Ein Sommermorgen.

 

Darauf bedacht, nicht der prallen Sonne ausgesetzt zu sein, saß Kuro geduckt auf der kühlen Kunststeinmauer und lauerte auf den passenden Moment.

In der Ferne hörte man leise ein Radio laufen, das eine Fitness-Sendung übertrug.

Beim Jagen konnte Kuro beliebig lange, beharrlich und mit größter Geduld warten.

Endlich zeigte sich die Beute: in einem Napf aufgehäufte Fleischklößchen. Eine ältere Frau stellte den Napf vor einer Hundehütte ab.

Die Jagd konnte beginnen.

Kuro ließ seinen massigen Körper hoch in die Luft schnellen, um nach einem Salto wieder auf allen vier Pfoten zu landen. Er fing den Aufprall mit dem ganzen Körper auf und nutzte den Schwung, um vorzupreschen.

Der »Feind« reagierte jedoch ebenfalls blitzschnell. Aus der Hundehütte schoss ein riesiger Schatten direkt auf den Napf mit den Fleischklößchen zu.

Wäre der Napf Kuros Ziel gewesen, hätte der Feind ihn erwischt. Kuro hatte jedoch nicht diesen Napf, sondern die danebenstehende Schale mit Wasser anvisiert. Den Körper flach an den Boden gepresst, so dass er fast lag, schlug er nun mit der Vorderpfote auf die Wasseroberfläche, so dass das Wasser in hohem Bogen aufspritzte und mit voller Breitseite das Gesicht des Feindes traf, der sofort die Augen schloss.

Diese Gelegenheit nutzte Kuro, um sich ein Fleischklößchen zu stibitzen.

Lecker!

»Gut gemacht! Ein Kloß fehlt«, rief der Feind – der Hund John – anerkennend, um nun auch selbst in aller Ruhe zuzulangen.

Dass John ihn gelobt hatte, versetzte Kuro in beste Laune. Der Katzenboss Kuro und der Hund John kannten sich schon lange. Meist ging es in einer Art freundschaftlichen Wettkampfs darum, wie der schwarze Kater John in einem Moment

»Ich werde alt. Von dir besiegt zu werden …«

»Ich bin stärker geworden.«

Anfangs waren sie tatsächlich Feinde gewesen, aber jetzt erkannten sie sich gegenseitig als ebenbürtige Gegner an und zollten einander sogar einen gewissen Respekt.

Von Menschen zubereitetes Futter war fast immer zu salzig. Die ältere Dame hingegen, bei der John lebte und welche die Fleischklößchen gekocht hatte, verstand es, den eigentlichen Geschmack der Zutaten zur Geltung zu bringen. Sie blickte lächelnd auf Kuro und John, die friedlich nebeneinandersaßen und fraßen.

Nachdem Kuro sich den Bauch mit Fleischklößchen vollgeschlagen hatte, legte er sich in den Schatten von Johns Hundehütte.

»Weißt du, warum Tiere etwas fressen?«, fragte John, der ebenfalls sein Mahl beendet hatte und es sich nun bequem machte, wobei er seine Vorderpfoten als Kopfkissen benutzte.

»Wahrscheinlich, weil sie Hunger haben.«

Frag mich doch nicht so selbstverständliche Dinge, dachte Kuro.

»Aber warum haben sie Hunger?«

»Genau das ist der springende Punkt!«

Vergnügt wedelte John mit dem Schwanz.

»Vor langer, langer Zeit geschah es nämlich, dass sich Lebewesen entwickelten und verbreiteten, die überhaupt nichts aßen.«

»Dann konnten sie also leben, ohne irgendetwas dafür zu tun? Ein Paradies!«

»Ein Paradies? Genau!«

John lachte.

Dann erzählte er Kuro die Geschichte der Lebewesen, die aus dem Paradies vertrieben wurden.

»Ein Land, in dem man essen kann, ohne zu arbeiten, in dem jeder ohne Kampf in Frieden und in ewigem Glück leben kann, ist in der Tat ein Paradies.

In einer weit zurückliegenden Vergangenheit hatten wir bereits einmal ein solches Zeitalter, wenn auch nur für kurze Zeit. Allerdings lebten damals weder Menschen noch Katzen noch Hunde, weder Gräser noch Bäume. Stattdessen gab es blattähnliche Geschöpfe, weder Tier noch Pflanze, die so gut gediehen, dass sie bald fast die ganze Erde bedeckten.

Nur diese eine Art Lebewesen existierte damals

 

»Aber wie haben diese Geschöpfe denn ihre Zeit verbracht?«, warf Kuro ein.

»Sie haben nichts getan. Sie haben einfach nur immer weiter existiert. Dieses glückliche Zeitalter dauerte eine ganze Weile an.«

»Und was ist aus ihnen geworden?«

»Sie sind ausgestorben. Neue Lebewesen tauchten auf, und im Handumdrehen waren jene Geschöpfe ausgerottet«, erklärte John leise.

»Danach erschienen auf der Erde wahnsinnig viele Arten von Lebewesen, als wäre nun klargeworden, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Jede dieser Arten kämpfte ums Überleben, sie bekämpften sich gegenseitig und fraßen einander auf. Dafür, dass das Paradies der Blattwesen nicht funktioniert hatte, während die Hölle, in der sich so viele Lebewesen gegenseitig umbrachten, so gut lief, gibt es zwei Gründe.

Das sind die Vielfalt und der Wettbewerb.

Befindet sich die Welt in einem erstarrten

Denn ohne den Wettbewerb der Arten entwickeln sich keine höher entwickelten, an die Umwelt angepassten Lebewesen.«

 

»Langsam versteh ich überhaupt nichts mehr.«

Kuro gähnte herzhaft.

»Mit einfachen Worten gesagt, ist das Paradies etwas, das nicht lange währt.«

»Also, ich versteh das alles nicht so ganz, aber ein bisschen klingt es ja so, als wären alle selbst schuld.«

»Genau.«

»John, was du alles weißt!«

»Eigentlich müssten die Lebewesen alles wissen, was passiert ist, seit sie auf der Erde aufgetaucht sind. Aber sie haben es vergessen, nur ich weiß es noch. Das ist alles.«

»Mehr nicht?«

Kuro mochte diese Art von Gesprächen mit John. Für den Katzenboss gab es keine Katze, der er sein Vertrauen schenken konnte. Der Hund John hingegen hatte kein Interesse an Kuros Revier, und da er viel wusste, war er der perfekte Gesprächspartner.

John stellte oft völlig unerwartete, verrückte Fragen.

»Interessiert mich nicht.«

Das meinte Kuro ernst. Alles, was über den morgigen Tag hinausging, interessierte ihn nicht.

»Dass du das sagen würdest, hatte ich mir schon gedacht«, schmunzelte John vergnügt.

»Wir beide könnten jederzeit sterben. Wie oft habe ich es schon erlebt, dass jemand, der gestern noch quicklebendig war, abends unter Durchfall litt und am Morgen danach plötzlich tot war. Und so manch einer ähnelte nach einem Zusammenstoß mit einem Auto nur noch einem Putzlappen.«

Für Kuro war es ganz selbstverständlich, dass Katzen schnell starben.

»Es gibt aber auch Katzen, die so schwer verwundet wurden, dass sie aus eigener Kraft nicht einmal mehr essen konnten, dann aber wieder quietschvergnügt durch die Gegend spazieren.«

»Du meinst Mimi? Sie ist bewundernswert.«

John schloss die Augen und dachte eine Weile nach, um schließlich das Maul wieder zu öffnen.

»Ich mache es nicht mehr lange.«

Johns Tonfall klang, als würde er sein

»Hast du dir den Kiefer ausgerenkt?«

»Wenn du so blöde Witze reißt …«

»Das ist kein Witz.«

Johns Augen blickten ganz ernst.

»Was … soll ich dazu sagen. Das ist ja furchtbar!«, brach es aus Kuro hervor.

»Deine Worte machen mich glücklich.«

»Ich verliere eine wichtige Futterquelle …«, versuchte Kuro nun zu scherzen. Da lachte John.

»Aber John, du bist doch gesund und munter!«

»Die Menschen haben große Angst vor dem Tod …«, wich John ihm aus.

»Nicht nur vor dem Tod der Menschen, sondern auch davor, dass ihre Hunde oder Katzen sterben.«

»Die Menschen sind schon merkwürdig.«

»Ich habe in diesem Haus schon mehrmals erlebt, wie ein alter Mensch gestorben ist.«

»Du lebst ja auch schon lange.«

Kuro kam ein Gedanke.

»Hast du etwa jetzt auch Angst bekommen?«

»Ich fürchte den Tod nicht! Das ist doch nichts

Dann sagte er etwas, das ihm ganz offensichtlich schwerfiel.

»Aber … ich mache mir Sorgen um sie.«

»Sie?«

John blickte zu der Frau hinüber, die in einem Zimmer, das zum Garten hinausging, Wäsche zusammenlegte. Die Menschenfrau, bei der John lebte. Sie war noch sehr rüstig, ihr Haar jedoch schon fast weiß.

»Sie heißt Shino«, stellte John sie vor.

Als ihre Blicke sich trafen, lächelte Shino und stand auf.

»Ist sie deine Geliebte?«

»Hahaha! Leider hat Shino einen Ehemann. Auch wenn sie zurzeit nicht zusammenleben.«

Als Shino näher kam, ging Kuro vorsichtig auf Distanz.

»Das klingt nach einer schwierigen Situation, finde ich.«

Shino nahm den leeren Napf und ging wieder.

»Geht sie nicht arbeiten?«

»Früher, ja. Trug gutsitzende Kostüme, sah echt chic aus. Aber dann hat sie aufgehört.«

»Hm.«

»Da lebt sie also ganz allein in so einem großen Haus?«

»Ja, ganz allein. Vorher hat sie mit einer noch älteren Person zusammengelebt, die sich nicht mehr bewegen konnte, und hat sich um sie gekümmert.«

»Dabei sollte man die Alten doch besser in Ruhe lassen.«

»Aber dann sterben sie.«

»Ich sehe keinen Sinn darin, sich um jemanden zu kümmern, der aus eigener Kraft nicht mehr leben kann«, erklärte Kuro und streckte sich.

»Sie hat ihr Leben geopfert. Für die Pflege eines langsam sterbenden alten Menschen.«

Als Kuro das hörte, hatte er das Gefühl, endlich zu verstehen, was John ihm sagen wollte.

»Du holst aber weit aus. Du willst also nicht so ein Pflegefall werden wie jener alte Mensch?«

»Genau.«

Kaum hatte er das gesagt, schloss er die Augen und schlief ein. Kuro legte sich neben John und machte ebenfalls ein Nickerchen.