»Es ist so still …«

Dort, wo ich vorher gewohnt hatte, war es lebhafter zugegangen, stets hatte sich entweder Reina oder Mama um mich gekümmert. Sowohl die Dame, die mich aufgenommen hatte, als auch ihr Mann verließen am frühen Morgen das Haus und kamen erst spätabends wieder zurück.

Da ich so allein war, hatte ich nach meiner Ankunft hier eine Zeitlang fast nur geweint, aber irgendwann hatte ich mich an das Alleinsein gewöhnt, und schließlich erwachte sogar Entdeckerlust in mir.

Eine Zeitlang vergnügte ich mich damit, die Treppe hoch und runter zu laufen. In Reinas Wohnung hatte es keine gegeben, und diese Treppe hier war wirklich überaus interessant.

Dann trank ich Wasser und fraß jnuspriges Trockenfutter, um mir schließlich einen Ort zu suchen, an dem ich mich schlafen legen konnte.

Als ich durch eine halb offen stehende Tür ein Zimmer betrat, in dem kein Licht angeschaltet war, blieb mir fast das Herz stehen.

Denn dort saß eine Menschenfrau.

Ich sträubte mein Fell und sprang mit einem Satz rückwärts, indem ich mich mit allen vier Pfoten vom Boden abstieß. Das ging natürlich nicht lautlos vonstatten und erregte die Aufmerksamkeit der Menschenfrau. Ihr langes Haar hatte sie einfach zusammengebunden und ihre Kleidung ähnelte der von Reina, wenn sie schlafen ging.

Die Vorhänge mit dem großen Blumenmuster vor dem Fenster waren zugezogen. Trotzdem drang Sonnenlicht hindurch und tauchte den Raum in diffuses Licht.

 

Ganz langsam drehte sich die Frau zu mir um und sagte:

»Geh wieder!«

Dennoch fasste ich mir ein Herz und fragte:

»Wer bist du?«

Aber sie erwiderte nur: »Geh wieder!«

Im Zimmer herrschte eine ähnliche

Um ihren Geruch zu erschnuppern, näherte ich mich ihr. Sie roch nach Beute. Nach einem geschwächten, entkräfteten Wesen auf der Seite der Gejagten.

Sie berührte mich. Im selben Augenblick hatte ich das Gefühl, dass sich ihr Leid auf mich übertrug, denn an der Stelle, die sie berührt hatte, spürte ich einen brennenden Schmerz.

Krah!

Vor dem Fenster hob lautes Krächzen an, weshalb ich erneut mit allen vier Pfoten rückwärts sprang. Hinter dem Vorhang war nicht nur Flügelschlagen zu hören, sondern auch die Silhouette eines riesigen Vogels zu erkennen.

Ich erschrak noch mehr und rannte wie wild kreuz und quer durch das Zimmer. Egal wo, ich brauchte ein Plätzchen zum Verstecken! Unter dem Schreibtisch, hinter der Heizung, ich raste mit Höchstgeschwindigkeit zwischen den Zeitschriftenstapeln hin und her.

»Hör auf!«, schrie sie mit heiserer Stimme.

Ich kletterte auf den höchsten Schrank, um dort oben meinen Schwanz so richtig aufzuplustern.

»Mein Zimmer …«

Warum weinte sie nur?

Ehe ich mich versah, war die Silhouette des Vogels verschwunden. Puh, war das gefährlich gewesen! Um mich wieder zu beruhigen, begann ich mich zu putzen.

Ich entdeckte, dass sich ein hübsches Band um meine Pfote gewickelt hatte. Es war mit einem silbernen Glöckchen versehen und bildete eine Schlaufe. Offenbar hatte sich meine Pfote beim Umherflitzen darin verfangen.

Langsam kletterte ich vom Schrank herunter und näherte mich der weinenden Frau.

Klingeling!

Bei jedem Schritt klingelte das Glöckchen. Wie lästig!

»Hör mal, kannst du mir das nicht abnehmen?«

Sie hörte auf zu weinen, sah mich an, griff nach dem Band mit dem Glöckchen und begann noch heftiger zu weinen als zuvor.

Ich verstand überhaupt nicht, warum.

»Danke! Danke, dass du es gefunden hast!«

Sie umarmte mich und schloss dabei nun ganz entspannt ihre Augen. Das beruhigte mich ungemein.

»Meine kleine Cookie!«

»Cookie, ich bin Aoi. Lass uns Freunde werden!«

Danach gab sie mir Wasser.

*

Während ich das Freundschaftsband in meiner Hand betrachtete, glaubte ich zu träumen.

Ich war dagegen gewesen, eine Katze aufzunehmen. Zum einen hatte ich geglaubt, ich könnte es nicht ertragen, wenn sie meine Mangas ruinierte, zum anderen wollte ich es nicht, weil so leicht zu durchschauen war, dass sie helfen sollte, meine Krankheit zu heilen. Denn wenn ich zugab, krank zu sein, dann drohte ich wirklich krank zu werden.

Aber nun hatte dieses Katzenkind Cookie Maris Freundschaftsband gefunden, das sie vor langer Zeit in meinem Zimmer verloren hatte.

Cookie schleckerte hingebungsvoll das Wasser.

Mari hatte Katzen geliebt.

Ach ja, der Anlass für Maris ersten Besuch bei mir zu Hause war gewesen, dass sie meine Katze sehen wollte. Die Katze Jessica, die meine Eltern bereits seit der Zeit vor meiner Geburt hatten, war schon Großmutter und hatte stets die Ruhe

Danach wollte meine Mutter keine zweite Katze, doch Mari und ich versuchten, streunende Katzen in unserer Gegend durch Füttern an uns zu gewöhnen.

Schließlich kam auch ein sehr großer, schmutziger Kater zu uns. Er kam immer wieder und ließ sich auf unserem Balkon das knusprige Trockenfutter schmecken, das wir ihm gaben. Er hatte eine sehr energische Art zu essen, das war echt sehenswert.

»Danke, Cookie!«

»Miau!«, antwortete sie.

*

Aois Haus war zweigeschossig. Sie und ihre Eltern lebten zu dritt darin. Ihr Vater hatte kaum Interesse an mir. Auch ich interessierte mich nicht für ihn. Ihre Mutter war die Dame, die mich ins Haus geholt hatte. Da sie mich richtig grüßte, maunzte ich auch, wenn ich Lust dazu hatte. Sie kam mittags kurz nach Hause, um Aois Essen zuzubereiten, und eilte dann wieder davon.

Deswegen fand ich, dass sie meine Herrin war und ich ihre Katze.

Aoi blieb den ganzen Tag zu Hause, und oft machte sie ein Gesicht, bei dem man nicht wusste, ob sie schon tot oder noch lebendig war. In ihrem Zimmer gab es lauter Dinge, mit denen man Spaß hätte haben können, aber kein einziges Mal sah ich sie damit spielen.

Auch wenn ich sie zum Spielen einlud, schaute sie mich nur geistesabwesend an und wollte einfach nicht mitmachen.

Trotzdem versuchte sie niemals mehr, mich hinauszuwerfen.

Die meiste Zeit lag sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett und schlief fast genauso viel wie wir Katzen. Im Unterschied zu uns vergoss sie hin und wieder Tränen. »Wenn man immerzu weint, bekommt man Tränenrinnen unter den Augen und sieht dann ganz hässlich aus«, hatte meine Mama mir beigebracht. Für alle Fälle hatte ich das auch Aoi erklärt, aber ich wusste nicht, ob sie mich verstanden hatte.

Ich konnte mir auch nicht erklären, warum sie so tief betrübt war.

Wenn ich sie sah, hatte ich manchmal das Gefühl, kaum Luft zu bekommen.

In ihrem stillen Zimmer versuchte ich, keinen Mucks von mir zu geben. So verbrachte ich den ersten Winter meines Lebens.