Der Herbst kam. Als die Bäume ihr Laub abwarfen, wurde Aoi immer dünner und schwächer, und immer öfter stritt sie mit ihrer Mutter.
An manchen Tagen verließ sie nicht einmal mehr ihr Bett.
Mit der Zeit entdeckte ich eine Methode, an das Trockenfutter heranzukommen und mich selbst zu versorgen.
Eines Tages im Herbst kam in der Abenddämmerung Chobi, der mich sonst immer zu anderen Tageszeiten besucht hatte.
»Hör mal, Cookie! Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber Mimi geht es nicht so gut.«
»Mama?«
»Sie will dich sehen.«
»Aber niemand lässt mich hier raus.«
»Stimmt. Aber wenn ich Mimi etwas von dir ausrichten soll, kannst du es mir sagen.«
Auch nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, wollte mir einfach nichts Passendes einfallen.
»Sag ihr, sie soll durchhalten!«
»Alles klar! Mimi freut sich bestimmt.«
Aoi stand auf. Als Chobi sie sah, verschwand er sofort vom Balkon.
»Hör mal, Aoi, ich will meine Mama sehen. Es geht ihr nicht so gut. Deshalb will ich zu ihr.«
Aoi streichelte wortlos mein Fell. Das Glöckchen des Freundschaftsbands an ihrem Handgelenk bimmelte.
›Sie versteht mich nicht. Sie will mich nicht gehen lassen!‹
Ich wurde wütend. Ich schnappte nach dem Freundschaftsband und zog entschlossen daran.
»Das darfst du nicht! Hör auf!«, schrie Aoi.
»Warum tust du das?!«
›Bitte, Aoi! Ich will zu meiner Mama!‹
»Hör auf! Verschwinde!«
Aoi entriss mir das Freundschaftsband und verkroch sich wieder unter der Bettdecke.
Ich beschloss, auf eigene Faust zu Mama zu gehen.
Als Aois Mutter mittags kurz nach Hause kam und die Wäsche von der Leine nahm, kletterte ich heimlich über die Wäschestange auf das Dach.
»Ich kann sogar vom Dach springen!« Ich erinnerte mich daran, das einmal zu Mama gesagt zu haben.
»Klar schaffst du das!«
Ich glaubte, Mamas Stimme zu hören. Entschlossen und mutig sprang ich.
Cookie war ausgerissen.
Das war bestimmt meine Schuld.
Denn ich hatte zu ihr gesagt: »Verschwinde!«
Eine Katze, die immer nur im Haus lebt, würde in der Welt da draußen nicht zurechtkommen. Jessica, die Katze, die wir früher hatten, war auch einmal ausgerissen, und wir entdeckten sie dann in der Nähe unseres Hauses auf der Straße, wo sie von einem Auto mitgerissen worden war.
Cookie kannte sich hier in der Gegend doch überhaupt nicht aus und würde es wohl auch nicht schaffen, wieder zurückzukommen.
Ausgerechnet jetzt waren beide Eltern bei der Arbeit!
Ich musste Cookie helfen!
Doch mein Körper wollte sich nicht bewegen. Ich war nicht mehr Herrin über mein Herz und meinen Körper.
Als ich es nicht geschafft hatte, zur Andacht von Maris erstem Todestag zu gehen, war irgendetwas in mir endgültig zerbrochen.
Ich war nunmehr ein Wesen, das nur noch atmete.
Was sollte ich nur tun?
Zu nichts mehr fähig, konnte ich nur noch zittern und mir die Bettdecke über den Kopf ziehen.
Mari, Mari, bitte hilf!
Eine Welt ohne Zimmerdecke.
Als ich zum unendlichen, transparenten blauen Himmel emporschaute, schien es mir, als würde er mich verschlingen, und ich hielt es vor Angst kaum aus. Bemüht, nicht nach oben zu blicken, sauste ich los.
Ich rannte und rannte und merkte immer mehr, dass diese Welt ganz und gar nicht so aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war um so vieles größer und weiter.
Mein Unbehagen wuchs.
Das war es bestimmt auch, wovor Aoi sich fürchtete.
Ich hatte geglaubt, ich bräuchte einfach nur nach draußen zu gehen und ein kleines Stückchen zu laufen, und dann wäre ich schon bei meiner Mama. Schließlich kamen ja auch Chobi und Kuro immer wieder einfach mal so bei mir vorbei.
Da witterte ich eine andere Katze.
Plötzlich stieg Panik in mir auf. Um diesem Geruch zu entkommen, raste ich wie wild durch die Gegend.
Weit und breit gab es niemanden, der mich hätte beschützen können.
Dass die Welt so unendlich groß und kompliziert war – das hatte ich nicht gewusst.
Nachdem ich Gassen entlanggerannt war, die ich noch nicht kannte, war ich erschöpft und wollte mich unter einem großen Strauch ausruhen. Das jedoch war ein Fehler.
War da jemand? Als mir dieser Gedanke kam, war es schon zu spät. Vor mir stand ein riesengroßer Kater.
»Verschwinde!«
Seine Stimme war eiskalt, so dass mir das Blut in den Adern gefror.
»Moment!«
Mit ausgefahrenen Krallen stürzte sich der Kater auf mich. Überstürzt rannte ich los, doch er erwischte mich genau an der Stelle, wo mein Schwanz beginnt.
Vor lauter Schmerz wurde mir ganz elend, der Po tat mir schrecklich weh, doch ich rannte immer weiter. Längst wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand. Ob ich es jemals schaffen würde, wieder nach Hause zurückzufinden?
Bei diesem Gedanken hätte ich am liebsten geweint, verkniff es mir aber. Denn ich wollte ja nicht, dass der Kater das hörte und angerannt kam.
Immer und immer wieder hatte ich darüber nachgedacht.
Wäre ich damals sofort zu Mari gegangen und hätte mich bei ihr entschuldigt: »Tut mir leid, dass ich so etwas Schreckliches zu dir gesagt habe!«, dann wäre sie vielleicht nicht gestorben.
Ach, wenn ich doch nur sofort gehandelt hätte! Dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.
Dasselbe wollte ich kein zweites Mal erleben.
Wenn ich jetzt losging, um Cookie zu helfen, konnte ich sie vielleicht noch retten.
Es sollte nicht noch jemand meinetwegen sterben.
Ich musste zu Cookie und ihr helfen.
Sie hatte mich damals vor den Krähen gerettet.
Diesmal war die Reihe an mir. Nun musste ich sie retten.
Ich verließ mein Bett und zog mir eine Jacke über.
Mari, leih mir Kraft! Auch wenn diese Bitte sehr eigennützig ist …
Klingeling. Das Glöckchen des Freundschaftsbandes machte mir Mut. Im Haus konnte ich mich frei bewegen. Es ging mir gut. Ich würde stark genug sein.
Diesmal würde ich es schaffen, nach draußen zu gehen.
Ich war mir meiner Sache so sicher wie nie zuvor und öffnete die Haustür.
Im selben Augenblick verließ mich der Mut. Mein Fuß stockte.
Diesen einen Schritt vermochte ich einfach nicht zu gehen. Obwohl er doch auch nicht anders als die Schritte im Haus war.
Es kam mir so vor, als schleiche sich von draußen heimlich ein Vakuum durch die Eingangstür herein und käme mir immer näher. Mir blieb die Luft weg.
Es ging nicht! Ich schaffte es einfach nicht, nach draußen zu gehen!
Mir wurde schwarz vor Augen. Die Tür schloss sich. Taumelnd hockte ich mich hin.
In diesem Moment zerrte etwas ganz unnatürlich an meiner rechten Hand.
Klingeling! Das Freundschaftsband war am Türgriff hängen geblieben und löste sich von meinem Handgelenk.
Das musste ich unbedingt verhindern!
Ich blieb in der Hocke und versuchte mit ausgestreckter Hand, das Armband vom Türgriff zu lösen, bis ich schließlich mit dem ganzen Körper gegen die Tür fiel.
Klingeling!
Meine Hand umschloss Maris Armband.
Da merkte ich, dass ich bei dem Versuch, das Armband zu fassen, einen Schritt vorwärts gemacht hatte.
Ich sah, dass ein Fuß von mir nun draußen vor der Eingangstür stand, die sich geöffnet hatte!
Ich wurde leichenblass. Alles ist gut, beruhigte ich mich, denn ich habe ja Maris Freundschaftsband!
Das Band in meiner Hand war zerrissen.
Es hieß doch, dass sich ein Wunsch erfüllte, wenn das Band riss! Maris Freundschaftsband hatte meinen Wunsch erfüllt!
Jetzt konnte ich endlich das Haus verlassen.
Ich ging einen Schritt nach draußen. Diesmal bewusst. Nun waren beide Füße draußen.
Vor mir breitete sich eine unendliche Welt aus.
Danke, Mari!
Zuversichtlich ging ich hinaus.
Cookie, warte auf mich!
Erschöpft schleppte ich mich auf dem Weg am Fluss dahin.
Mein Schatten wurde immer länger und mir ganz unheimlich zumute.
Es war dunkel und kalt, und jedes Mal, wenn die Krähen laut loskrächzten, bekam ich es mit der Angst zu tun und versteckte mich. Ich war zu mutlos und verzagt, um noch irgendetwas zu unternehmen.
Völlig entkräftet und hungrig suchte ich nun statt nach dem Heimweg nach etwas Essbarem. Ich wusste nicht, wie ich eine Beute fangen sollte, und auch nicht, wo ich hätte Futter finden können. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als in der Dunkelheit umherzuirren.
Auf einmal nahm ich einen zarten, wunderbaren Duft wahr. Es roch ganz köstlich nach Reis und Fischbrühe. Ich näherte mich auf direktem Weg der Quelle dieses Duftes und entdeckte Futter in einem Keramiknapf. Unter den Reis waren verschiedene Dinge gemischt, und obendrauf lagen Bonito-Flocken. Alles hatte genau die richtige Temperatur.
Wahrscheinlich war das Futter für eine andere Katze bestimmt. Aber das war mir egal. Entschlossen stürzte ich mich darauf, um es zu verschlingen. Noch nie hatte ich etwas so Leckeres gegessen.
»Hey du, das ist mein Futter!«, kam eine Stimme von hinten. Mir drohte das Herz stehen zu bleiben.
Den Mund noch voller Reis, drehte ich mich vorsichtig um.
Vor mir stand ein riesiger, fetter streunender Kater. Hastig schluckte ich den Reis hinunter.
»Kuro!«
»Ach, du erinnerst dich an mich? Die Tochter von Mimi.«
»Ich heiße Cookie.«
»Bist du auch ausgesetzt worden?«
»Nein! Aoi würde mich nie aussetzen!«
»Ja, wenn das so ist, was ist denn dann passiert?«
»Ich wollte zu meiner Mama und bin ausgegangen«, erwiderte ich und versuchte dabei, auch noch mutig zu wirken.
»Ausgegangen, soso …«
Kuro lachte höhnisch.
»Na und?«
»Komm mit!«
Kuro lief zügig los. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen?
Da er nichts sagte, fragte ich ihn:
»Warst du auch in Mama verliebt?«
»Wovon redest du?«
»Ich habe gehört, dass alle Katzen hier in der Gegend in Mama verliebt waren.«
»Deine Mama hat aber ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein.«
»Also …«
»Sei einfach still und folge mir!«
Dank Kuro hatte ich nun keine Angst mehr und mich beruhigt, weshalb ich redselig wurde, aber ganz gleich, was ich auch sagte, Kuro antwortete nicht mehr darauf.
Als wir schon sehr weit gelaufen waren und mir die Pfoten schmerzten, roch es auf einmal immer vertrauter.
Nach trockenem Laub, nach Terpentinöl, jenem Öl, das Reina beim Malen verwendete.
Ich überholte Kuro und rannte los.
Die Sonne war schon untergegangen und ich konnte fast nichts mehr erkennen, aber ich war mir sicher, dass ich mich nicht irrte.
Es war die Wohnung, in der Mama und Reina lebten.
Ich atmete tief ein und maunzte.
Es kam keine Antwort.
»Mama und Reina sind nicht da.«
»Vielleicht ist … schon …«
Kuro runzelte die Stirn.
»Sag doch nicht so etwas!«
Beängstigende Gedanken kamen mir in den Sinn. Vielleicht würde ich ja Mama nie wiedersehen!
»Cookie!«
Ich hörte, wie jemand nach mir rief. Diese Stimme …
»Aoi!«
Ich maunzte, so laut ich konnte.
»Cookie!«
Da konnte ich Aoi sehen. Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass sie mich holen kommen könnte.
Über ihrem Pyjama trug sie eine Jacke und an den nackten Füßen Sandalen.
Ich sprang ihr auf den Arm.
Als Aoi mich sah, schluchzte sie laut auf und die Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Oh, wie schön! Aoi, du kannst ja wieder nach draußen gehen!«, miaute ich voller Freude.
»Dann ist ja alles gut«, sagte Kuro und lief davon.
›Wenn er das nächste Mal zu uns kommt, muss Aoi ihm lauter Leckerbissen servieren‹, dachte ich.
Ich hörte, wie sich ein Auto näherte. Es war ein Taxi.
Mit einem Käfig in der Hand stieg Reina aus.
»Reina!«
Sie war so überrascht, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
»Cookie?«
Ich maunzte noch einmal ganz laut.
»Ja, ich bin Cookie!«
»Sie sind wohl die Frau, bei der Cookie jetzt lebt? Sind Sie gekommen, um Mimi einen Krankenbesuch abzustatten? Kommen Sie doch herein!«
Bei diesen Worten schloss Reina die Tür auf.
»Was ist mit Mama?«, fragte ich Reina.
»Bleib ganz ruhig! Du kannst sie gleich sehen.«
In Reinas Wohnung sah ich dann Mama wieder.
Sie stieg aus dem Käfig und hatte einen großen, hässlichen Kragen um den Hals und einen Verband an einer Hinterpfote. Ich hätte nie gedacht, dass meine Mama so klein war.
»Du bist aber groß geworden, Cookie!«
Sie wirkte geschwächt, ihre Stimme aber war fest.
»Mama, jetzt wird alles wieder gut.«
»Danke!«
So wie sie mich immer geputzt hatte, machte ich das nun bei ihr, wobei ich ihren Geruch tief einatmete. Dabei schlief sie ein.
Aoi, Reina und ich, wir schauten die ganze Zeit auf Mama.
Als Reina sagte: »Es wird ihr bald wieder besser gehen«, nickte Aoi.
»Ja.«