Sam
Obwohl mein Mietvertrag noch ein paar Monate läuft, ziehe ich an jenem Sonntag, nachdem wir aus dem Hotel auschecken, bei Ian ein. Wir haben dem Reinigungspersonal ein großzügiges Trinkgeld hinterlassen, aber ich fühle mich trotzdem schlecht. Wir haben in diesem Zimmer achtundvierzig Stunden lang unsere Ehe vollzogen. Wenn es eine Oberfläche gab, auf der man Sex haben konnte, war mein Hintern drauf. Sorry, nachfolgende Gäste.
Auf dem Weg zu meiner Wohnung schleicht sich Nervosität ein, und ich schlage vor, dass wir weiter getrennt wohnen könnten.
»Warum?«
Weil ich sehr anstrengend bin und nicht will, dass du es bereust, mich geheiratet zu haben.
Das ist die Wahrheit, aber ich schwäche sie ab. »Es ist nur … keine Ahnung. Falls du einen Gang zurückschalten willst.«
»Will ich nicht.«
»Falls du meiner überdrüssig wirst.«
»Werde ich nicht.«
Alles klar.
Wir brauchen nicht lange für meinen Umzug. Von den meisten meiner Besitztümer hat Ian eine bessere Version. Meine Töpfe und Pfannen sind antik, und das nicht im positiven Sinne. Mein Bett knarrt und ist zu klein, um zu zweit bequem darin zu liegen. Mein Badvorleger ist zwar neu, aber rosa und geblümt. Ian überlässt mir die Entscheidung, woraufhin ich lächeln muss, weil ich tief in mir weiß, dass er ihn mich in sein Bad legen lassen würde, aber ich verschone ihn.
Ich bringe meine Klamotten hinüber, und Ian teilt mir die Hälfte des Platzes in seinem Wandschrank und seiner Kommode zu.
»So viel Platz brauche ich wirklich nicht.«
»Warum?«
Ich weiß nicht so recht, wie ich es formulieren soll, aber es fühlt sich an, als käme ich zu einer ausgedehnten Pyjamaparty zu ihm. Ich will mich so wenig bemerkbar machen wie möglich, damit er sich nicht ärgert und die Scheidung einreicht. Ständig versichere ich ihm, dass ich nicht viel Platz brauche und ich meine Zahnbürste einfach unter dem Waschbecken lassen kann, aber er stellt sie neben seine in die Halterung und besteht darauf, dass dies jetzt auch mein Zuhause ist.
»Okay, dann will ich auf der rechten Seite des Bettes schlafen.«
Er geht lachend aus dem Zimmer. »Daraus wird nichts.«
Das werden wir ja sehen.
Ich warte darauf, dass es komplizierter wird, dass wir an unsere unvermeidlichen Grenzen stoßen. Ian könnte zum Beispiel sagen: Ach, übrigens, ich dressiere heimlich Vögel und halte ein Dutzend unflätige Papageien in der Garage. Oder er könnte die Tür zum Gästezimmer öffnen, und eine Lawine aus Müll und besudelten Erwachsenenwindeln könnte herausrutschen.
Als ich einziehe, suche ich jeden Winkel nach einem illegalen Drogenlabor oder Stilettos in Größe 45 ab, aber selbst der Schrank in seinem Gästezimmer ist strukturiert und aufgeräumt. Wie verstörend! Eine Leiche wäre mir lieber gewesen.
Am Sonntagabend, als wir auf seinem Sofa sitzen und uns, so schnell wir können, Spaghetti in den Mund löffeln, wird mir klar, dass meine Ängste vielleicht unbegründet sind.
»Das ist toll. Wir hätten schon vor Ewigkeiten heiraten sollen«, sage ich mit vollem Mund.
Er wirft mir einen strafenden Blick zu, woraufhin ich ihm ein breites Spaghettilächeln schenke.
»Wow, traumhaft. Ich glaube, die Flitterwochen sind vorbei.«
Ich grinse und esse weiter. Der Umzug hat mich hungrig gemacht.
»Ich habe mein Handy-Ladegerät in die Steckdose auf der rechten Seite des Bettes gesteckt – du weißt schon, weil das meine Seite ist.«
»Hmhm.« Er nickt. »Meine ist eine wirklich merkwürdige Art und Weise, deine auszusprechen.«
»Komm schon! Willst du nicht mein Beschützer sein, der an der Tür schläft, falls jemand einbricht, um uns zu ermorden?«
»Klar, aber was ist, wenn sie durchs Fenster kommen?«, fragt er.
»Gutes Argument. Ich nehme die linke Seite, und du nimmst das Axtmörder-Fenster.«
Ich strahle. Unser erstes Beispiel für gesunde Konfliktbewältigung als Ehepaar!
Normalerweise gehe ich nach dem Abendessen zum Schlafen zurück in meine Wohnung. An dieses Ritual bin ich so gewöhnt, dass ich meinen Teller in die Spülmaschine stelle und auf die Tür zusteuere. Ich schlüpfe gerade in meine Schuhe, als Ians Schatten über mich fällt.
»Was machst du?«
»Ich will nach Hau…« Ich halte inne und lache. »Ach du liebe Güte!«
Ich schalte den Autopiloten aus und kicke meine Schuhe von mir. Ian beugt sich herunter und schiebt die Hände unter meine Arme, um mich wieder auf die Beine zu stellen.
»Willst du mich schon verlassen?«, zieht er mich auf. »Wir sind doch erst zwei Tage verheiratet. Wer ist er, wie heißt er?«
»Böser Ian.«
Ich wirbele herum, und er zieht mich an sich. Ich lege die Hände auf seine Brust.
»Entschuldige. Es passiert alles so schnell, dass mein Gehirn ein Weilchen braucht, um hinterherzukommen.«
»Wir können einen Gang zurückschalten, wenn du willst.«
»Wie denn?«
Er denkt kurz nach und zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht so genau. Ich könnte auf dem Sofa schlafen, wenn du willst.«
Ich glaube, ich werfe ihm einen oscarreifen Blick zu, der besagt: Spinnst du jetzt total?
Später am Abend komme ich nach dem Zähneputzen in unser Schlafzimmer und finde Ian mit nacktem Oberkörper lesend im Bett vor.
Ich verberge mein Lächeln und krieche eilig neben ihm unter die Bettdecke.
»Danke noch mal, dass du mein fleischlicher Axt-Schutzschild bist.«
Er brummt und liest weiter. Ich folge seinem Beispiel und hole meinen Kindle hervor, aber ich lese nicht richtig. Ich sitze da, sehe mir Ians Schlafzimmer genau an und nehme die neu hinzugefügten Details wahr. Auf der Kommode neben seinem Rasierwasser stehen eine Kerze und ein filigranes Schmuckkästchen. Am Türknopf des Wandschranks hängt einer meiner Frühlingsschals, weil ich morgen früh nicht vergessen will, ihn anzuziehen. Meine antike Stehlampe in der Ecke verleiht dem sonst so männlichen Raum eine weibliche Note.
Während ich dort sitze, machen sich in meiner Magengrube Aufregung und Verunsicherung breit, und ich frage mich, wie lange das anhalten wird. Tage? Jahre?
Ich sehe Ian aus dem Augenwinkel an. Sein Blick ist auf sein Buch gerichtet. Er war in der ganzen Zeit ein Quell der Ruhe, und ich frage mich, ob er, unter all den stählernen Bauchmuskeln, vielleicht auch ein bisschen verunsichert ist? Ob er vielleicht nur ein bisschen besser darin ist, es zu verbergen?
Während ich ihn mustere, sagt er kein Wort. Er blättert um, und ich rutsche näher, bis sich unsere Hüften berühren. Dann greife ich hinüber und ziehe mein Kissen zu mir, das ich mir in den Rücken stopfe, um bequem neben ihm sitzen zu können. Er hat ein breites Doppelbett, weshalb wir eigentlich nicht genau in der Mitte zusammengequetscht sitzen müssten, aber seine Haut an meiner zu spüren beruhigt meinen Magen. Ich nehme den ersten tiefen Atemzug des Tages.
Drei Jahre lang habe ich mir antrainiert, meine Gefühle für Ian zu ignorieren. Ich konnte mir nie vorstellen, dass er genauso empfinden könnte wie ich, und jetzt sind wir hier, verheiratet, wohnen zusammen und lesen im Bett.
»Alles okay?«, fragt er.
Ich nicke und lehne den Kopf an seine Schulter. Er schlingt den Arm um mein Kreuz, damit er meine Hüfte umfassen und mich noch näher an sich ziehen kann. Ich sitze fast auf seinem Schoß.
Ihm muss bewusst sein, dass mein Gehirn auf Hochtouren arbeitet, denn er fragt, ob er laut aus seinem Buch vorlesen soll. Ich nicke, schließe die Augen und lausche seiner tiefen, festen Stimme, als er dort weiterliest, wo er aufgehört hat. Es dauert nicht lange, bis mein Herz sich dem Heben und Senken seiner Brust angleicht, sodass unsere Atmung synchron wird.
Seine Stimme ist beruhigend, wie das Gefühl, wenn man sich an einem kalten Wintertag in eine warme Badewanne gleiten lässt.
Ich bin kurz vorm Eindösen, als ich etwas loswerden muss. Meine Stimme ist schläfrig und leise. »Du, Ian?«
Er hält beim Vorlesen inne.
»Du weißt, dass ich in dich verliebt bin, oder?«
Sein Herz pocht an meinem Rücken, und seine Atmung wird schneller. Es folgt ein langes, bedeutsames Schweigen, und ich öffne vorsichtig ein Auge, um zu ihm aufzusehen. Er betrachtet mein Gesicht aufmerksam. Meine Worte haben ihn überrascht.
»Noch einmal – seit Jahren.«
Ich lächele.
»Sag das noch mal.«
»Welchen Teil?«
Sein Mund nimmt meinen in Besitz. Sein armes Buch hat jetzt keine Chance mehr. Wir sollten schlafen und uns für die Arbeit morgen ausruhen, doch stattdessen zieht mir Ian meinen Pyjama aus und drückt Küsse auf jede Stelle meiner Haut, die er finden kann. Er küsst mich zwischen die Brüste und sagt mir, dass er mich auch liebt. Er bewegt sich weiter nach unten, küsst meinen Nabel und sagt es mir noch einmal. Die Worte klingen gedämpft, aber er sagt sie so oft, dass sie bei mir ankommen müssen.
Wir schlafen eng umschlungen ein, und am Morgen wache ich zu »I Got You Babe« von Sonny and Cher auf. Es ist Ian, der mich aus der Küche anruft.
Ich greife lächelnd nach meinem Handy.
»Wann hattest du die Zeit, meinen Klingelton zu ändern?«
»Gestern Abend, nachdem du eingedöst warst. Du hast geschnarcht.«
Stöhnend setze ich mich auf und lasse die Beine über die Bettkante baumeln.
»Sag mir die Wahrheit. Was sollen diese Songs immer?«
»Hast du das noch nicht erraten?«
»Ich glaube, du quälst mich einfach nur gern.«
»Nein. Ich hab versucht, dir zu sagen, was ich empfinde.«
Ich denke an die letzten Songs zurück, an die ich mich noch erinnere. Ich hatte sie einfach nur für kitschige Schnulzen gehalten. Jetzt wird mir klar, dass ich zwischen den Zeilen hätte lesen sollen.
»Das waren alles Liebeslieder von dynamischen Duos, wie wir es sind.«
»Oooochh! Ian Fletcher, du Riesensoftie!«
Er legt einfach auf und ruft mir aus der Küche zu, dass ich meinen Hintern aus dem Bett schwingen soll.
Er liebt mich wirklich sehr.
»Das ist unfair. Unsere Flitterwochen waren nicht annähernd lang genug.«
»Ja, aber wir können nicht einfach die Schule schwänzen. Während du unter der Dusche warst, habe ich meine E-Mails gecheckt, und Schuldirektor Pruitt will, dass wir später an der Elternbeiratssitzung teilnehmen. Er findet, eine öffentliche Entschuldigung würde viel dazu beitragen, die Spannungen abzubauen.«
»Eine Entschuldigung?« Ich klinge beleidigt ob dieser Idee. »Die O’Doyle-Tante ist eine Terroristin! Mit der kann man nicht verhandeln.«
»Da wir jetzt verheiratet sind, sollte es kein Problem mehr sein. Aber ich mache mir Sorgen, dass sie alle so sehr aufgehetzt hat, dass unser neuer Status als Ehepaar keine Rolle spielen wird. Vielleicht sollte ich prüfen, ob ich wieder für meine alte Firma arbeiten kann.«
»Nein.« Ich weiß, wie sehr er seine Arbeit dort verabscheut hat. »Wir überlegen uns was. Wenn ich dafür ein falsches Lächeln aufsetzen muss, dann tue ich es. Das kriege ich hin.«
Trotz aller Versicherungen bin ich mir aber nicht so sicher. Ich habe meinen Stolz und kann nicht sehr gut um Verzeihung bitten, wenn ich das Gefühl habe, nichts falsch gemacht zu haben. Ist es so schlimm, wenn Ian und ich geknutscht haben? Wir haben es in unserer Freizeit und außerhalb des Schulgeländes getan – zumindest meistens. Da war der Vorfall am Valentinstag, als wir den Ball beaufsichtigten, und das eine Mal, als wir fast im Clubhaus rumgemacht hätten … Aber verlieren wir uns nicht in Einzelheiten.
Ian und ich schlendern Seite an Seite, aber ohne uns zu berühren, ins Schulgebäude. Er bringt mich zu meinem Klassenraum, und ich merke, dass er mich küssen will, aber wir sparen uns das. Stattdessen bitte ich: »Zeig ihn mir.«
Er wird ernst und hält mir seine Hand hin. Sein breiter goldener Ehering jagt mir einen freudigen Schauder über den Rücken.
»Ich liebe ihn.«
»Und deinen? Liebst du den auch?«
»Machst du Witze?«
Mein Ring könnte großen Schaden anrichten, wenn ich mich je dazu entschließen sollte, an einem Straßenkampf teilzunehmen. Ich senke den Blick darauf, und der Diamant funkelt zu uns auf.
Meinen Schülern fällt er sofort auf, vor allem einem: Nicholas.
»Guten Morgen, Ms. Abra… – o mein Gott, was ist das an Ihrer Hand?!«
»Nicholas, tief durchatmen.«
Er fächelt sich Luft zu, als würde er gleich ohnmächtig.
»Das ist ein Ehering«, gebe ich in aller Seelenruhe zu.
»Attacke, Ms. Abrams!«, johlt ein anderer Schüler aus den hinteren Reihen.
Nicholas wirft ihm einen mörderischen Blick zu und sieht wieder zu mir. »Wie konnten Sie mir das antun? Ich wollte auf Sie warten!«
Ich setze ihn vorsichtig auf seinen Stuhl, nur für den Fall, dass er gleich umkippt. »Nun, Nicholas, Mr. Fletcher und ich …«
»Mr. Fletcher?! Dann ist er also der Zerstörer unseres Glücks!«
Bis zum Ende der Stunde weicht er meinem Blick aus. Als ich alle Schüler nacheinander frage, welche Ideen sie für die dieswöchige Ausgabe unserer Zeitung haben, erklärt er, dass er einen Meinungsbeitrag über die Scheidungsraten in den USA schreiben will.
»Soviel ich weiß, wird fast die Hälfte aller Ehen geschieden«, raunt er und sieht durch mich hindurch.
»Das klingt nach einem interessanten Feature. Geh der Sache auf den Grund.«
Mir fehlt die Energie, sein verwundetes Teenager-Herz zu schonen. Ich muss mich auf die Elternbeiratssitzung am Abend konzentrieren. Zwischen den Unterrichtsstunden übe ich vor dem Spiegel, mich zu entschuldigen.
»Ja, Mrs. O’Doyle, Sie können mich mal.«
Hmm … vielleicht nicht ganz.
Ich dehne meinen Mund und entspanne meine Kiefermuskulatur, bevor ich es noch einmal versuche. »Mrs. O’Doyle und Mitglieder des Oak-Hill-Elternbeirats, ich bin heute hier, um Ihnen allen mitzuteilen, dass ich … dass ich dazu bereit bin, Ihnen allen zu sagen, dass … dass Sie zum nächsten sinnlosen Drama übergehen sollten. Und wussten Sie, dass Sie unten im Friseursalon Choppy Bobs zum ermäßigten Preis bekommen?«
Na schön, streichen wir das. Vielleicht überlasse ich Ian das mit der Entschuldigung und versuche, im Hintergrund zutiefst zerknirscht zu wirken.
Bis zur Mittagszeit hat sich unsere heimliche Hochzeit in der ganzen Schule herumgesprochen. Ian und ich wussten, dass es so kommen würde, und haben uns keine große Mühe gegeben, es geheim zu halten. Das hat keinen Sinn. Verheiratet zu sein sollte uns aus der Klemme helfen, in der wir uns befinden, und nebenbei bemerkt sind wir beide ziemlich aufgeregt deshalb. Ich war mir wirklich nicht sicher, wie der Rest der Schule es aufnehmen würde, aber als ich zum Mittagessen im Pausenraum erscheine, unterhält Ian die Anwesenden mit der Museumsgeschichte. Als ich hereinkomme, drehen sich alle zu mir um und applaudieren und pfeifen. Jemand hat sich sogar die Zeit genommen, den Raum mit Luftballons und Luftschlangen zu schmücken, und tatsächlich, auf meinem Platz wartet eine mit einer Schleife verzierte Sprühdose mit Schlagsahne auf mich. Ich halte sie lachend hoch.
»Haha. Sehr lustig.«
Das ist es wirklich. Später werde ich die Schlagsahne von Ians nackter Brust lecken.
Das Leben ist großartig.
Da steht sogar eine Torte mit der Aufschrift Happy Birthday, Mary! Den Witz verstehe ich zwar nicht, aber was soll’s, Torte ist Torte.
Nachdem wir sie angeschnitten und alle Stücke verteilt haben, ertönt eine leise Stimme von ziemlich weit hinten: »Ach, Mensch, ist das meine Geburtstagstorte?«
Das Neuntklässler-Quartett steht mit finsteren Mienen in einer Ecke. Als ich zu ihnen hinübersehe, fährt sich Gretchen drohend mit dem Zeigefinger über den Hals, woraufhin Bianca ihr einen Ellbogenstoß in die Rippen versetzt. »Himmel, wir wollen ihr doch nicht die Kehle durchschneiden, Gretchen!«
»Oh, das heißt es also? Das wusste ich nicht. Entschuldige, Sam!«
Wir klappen eine Karte auf, die ganz offensichtlich kurz vor der Mittagspause eilig zum Unterschreiben herumgereicht wurde. Die Hälfte der Unterzeichner gratuliert Mary herzlich zum Geburtstag. Es herrscht eindeutig eine Menge Verwirrung darüber, was wir gerade feiern. Arme Mary. Wir haben ihr echt die Show gestohlen.
Kurz bevor wir in unsere Klassenzimmer zurückgehen, will eine der Kolleginnen einen Kuss sehen, woraufhin Ian und ich uns anschauen und lachen. Das sollten wir eigentlich lieber lassen. Schließlich sind wir auf Bewährung. Wir sollten mit eingezogenen Schwänzen herumlaufen, aber ein Kuss kann doch nicht schaden, oder?
Also küssen wir uns, nur einmal, und alle applaudieren – bis Schuldirektor Pruitt hereinschneit und verkündet, dass die Party vorbei ist. Mary stürzt nach vorn und kratzt mit den Fingern den letzten Rest Glasur von ihrer zweckentfremdeten Geburtstagstorte.
Pruitt bittet uns, mit ihm in den Flur zu kommen, und wir folgen ihm. Die Torte liegt mir schwer im Magen.
»Sie zwei sind Meister der Diskretion, was?«, fragt er und deutet auf die Luftballons, die in den Flur schweben.
»Das waren wir nicht!«, beteuere ich rasch. »Ehrlich, wir wollten alles unauffällig halten, aber jemand hat Wind davon bekommen und eine kleine Hochzeitsparty für uns organisiert.«
»Dann stimmt es also? Sie beide haben am Wochenende heimlich geheiratet?«
Ich zeige ihm stolz meinen Ring, und Ian antwortet: »Ja, Sir. Damit sollte unser Vertragsbruch erledigt sein, oder?«
Er lacht. »Ehrlich, dafür gab es unkompliziertere Methoden. Sie zwei mussten dafür nicht gleich in den Hafen der Ehe einlaufen. Ich hatte nicht vor, zuzulassen, dass Mrs. O’Doyle und ihre Elternbeiratsgang Sie aus der Schule herausdrängen. Ich musste ihr nur zeigen, dass ich ihre Bedenken ernst nehme.«
»Dann waren unsere Jobs nie in Gefahr?«
»Nein.«
Wir schweigen betreten, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich in Ian verliebt bin und ihn nicht nur wegen dieses blöden Jobs geheiratet habe.
»Sie lassen Ihre Ehe doch jetzt nicht annullieren?«
»Nein!«, antworte ich schnell, und als ich zu Ian sehe, lächelt er mich an.
»Schön, dann sehe ich Sie beide nach Schulschluss auf der Elternbeiratskonferenz. Versuchen Sie, sich das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, bevor Sie hinkommen. Ich möchte, dass Sie reumütig aussehen, auch wenn es nur gespielt ist.«
Der Rest des Nachmittags zieht sich endlos hin. Bis um fünf nach drei habe ich mir die Fingernägel zu scharfen Dolchen abgekaut und vor lauter Stress auch noch das zweite Stück Torte gegessen, das ich mir auf dem Weg aus dem Pausenraum geklaut hatte. Ich bin von dem vielen Zucker ganz hibbelig.
Ian und ich treten mit Schuldirektor Pruitt vor die Elternbeiratskonferenz. Ich wünschte, wir würden Helme oder eine Rüstung tragen. Ich habe keine Ahnung, was uns erwartet: Zornige Mienen? Mistgabeln? Faule Tomaten? Sicherheitshalber ziehe ich rasch meinen zarten Schal ab.
In Wahrheit finden wir beim Reinkommen Mrs. O’Doyle vor, die mit verschränkten Armen ganz vorn im Klassenzimmer sitzt. Ein selbstgerechter Ausdruck verunstaltet ihr Gesicht – obwohl sie, der Tiefe dieser Falten nach zu urteilen, vielleicht immer so aussieht. Ich glaube, ihre Gesichtsmuskeln, die fürs Lächeln zuständig sind, hat sie seit den frühen 90ern nicht mehr benutzt.
Derweil drücken sich alle anderen Eltern um den Imbiss-Tisch am Ende des Klassenraumes herum und futtern sich durch Nüsse und etwas, das aussieht wie Unmengen von selbst gebackenen Cookies, »Macadamia Chocolate Chip«, wenn meine Nase mich nicht täuscht. Wenn alles läuft wie geplant, schnappe ich mir auf dem Weg nach draußen eine Handvoll davon. Wenn es schlecht ausgeht, nehme ich das ganze verdammte Blech mit.
Mrs. O’Doyles Blicke folgen mir in den Raum, aber sie grüßt mich nicht. Vorn im Klassenzimmer sind zwei Plätze mit kleinen Reserviert-Schildern gekennzeichnet, und als Schuldirektor Pruitt uns zum Hinsetzen auffordert, wird mir klar, dass sie für Ian und mich bestimmt sind. Ah, ich versteh schon: Uns wird der Prozess gemacht. Mrs. O’Doyle ist Richterin, Geschworenenjury und Henkerin in einem. Ian und mir ist die Guillotine zugedacht.
Ich suche nach einer Sense zu ihren Füßen, finde stattdessen aber nur knallorange Schuhe mit Keilabsätzen. Damit habe ich nicht gerechnet. Wie kann jemand, der so unausstehlich ist, so fröhliches Schuhwerk tragen?
»Hiermit eröffne ich die Sitzung des Elternbeirats!«, ruft sie und schlägt mit einem Holzhammer auf ihren Tisch. Sie wirkt, als fühlte sie sich mit dem Ding ziemlich wohl. Ich wette, wenn ich genau hinschauen würde, würde ich feststellen, dass ihr Name darin eingraviert ist. Sie legt den Hammer nachts unter ihr Kissen und nimmt ihn mit unter die Dusche. »Der erste Punkt auf der Tagesordnung ist die Diskussion über das Schlagsahnegate der letzten Woche.«
Das weckt die Aufmerksamkeit aller. Die Traube um den Imbisstisch löst sich auf, während alle um einen guten Sitzplatz wetteifern.
»Mrs. O’Doyle, dieser Zwischenfall steht nicht annähernd auf gleicher Stufe mit Watergate. Machen wir das nicht schwieriger als nötig«, verlangt Schuldirektor Pruitt. »Ich habe Mr. und Mrs. Fletcher nur hierhergebracht, damit wir ein paar Dinge klären und uns dann anderen Fragen zuwenden können.«
»Mr. und Mrs. Fletcher?«, fragt eine Elternbeirats-Mom neben mir, den Mund voller Kekse. »Ich dachte, das Problem bestünde darin, dass sie nicht verheiratet wären?«
Ein Chor der Entrüstung erhebt sich. Diese Leute sind hier, um etwas geboten zu bekommen, und jetzt sind sie enttäuscht.
»Genau! Was soll das?«
»Ruhe! Ruhe in meinem Gerichts- … ich meine, Klassenraum!«, schreit Mrs. O’Doyle und schlägt so fest mit ihrem Holzhammer, dass ich die Hände hochhalte, um mein Gesicht zu schützen, falls er zersplittert. »Was meinen Sie damit, Mr. und Mrs.?«
Schuldirektor Pruitt seufzt und dreht sich zu uns, als wollte er sagen: Na, dann legt mal los. Schadenfroh halte ich meinen beringten Finger in die Luft, als wollte ich ihr den Stinkefinger zeigen.
»Nein!« Mrs. O’Doyles Gesicht verzieht sich. »Eine Scheinehe – das geht nicht! Bestimmt steht dazu etwas im Lehrerleitfaden. Schuldirektor Pruitt, das kann, darf und wird nicht so stehen bleiben. Lehrkräfte können nicht einfach tändeln und dann heiraten, um den Konsequenzen zu entgehen. Ich werde das bis vor das höchste Gericht des Landes bringen – die Schulbehörde!«
Er schmunzelt. »Die Schulbehörde hat den Vorfall und die Richtlinien des Bezirks geprüft. Bisher lautet das einzige Urteil, das gefällt wurde: herzlichen Glückwunsch.«
»Und was ist mit der Bewährung?« Ihr Gesicht ist jetzt rot angelaufen.
»Von heute an beendet.«
»Weil sie geheiratet haben?« Sie spuckt vor Wut. »Ich komme mir vor, als würde ich Psychopillen nehmen.«
Ich unterdrücke ein Lachen. Könnte sein, Lady. Sehen Sie auf Ihrem Rezept nach.
»Na schön, nachdem das geklärt ist«, ruft ein Vater von ganz hinten, »können wir zu den Problemen mit der einspurigen Abholspur übergehen? Ich sollte nicht fast eine Dreiviertelstunde in der Schlange stehen, nur um mein Kind abzuholen.«
»Genau«, stimmt ein Chor aus Elternstimmen zu.
»Und was ist mit unserer Jahresabschluss-Benefizveranstaltung für die Softball-Mannschaft?!«, fragt ein anderer Vater nach.
Unser Prozess ist vorbei. Schuldirektor Pruitt zieht mit einem kleinen Winken unsere Aufmerksamkeit auf sich und nickt in Richtung Tür. Es ist Zeit, zu verschwinden. Wir haben unsere Schuldigkeit getan, indem wir hier waren, und ich brauchte mich noch nicht einmal zu entschuldigen.
»Glaubst du, ich kann mir einen Keks nehmen?«, frage ich Ian halblaut, als wir aufstehen.
Er legt den Arm um meine Schulter, als hätte er Sorge, dass ich es versuchen könnte. »Ich glaube, O’Doyle hat sie gebacken. Fordere dein Glück lieber nicht heraus.«
Ich seufze, als hätte ich schon befürchtet, dass er das sagt.
»Auf dem Heimweg besorge ich dir was. Jetzt komm.«
Eine flotte Soccer-Mom mit blondem Pferdeschwanz und perlweißem Lächeln greift nach meinem Arm und fängt mich ab, bevor ich die Tür erreiche. »Hallo, ich wollte Ihnen nur sagen …« Sie flüstert fast. »Unter uns Frauen gesprochen, wenn Sie auf Schlagsahne stehen, sollten Sie es einmal mit ganz leicht erwärmter Schokoladensoße probieren – aber nicht zu heiß.« Sie zuckt zusammen. »Das hab ich auf die harte Tour gelernt, ha! Ach, übrigens, ich glaube, Sie unterrichten meinen Sohn – Nicholas?«
Gütiger Gott.
Ich nehme die Beine in die Hand.