu uns, als es jede Kapelle könnte.
Ich ertappe mich dabei, wie ich sie im Geiste anflehe: Bitte komm, Sam. Bitte komm.
Vielleicht hätte ich sie auf dem Weg hierher anrufen sollen, nur um zu sehen, wie ihre Stimmung ist, aber ich habe ihr mit voller Absicht Freiraum gelassen. Ich wollte ihre Entscheidung nicht beeinflussen. Sie sollte sich nicht schlecht fühlen, falls sie ihre Meinung geändert hätte.
Sam braucht ihren Freiraum und genug Zeit, um sich auf Veränderungen einzustellen. Die letzten zweiundsiebzig Stunden waren bestimmt schrecklich für sie. Ich stelle mir vor, wie sie in ihrer Wohnung auf und ab tigert und sich die Haare rauft. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie total kahl hier aufkreuzen würde – falls sie hier aufkreuzt.
Mist.
Jetzt überkommen mich Zweifel. Das war total dumm. Was habe ich mir dabei gedacht, ihr eine Heirat vorzuschlagen? Wir können uns neue Jobs suchen. Wenn es bedeutet, dass Sam Teil meines Lebens bleibt, können wir einfach wieder Freunde sein. Ich werde meine Hände bei mir und meine Gedanken für mich behalten. Wenn sie nicht mit mir zusammen sein will, akzeptiere ich das. Aber Sam ganz verlieren? Nein. Ein schlimmeres Schicksal gibt es nicht.
Am Eingang rennt eine kleine Schar von Kindern schreiend vor ihren Begleitpersonen weg in den Vorraum, und direkt hinter ihnen erscheint Sam.
Heilige …
Mir bleibt die Luft weg. Eine Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper. Ich muss dem Drang widerstehen, mir ans Herz zu fassen.
»Ian! Warum keuchst du so? Hast du einen Herzanfall, oder ist sie da?«
»Beides.«
»Wie sieht sie aus?«
»Sie … ihr … ich glaube …«
Meine Mom ist entnervt ob der schlechten Übertragung zwischen meinem Sprachzentrum und meinem Mund. Meine Synapsen sind allesamt ausgefallen.
»Was hat sie an?!«
Sams und mein Blick treffen sich, und sie hält inne, als sie mich sieht. Ihr Gesicht drückt Besorgnis aus, Besorgnis und Belustigung. Sie presst die Lippen aufeinander, um ihr Lächeln zu verbergen. Sie legt den Kopf schief und zuckt mit den Schultern, als wollte sie sagen: Jawohl, ich bin hier, auch wenn’s der absolute Wahnsinn ist.
Ich habe in meinem bisherigen Erwachsenenleben zweimal geweint. Das erste Mal war, als ich mir bei einem Uni-Fußballspiel das Schienbein gebrochen habe. Es war so schmerzhaft, dass ich ohnmächtig wurde. Das hier ist das zweite Mal. Ich bin ein totales Weichei, als ich sie auf mich zugehen sehe. Der Weg ist nicht frei. Sie muss Amok laufenden Kindern ausweichen und Erwachsenen, die sie völlig übersehen. Eine Frau tritt einen Schritt zurück und taumelt fast gegen sie, bevor sie sich entschuldigt.
»Ian!«, schreit meine Mom verzweifelt. »Was hat sie an?«
Ich mustere Sam von oben bis unten. »Ein weißes Kleid … aus Spitze.«
»Bauschig?«
»Schlicht.«
Ich habe keinen Schimmer, wie sie es so schnell aufgetrieben hat, aber es sieht aus wie für sie gemacht. Das taillierte Oberteil hat einen tiefen V-Ausschnitt, und der Rock schwingt beim Laufen um ihre Beine. Ihre cremige Haut leuchtet unter dem Nachthimmel.
»Trägt sie die Haare hochgesteckt?«
»Nein. Sie sind offen und wellig und lang, das Strahlendste im ganzen Raum.«
Ein paar Kinder bleiben stehen und starren sie an, als sie vorbeiläuft. Ein Mädchen fragt: »Mom, ist das eine Feenprinzessin?«
Ich wische mir mit dem Handrücken so männlich wie möglich die Tränen weg. Aber es ist sinnlos. Sam weint auch, lacht und weint gleichzeitig, während sie sich mir nähert. Als sie vor mir steht, fällt mir auf, dass sie die rote Rose, die ich ihr auf den Tisch gestellt habe, in der Hand hält und ein blaues Taschentuch drumherum gewickelt hat.
»Hallo«, sagt sie schüchtern.
»Hallo.«
»Dein Smoking gefällt mir.«
»Mir gefällt dein Kleid.«
Bei dem Kompliment werden ihre Augen groß. Dann blickt sie an sich herab und streicht den Stoff glatt. »Das hab ich für dreißig Dollar im Secondhandladen gefunden.«
»Hübsch.«
»Ich wette, du siehst wunderschön aus!«, schreit meine Mutter.
Sam zuckt zusammen, sieht sich suchend um und versucht herauszufinden, woher die Stimme kam. Ich klopfe auf die Brusttasche meines Smokings. »Meine Eltern wollten auch dabei sein.«
Sie lacht und beugt sich vor, bis ihr Mund dicht vor dem Handy ist. »Hallo, Mr. und Mrs. Fletcher!«
»Nenn uns Mom und Dad!«, rufen sie im Chor. »Wenn du willst!«
Der Rabbi tritt vor und stellt sich Sam vor. Er und ich haben alles besprochen. Er weiß Bescheid. Wir können uns hier nicht lange aufhalten. Er kann die Zeremonie nicht in voller Länge abhalten.
»Rabbi?«, formt Sam mit den Lippen, als er loslegt.
Ich lächele und zucke mit den Achseln.
»Sie zwei wissen es vielleicht nicht«, beginnt der Rabbi, »aber eine traditionelle jüdische Trauungszeremonie findet unter der chuppah statt, oder einem Baldachin, der das Zuhause symbolisiert, das sich das Paar gemeinsam aufbauen wird.« Wir müssen verwirrt aussehen, denn er fährt fort. »Wenn Sie gleich unter der ganzen Milchstraße heiraten, könnte das heißen, dass eine große Zukunft vor Ihnen liegt.«
»Auch wenn wir nicht jüdischen Glaubens sind?«, fragt Sam.
Er lacht. »Auch dann.«
Während er weiterspricht, behalte ich den Eingang im Auge. Wenn wir aufpassen, sollten wir es schaffen. Als der Rabbi Sam und mich bittet, uns die Hände zu reichen, sehe ich, wie ein Wachmann uns ins Visier nimmt und eilig etwas in das Walkie-Talkie an seiner Schulter spricht. Ich schwöre, ihn flüstern zu hören: »Wir haben Code Eheschließung, alle Einheiten bitte melden.«
»O Gott.«
Sam folgt meinem Blick. »Was ist?«
»Ich glaube, wir sind aufgeflogen.«
»Aufgeflogen? Was meinst du damit?«
Ich wende mich wieder dem Rabbi zu. »Plan B.«
Ohne zu zögern, zieht er die Ringe, die ich ihm vorhin gegeben habe, aus seiner Gesäßtasche und fragt uns rasch, ob wir den jeweils anderen als unseren rechtmäßig angetrauten Ehepartner annehmen. Wir sagen schnell Ja, und Sams Hand zittert, während ich ihr umständlich den Ring anstecke. Ich musste die Größe schätzen, aber er passt, und Sam ist jetzt wirklich meine Frau. Um in diesem Gefühl zu schwelgen, werde ich erst später Zeit haben.
»Ian, was ist los?! Wozu die Eile?«
Mir bleibt keine Zeit, sie aufzuklären, weil uns der Wachmann auf die Schliche gekommen ist und wir immer noch die Heiratsurkunde unterschreiben müssen. Als ich Sam den Stift reiche und mich umdrehe, damit sie meinen Rücken als Tisch benutzen kann, um ihre Unterschrift hinzukritzeln, gesellt sich ein zweiter Wachmann zu dem ersten, und sie steuern auf uns zu. Ich unterschreibe, so schnell ich kann.
»Laufen Sie!«, ruft der Rabbi und reißt mir die Urkunde aus der Hand. »Ich schicke Ihnen das mit der Post zu! Laufen Sie! Schnell!«
Ich ergreife Sams Hand und renne vor den Wachmännern weg zum Ausgang. Als Sam über den Saum ihres Kleides stolpert, rafft sie den Rock bis zu den Knien hoch.
»Warum rennen wir?«, schreit sie, aber ich werde nicht langsamer. »Ian!«
»Beeil dich. Das Museum ahndet nicht genehmigte Zeremonien streng.«
»Was?!«
»Hier zu heiraten kostet 20.000 Dollar. Wir sind keine Millionäre!«
Die Wachleute stürmen auf uns zu und fordern Verstärkung an. Ich ziehe Sam nach links und benutze eine Gruppe Vorschulkinder als menschlichen Schutzschild, während wir aus dem Saal stürzen. Der Museumseingang ist in Sicht, aber wir müssen es erst noch durch die gesamte Eingangshalle schaffen. Zwischen uns und der Freiheit steht ein riesiger fossilisierter T-Rex. Am liebsten würde ich zwischen seinen Beinen hindurchlaufen, doch dann bekämen wir wirklich Probleme.
Ich schlage einen Bogen drumherum.
»Schnell! Beeilung! Sie kommen!«
»Hey! Ihr zwei Turteltäubchen! Stehen bleiben, oder wir rufen die Polizei!«
Sam schreit auf und bricht in Gelächter aus. »O mein Gott! Sie werden uns ins Museumsgefängnis sperren!«
Wir stürmen aus dem Museum, und ich renne weiter und ziehe Sam hinter mir her. Bei der Planung des heutigen Tages wusste ich noch nicht, dass wir einen schnellen Fluchtweg bräuchten, aber mein Arrangement funktioniert gut. Wir überqueren die Straße und sind im Foyer eines piekfeinen Hotels verschwunden, bevor die Wachmänner es aus dem Museum schaffen. Ich sehe genau in dem Moment zurück, als sie ins Freie schießen. Sich am Kopf kratzend, sehen sie sich in alle Richtungen um, als hätten wir uns in Luft aufgelöst.
»Laufen wir hier rein, um sie von unserer Fährte abzubringen?«, fragt Sam, als wir durchs Foyer stürmen.
Alle bleiben stehen und starren uns an, nicht nur weil wir rennen, sondern auch weil wir unübersehbar wie ein Brautpaar gekleidet sind. Sam hält sogar noch ihre Rose in der Hand.
Als wir die Fahrstühle erreichen, drücke ich unaufhörlich den Nach-oben-Knopf.
»Um den Lift zu benutzen, brauchen wir bestimmt einen Zimmerschlüssel«, sagt Sam und greift sich an die Brust, als würde sie gleich aus den Latschen kippen.
Er ist in meiner Geldbörse.
Der Fahrstuhl klingelt, und die Türen gleiten auf. Wir treten ein, und ich drücke den Knopf für die dritte Etage.
Als Sam mich fragend ansieht, umspielt ein Lächeln meine Lippen. »Fröhliche Flitterwochen, Mrs. Fletcher.«
Es ist das erste Mal, dass wir innehalten können. Es ist unser erster Moment, in dem wir Atem schöpfen.
»Nein! Hier steigen doch nur Reiche ab! Mafiabosse, ausländische Würdenträger und Beyoncé!«
»Falls jemand fragt, wir sind vom russischen Konsulat. Lass mich deinen Akzent hören.«
»Is das die Otel Zaza?«
»Zu französisch.«
»Na schön. Behaupten wir einfach, ich bin die Königin von Frankreich.«
»War Marie-Antoinette nicht die letzte Königin von Frankreich?«
Erneut greift sie sich an die Brust und macht große Augen. »Ian!« Ihr Brustkorb hebt und senkt sich dramatisch. Sie schnappt nach Luft, als hätte sie seit zehn Jahren nicht mehr geatmet. »Wir haben uns nicht geküsst. Wir hatten unseren ersten Kuss noch nicht!«
Es ist wie ein K.-o.-Kriterium, als wären wir ohne Kuss gar nicht richtig verheiratet.
Der Fahrstuhl steigt auf, und mir bleiben nur Sekunden, um zu reagieren, aber das reicht mir aus. Ich durchquere den Lift und schiebe Sam gegen den Handlauf. Ich lege die Hand an ihre Wange, während ich mich zu ihr hinunterbeuge. Ich spüre, wie ihr Puls rast. Erwartungsvoll befeuchtet sie mit der Zunge ihre Unterlippe. Sie holt tief Luft und packt mich am Handgelenk.
»Sie dürfen die Braut jetzt küssen«, flüstere ich, bevor ich meinen Mund auf ihren drücke.
Jetzt gehört sie offiziell mir.
»Ähm, ja …«, quäkt die Stimme meiner Mom aus meiner Smokingjacke. »Wir sind übrigens immer noch dran.«