Kapitel 25

Ian

Sam sagt, unser neues Leben fühlt sich für sie immer noch nicht real an. Sie hat Angst, eines Tages in ihrer alten Wohnung aufzuwachen, in ihrem winzigen Bett, ohne mich. Ich verstehe das. Drei Jahre lang waren wir beste Freunde, die insgeheim ineinander verliebt waren. Drei Jahre sind eine lange Zeit, um sein Verknalltsein zu unterdrücken. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, meine Gefühle für Sam zu ignorieren, und diese Gewohnheit ist mir zur zweiten Natur geworden. Wir müssen unsere Gehirne ganz langsam neu vernetzen.

»Erinnere mich noch einmal«, sagte sie neulich Abend, als wir uns nebeneinander die Zähne putzten. »Du liebst mich so richtig? Nicht nur so als Freund?«

Unser Leben hat jetzt etwas Frisches, das jede Alltagspflicht aufregend macht. Sam zählt sie prompt alle auf. »Wir gehen einkaufen für unseren gemeinsamen Haushalt! Wir suchen eine Pflanze für die Ecke unseres Schlafzimmers aus! Wir planen eine Urlaubsreise, die wir als Ehepaar machen wollen. Ian, diese Post ist an Mrs. Fletcher adressiert!« Ihre Begeisterung ist ansteckend.

Mit jedem Tag, der vergeht, festigt sich unsere Beziehung. Die ersten Monate als frisch Verheiratete vergehen wie im Flug, während das Schuljahr zum Abschluss kommt. Der Mietvertrag ihrer Wohnung läuft aus. Wir eröffnen ein gemeinsames Bankkonto. Wir sprechen darüber, wann wir Kinder haben wollen, und wie viele.

»Die Rechnung ist ziemlich simpel«, erklärt sie.

»Inwiefern?«

»Tja, wenn wir pro Jahr ein Baby bekommen, bis ich fünfundvierzig werde, sind das achtzehn – ein hübsches anderthalb Dutzend«, verkündet sie, ohne eine Miene zu verziehen.

»Immer schön langsam«, protestiere ich. »Das ist doch Wahnsinn!«

»Warum?« Sie behält ihr Pokerface bei, also setze ich noch einen drauf.

»Weil ein Baby pro Jahr heißt, dass du zwischen deinen Schwangerschaften ganze drei Monate verplemperst. Ich hatte geglaubt, ich könnte einfach auf der Wochenbettstation auf dich draufsteigen, dann könnten wir …«

»Argh, stopp, stopp, stopp. Ich mache nur Witze. Fangen wir erst mal mit einem an, und wenn es gut läuft, machen wir es noch einmal.«

Heute Abend geben Sams Eltern eine Party, eine Art Familienzusammenführung. Das wird ein Desaster. Unsere Eheschließung ist jetzt fast sechs Monate her, und dieses Abendessen ist ein Versuch ihrer Eltern, ihr Verhalten wiedergutzumachen … in gewisser Weise. Sams Mutter ruft immer noch alle paar Tage an und fragt sie, ob sie gewillt sei, an einer kleinen kirchlichen Zeremonie (dreihundert Gäste) teilzunehmen. Sam bleibt stur, und ihre Mutter sieht es jedes Mal als persönliche Beleidigung.

»Ich weiß, es wirkt hartherzig, aber ich hab mein ganzes Leben lang ihren Forderungen nachgegeben. Damit ist jetzt Schluss. Ich hatte eine Hochzeit nach meinen Vorstellungen. Nichts kann das toppen. Wir sind um unser Leben gerannt!«

»Ich bin ganz deiner Meinung.«

»Okay«, sagt Sam, als wir über den Weg vor dem Haus ihrer Eltern schlendern. »Wenn meine Mom mich wieder danach fragt, musst du mich unterstützen.«

Ich nicke. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, denn heute Abend wird ihre Mom Sam nicht danach fragen. Bei ihrer Mutter geht nichts über den äußeren Schein, weshalb sie sich vor meinen Eltern nie mit Sam streiten würde. So wie es sich anhört, sind sie schon drin. Ich höre das Gelächter meiner Mutter schon von Weitem.

Sam öffnet die Tür, und da sind sie: zwei Paare, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre Eltern sind groß und dünn, wie menschliche Vögel. Sie kleiden sich in Khaki- und Cremetönen und halten im Alleingang den Beige-Trend am Leben. Meine Eltern sind korpulenter und lächeln breit. Wie bei Sam und mir besteht zwischen den beiden ein beträchtlicher Größenunterschied. Heute Abend trägt meine Mutter ein rosa Kleid, während sich mein Dad in sein schönstes Hawaii-Hemd geworfen hat.

Sobald wir hereinkommen, kommt meine Mom angerannt und schließt Sam lebensbedrohlich fest in die Arme. Sam drückt meine Hand, als versuchte sie mir mit dem Morsealphabet die Nachricht zu übermitteln: Bitte, STOPP, hilf mir, STOPP, ich kriege keine Luft, STOPP.

»Du siehst wunderschön aus! Strahlend!« Sie senkt die Stimme. »Du bist doch nicht schwanger, oder?«

»Mom«, warne ich sie.

Sie tritt zurück, ohne Sams ausgestreckte Hände loszulassen. »Entschuldigung. Reines Wunschdenken.«

Sams Mom tätschelt nur ihre Schulter. »Hallo, Liebes.«

»Hallo, Mom.«

»Ich, ähmmm …« Ihre Mom braucht einen Moment, um Sams Äußeres genau unter die Lupe zu nehmen. »Mir gefällt, was du heute Abend mit deinen Haaren gemacht hast.«

Ihr dieses Kompliment zu machen bereitet ihr Schmerzen. Sam trägt ihre Haare lockig und ungebändigt. Die Haare ihrer Mutter hingegen sind in eine strenge Hochsteckfrisur gezwungen, die die Haut ihrer Stirn nach oben zieht, sodass ihr Gesicht permanent Überraschung ausdrückt. Sie sieht aus wie die Direktorin eines Internats, auf das schwer erziehbare Jugendliche geschickt werden.

Ihr Dad klopft mir auf die Schulter, während wir uns die Hände schütteln. »Wie geht es Ihnen, Ian?«

»Gut, Sir. Danke.«

»Passen Sie gut auf meine Tochter auf?«

Seine Frage mag förmlich klingen, aber sein Tonfall ist es nicht. Von Sams Eltern ist ihr Dad der Umgänglichere. Er will nur, dass Sam glücklich ist.

Während des Vier-Gänge-Menüs geschieht etwas höchst Merkwürdiges: Unsere Eltern freunden sich an. Unsere Mütter kommen außerordentlich gut miteinander aus. Das liegt vielleicht daran, dass meine Mutter sich mit einem Schuh unterhalten und ihn sich zum Freund machen könnte. Sie zieht Mrs. Abrams’ Schichten ab wie eine hochqualifizierte Psychiaterin.

»Erzählen Sie mir mehr aus Ihrer Kindheit!«

Nach dem Dessert wollen alle ins Wohnzimmer wechseln und Brettspiele spielen, aber Sam und ich haben genug von den neuen, engen Familienbanden.

Wir flüchten bei der erstbesten Gelegenheit.

»Danke fürs Abendessen, Mom und Dad! Wir sprechen uns bald. Mr. und Mrs. Fletcher, wir sehen uns morgen vor der Heimfahrt zum Frühstück!«, ruft Sam und macht rasch die Runde, um alle zu umarmen.

Als wir vor die Tür treten, greift sie nach meiner Hand und zieht mich, so flink ihre kurzen Beine sie tragen, zu meinem Wagen.

»Schnell, beeil dich! Meine Mom überlegt sich bestimmt, wie sie uns wieder ins Haus kriegt.«

Wir springen ins Auto und schnallen uns rasch an. Im Nu haben wir das Wohnviertel hinter uns gelassen.

»Puh. Das lief gut. Ich glaube, zwischen unseren Müttern hat’s gefunkt.«

Ich nicke. »Ja, das lief besser als gedacht.«

»Es würde mich nicht überraschen, wenn deine Mom meine Eltern morgen zum Frühstück einlädt.«

»Ja. Darauf sollten wir wahrscheinlich gefasst sein.«

»Hey, kannst du bei dieser Apotheke dort halten?«, fragt sie. »Ich muss da drin ein paar Sachen besorgen.«

Ich wechsele auf die rechte Spur, um auf den Parkplatz abzubiegen.

Sie zappelt auf dem Beifahrersitz mit den Beinen, als wäre sie auf Drogen. »Willst du nicht wissen, was ich brauche?«

»Ääh, eigentlich n…«

»Einen Schwangerschaftstest.«

Ich komme fast von der Straße ab.

Schließlich nehme ich im hinteren Teil des Parkplatzes zweieinhalb Parklücken in Beschlag. Im Radio singt Justin Timberlake, und Sam und ich bleiben im Wagen sitzen, während mein Gehirn die Information verarbeitet.

Sie rüttelt an meinem Arm. »Ian, bist du da?«

Sie wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht, und ich komme zurück in die Realität. Mit einem albernen Grinsen drehe ich mich zu ihr.

»Worauf zum Teufel warten wir noch?!«

Sie strahlt, und wir drehen uns gleichzeitig, um an unseren Türgriffen zu ziehen.

In der Apotheke räumt Sam mit ihrem Arm die vordere Reihe eines Regalfachs ab. Unser kleiner Einkaufskorb ist randvoll. Wir kaufen einen Test von jeder Marke, was zu viel des Guten ist, aber es hat keinen Zweck, es ihr ausreden zu wollen.

»Weil sie das im Film auch immer so machen! Das muss doch einen Grund haben!«

Als wir bezahlen, sagt die Verkäuferin kein Wort, obwohl sie Sams Aufregung zu spüren scheint, denn sie lächelt sie an, als sie die Schwangerschaftstests in zwei Tüten packt.

Unser Wunsch würde in Erfüllung gehen. Wir haben ausgiebig darüber gesprochen. Ich werde in einem Monat dreißig. Sam ist vor ein paar Wochen achtundzwanzig geworden. Wir haben eine Menge Geld gespart. Ich habe mich schon über die besten Optionen für Ausbildungssparfonds informiert. Wir sind bereit, aber es fühlt sich trotzdem so an, als wären wir zwei Teenager, die nichts Gutes im Schilde führen.

»Mach schnell, beeil dich«, drängt Sam, als wir zu Hause vorfahren. »Ich halte es schon den ganzen Abend ein, um genug Urin für die vielen Tests zu haben.«

»Meiner Meinung als Chemiker nach brauchst du wenigstens vier Liter Urin.«

»Du machst Witze, aber die hab ich sogar!«

Unsere Tüten sind schwer und voll beladen. Als ich in die Einfahrt fahre, springt Sam aus dem Auto und stürmt zur Tür. Sie rennt direkt ins große Bad und ich hinterher.

»Wollen wir nicht erst die Anleitungen lesen?«, frage ich stirnrunzelnd, während Sam anfängt, die Schachteln aufzureißen wie ein hungriger Bär, der im Wald über ein Picknick gestolpert ist. »Damit du auf die richtigen Stellen pinkelst?«

»Ich kenne die richtigen Stellen. Aus Filmen, weißt du noch?«

Ich bestehe trotzdem darauf. Jeder Test erfordert andere Vorbereitungen. Bei manchen soll man direkt auf den Applikator pinkeln. Bei anderen soll man das Ende des Teststicks in einen kleinen Becher mit Urin tauchen. Manche zeigen Striche an, andere POS oder NEG. Sam hopst von einem Bein aufs andere und hält die Hände vor ihren Schritt, als versuchte sie, den Urin körperlich in sich zu halten.

»Beeil dich!«

»Okay, hier. Fang mit dem an.«

Sie pinkelt darauf, und ich reiche ihr einen anderen. Dann den nächsten. Bevor ihre Blase vollständig entleert ist, haben wir zwölf Stück voreinander aufgereiht.

»Verdammt«, sage ich und begutachte unsere Aufstellung.

Selbstzufrieden wäscht sie sich die Hände. »Was glaubst du, Mann der Wissenschaft? Reichen die Daten aus?«

Ich nicke lächelnd. Dann trete ich einen Schritt zurück und rutsche an der Wand zu Boden. Die Aufregung der letzten halben Stunde fordert langsam ihren Tribut.

Sam bleibt stehen und betrachtet mit den Händen in den Hüften die Tests. »Wie lange müssen wir warten?«

»Der erste ist in fünf Minuten so weit.«

Als ich es laut ausspreche, wird mir ganz anders. Sie dreht sich wieder zu mir, und da sehe ich, dass sie jetzt zittert und ihr Tränen in die Augen steigen. »Und wenn er nun positiv ist?«

Ich lege den Kopf schief und sehe sie prüfend an. »Dann freuen wir uns.«

»Und wenn er negativ ist?«

»Dann sind wir wahrscheinlich erleichtert, versuchen es aber trotzdem weiter.«

»Deine Mom scheint hellsehen zu können. Du hast ihr doch nicht gesagt, dass wir schwanger werden wollen, oder?«

»Nein. Sie ist selbst darauf gekommen.«

»Sie hat gesagt, ich strahle.«

Ich lächele. »Das stimmt ja auch.«

»Wie viel Zeit ist schon vergangen?«

Ich konsultiere den Timer meines Handys. »Dreißig Sekunden.«

»O Gott. Mir ist schlecht.«

»Auf gute oder auf schlechte Weise?«

»Keine Ahnung. Ich wünsche es mir, aber ich hab auf einmal das Gefühl, der Sache nicht gewachsen zu sein. Das ist dasselbe Gefühl wie damals, als du mir den Heiratsantrag gemacht hast.«

Ich verstehe, was sie meint. Es wäre naiv von uns, zu glauben, dass das kein Riesenschritt ist. Unser Leben wird sich für immer verändern.

»Komm und setz dich zu mir.«

Ich beuge die Knie, sodass sie in die Lücke zwischen meinen Beinen passt. Sie dreht sich um, setzt sich hin und lehnt sich mit dem Rücken an meine Brust. Mein Herz pocht an ihrem Schulterblatt. Ich fühle ihren Puls – schneller als der eines Kolibris. Die andere Hand lege ich auf ihren Bauch. Ich weiß, dass es zu früh wäre, um etwas zu spüren, aber ich will irgendetwas fühlen.

»Ian? Weißt du noch, als ich mich an Halloween als Hermine verkleidet habe und du zu mir sagtest, ich sähe aus wie ein Nerd?«

Ich lächele und lehne mich mit dem Kopf an die Wand. »Ja, an dem Abend hab ich versucht, dich zu küssen.«

»Was?!«

»Am Bowletisch, aber das war zu spät. Du hattest ungefähr vier Shots intus und hast mich vollgekotzt.«

»O Gott. Dass mir schlecht war, weiß ich noch, aber nicht, dass du versucht hast, mich zu küssen.«

Ich senke den Blick auf den Timer und stelle fest, dass es noch zwei Minuten sind.

»Tja, das lief alles nicht besonders glatt. Du hast mich nervös gemacht.«

Sie lacht, als wäre das total absurd.

»Ich frage mich, wie anders alles verlaufen wäre, wenn du mich tatsächlich geküsst hättest.«

Total anders, aber ich würde nichts ändern wollen.

»Das ist verrückt«, murmelt sie vor sich hin.

Eine weitere Minute vergeht, und jetzt sind es nur noch Sekunden, bis der erste Test so weit ist. Sam sieht nach der Zeit, und ihr Puls hämmert so, dass er durch ihre Haut zu sehen ist.

»Wollen wir zusammen nachschauen?«, fragt sie.

»Mach du das.«

Ich weiß momentan nicht mal, ob ich stehen kann.

Die Zeit kommt fast zum Stillstand, als sie sich aufrappelt und zu den Tests geht, um nachzusehen. Mir schießt eine Menge durch den Kopf: Kinderzimmerfarben, Kitas, Windeln, knubbelige Finger und Zehen.

Es ist ein einfacher, althergebrachter Test mit zwei Strichen für »Positiv« und einem für »Negativ«.

Sie sollte eine Sekunde brauchen, um Bescheid zu wissen.

Der Timer fängt an zu piepsen.

Sam senkt den Blick, greift nach dem Test, wirbelt herum und kreischt.