Eine Melodie ertönte. »Die Wanne ist voll«, teilte nun eine elektronische Stimme mit, dass das heiße Wasser eingelassen worden sei.
»Ja, ja!«, antwortete Shino, die vor dem Fernseher gesessen hatte, und stand auf. Da das Haus barrierefrei umgebaut worden war, gelangte man ebenerdig zum Badvorraum. Im Bad selbst waren überall Handläufe und Haltegriffe angebracht.
Shino brauchte das alles zwar noch nicht, aber es beruhigte sie, dass es das alles schon gab.
Sie ging im Dunkeln ins Bad und ließ sich langsam ins Badewasser gleiten.
Das Licht blieb aus, weil die Mutter ihres Mannes, die mit ihnen zusammen gelebt hatte, sie immer ermahnt hatte, Strom zu sparen.
Sicherlich war dieses Verhalten ein Zeichen dafür gewesen, dass die Mutter ihres Mannes sie als Eindringling in die Familie betrachtet hatte. Auch Shino konnte auf ihre Art stur sein, und so wurde ihr das Baden im Dunkeln schließlich zur Gewohnheit.
Diese kleinen Schikanen ihrer Schwiegermutter waren Lappalien im Vergleich zu dem, was sie sagte und tat, als sie später ein Pflegefall geworden war.
Shino seufzte tief auf.
Durch das Dachfenster schien der Mond herein. Er spiegelte sich im Badewasser, als sie es mit beiden Händen schöpfte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
›An solchen Dingen kann ich mich erfreuen. Ich bin wirklich genügsam.‹
Nach dem Bad zog sie ihren Pyjama an. Als sie auf dem Wäschetrockenplatz auf dem Dach im lauwarmen Nachtwind die Abendkühle genoss, erblickte sie eine Sternschnuppe.
Sie wollte sich sofort etwas wünschen, stellte aber fest, dass sie gar keine Wünsche hatte.
Es war eine Nacht mit einem besonders schönen Mond. Es wurde immer später. Sowohl die lauten Stimmen der jungen Menschen als auch der Lärm der auf der Nationalstraße vorbeifahrenden Autos ließen nach, und in der Stadt kehrte wieder Ruhe ein.
Als Kuro zu Johns und Shinos Haus kam, hatten sich im Garten bereits viele Katzen versammelt. Es waren die Freigänger des Stadtviertels. Kuro entdeckte Chobi unter ihnen. Die Katzen, die Kuro sahen, erwiesen dem Boss ihren Respekt und machten ihm Platz. Kuro bezog Stellung vor der Hundehütte.
Schließlich kam John gemächlich daraus hervorgekrochen. Mit langsamen Bewegungen überblickte er die Katzenschar.
Feierlich verkündete er:
»Es ist so weit. Morgen werde ich nicht mehr unter euch weilen.«
Stummes Klagen erhob sich aus den Reihen der Katzen, die ihn umringten, und Kuro nickte schweigend.
»Ich werde dich vermissen, John«, sagte Chobi mit sanftmütigem Blick.
Jede einzelne Katze fand ein paar Worte des Abschieds für John. Für die Katzen dieses Viertel war John ein wandelndes Lexikon und ein guter Ratgeber gewesen. Er hatte ihre Reviere verwaltet und unnütze Streitereien zwischen den Katzen verhindert.
John schwieg, mit feuchten Augen hörte er die Abschiedsworte der Katzen.
Zum Schluss brachte Kuro im Namen aller Katzen noch einmal ihren Dank zum Ausdruck:
»Auch die Katzen, die heute nicht hierherkommen konnten, denken bestimmt auf ihrem jeweiligen Lager an dich. Danke, John!«
»Ich danke euch allen!«, antwortete John kurz und mit gerührter Stimme. Dann löste er mit seinen Vorderpfoten behände sein Halsband.
»Wie geschickt du das kannst!«, rief Chobi überrascht.
»Es war schon eine ganze Zeitlang kaputt.«
Das Lederhalsband, das John getragen hatte, war abgetragen und leuchtete bernsteinfarben.
Ein Zittern lief durch seinen Körper. Dann machte er im Mondlicht einen kraftvollen Schritt nach vorn.
Chobi folgte ihm und sprach ihn an:
»Hör mal, John, ich kann gar nicht glauben, dass du sterben wirst …«
»Ich sterbe doch nicht. Ich werde in die Ewigkeit eingehen.«
»In die Ewigkeit?«
Chobi und Kuro wollten es genauer wissen.
»Wenn ich hier auf den Tod warten und dann sterben würde, würdet ihr und Shino wissen, dass ich tot bin. Aber wenn man meinen toten Körper nicht findet, weiß niemand, ob ich wirklich gestorben bin.«
»Und das meinst du mit ›in die Ewigkeit eingehen‹?«
»Ja.«
John blickte zum Haus zurück. Nur hinter einem Fenster brannte noch Licht. Dort war Shino.
»Ich kümmere mich um Shino«, warf Kuro sich in die Brust.
»Ich verlass mich auf dich, Kuro.«
John ging los.
Auf der menschenleeren nächtlichen Straße liefen John und die Katzen nebeneinanderher.
Die Hitze des Spätsommers hing noch in der Dunkelheit der Nacht. Die schwüle Luft schien die Tiere einzuhüllen. Die Katzen fühlten sich dabei sehr wohl. Kuro erinnerte sich daran, dass John ihm erzählt hatte, dass die Ahnen der Katzen früher in südlichen Ländern gelebt hatten. Daher überkomme sie in solchen Nächten eine unbeschreibliche Sehnsucht.
Schließlich entfernte sich eine Katze nach der anderen, um in ihr eigenes Revier zurückzukehren.
Nur Chobi und Kuro blieben bis zuletzt bei John.
John blieb stehen.
»Ihr beide habt mich bis zum Schluss begleitet. Ich möchte euch etwas Schönes sagen.«
»Etwas Schönes?«, fragte Chobi verwundert.
»Irgendwann werde ich zurückkommen.«
»Wirklich?«
»Ja. Dann werde ich vielleicht in einer anderen Gestalt erscheinen, aber ihr beide erkennt bestimmt, dass ich es bin.«
Mit ehrfurchtsvollem Blick lauschte Chobi seinen Worten.
»Wenn ich zurückkehre, werde ich eure Wünsche erfüllen, Kuro und Chobi«, verkündete John mit feierlicher Miene.
»… und das kannst du?«, fragte Kuro mit zweifelndem Blick.
»Nun, dann wünsche ich mir …«
John unterbrach Chobi:
»Ihr müsst eure Wünsche nicht aussprechen. Es reicht, wenn ihr sie in eurem Herzen tragt.«
Unter dem Sternenhimmel schloss Chobi demütig die Augen.
›So ein Quatsch‹, dachte Kuro. ›Aber vielleicht … man weiß ja nie …‹ Da kam ihm Shino in den Sinn.
›Wie schön wäre es doch, wenn sie glücklich werden würde! Nachdem John gegangen ist, wird sie wohl erst einmal traurig sein. Deshalb will ich mir zumindest Glück für sie wünschen.‹
John blickte abwechselnd in die Gesichter von Chobi und Kuro und nickte.
»Vergesst eure Wünsche nicht! Wenn sie sehr stark sind, werden sie auch ohne mich in Erfüllung gehen.«
Kuro wechselte einen Blick mit Chobi und blinzelte.
Nahm John sie etwa auf den Arm?
John wedelte vergnügt mit dem Schwanz.
»So, nun geh schon!«, fauchte Kuro ihn an.
Da lief John mit festen Schritten los, in einem Tempo, dass man kaum glauben konnte, dass er ein alter Hund war.
Bald hörten sie nur noch sein Bellen in der Ferne.
»Der und am Rande des Todes? So ein rüstiger alter Herr wie er?«, lästerte Kuro.
»Hör mal, Kuro …«, sprach Chobi ihn auf dem gemeinsamen Rückweg schüchtern an.
»Ja, was ist denn?«
»Was hast du dir gewünscht?«
»Nichts.«
Das war eine Lüge.
»Wirklich?«
»Hast du diesen Quatsch etwa ernsthaft geglaubt?«
»Das war kein Quatsch. Johns Miene war dabei genauso wie immer, wenn er etwas Wichtiges sagt.«
»So, meinst du?«
»Ich habe mir gewünscht, dass meine Freundin glücklich wird …«, begann Chobi zu erzählen, obwohl niemand ihn danach gefragt hatte.
»Hör auf, das laut zu erzählen!«
›Wie peinlich! Aber schon beneidenswert, wie er das so klipp und klar sagen kann!‹, dachte Kuro bei sich.
»Na dann, mach’s gut, Kuro!«
Chobi rannte in Richtung der nächtlichen Stadt. Wahrscheinlich kehrte er zu seiner Freundin zurück.
Nachdem Kuro ihm nachgeschaut hatte, hing er noch eine Weile seinen Gedanken nach.
›Dann muss ich mich jetzt wohl um Shino kümmern.‹
Er hatte es vorhin schließlich in einem feierlichen Augenblick versprochen, und was man versprach, musste man auch halten.
Im Licht des Mondes kehrte er langsam denselben Weg zurück, den sie gerade gekommen waren. Er kroch in Johns Hundehütte und beschloss, dort auf den Morgen zu warten.
In Johns Geruch gehüllt, träumte er schließlich von ihm.
Shino träumte einen Jungmädchentraum, über den sogar sie selbst lachen musste.
In diesem Traum reiste sie auf einer Sternschnuppe durch die Sternenwelt. Die Sternschnuppe war tatsächlich sternförmig. Shino trug dieselbe Kleidung wie jetzt auch, aber sie war in ihr jüngeres Ich zurückgekehrt. Ihr Körper war überraschend leicht.
Da kam jemand vorbeigeflogen, der auf einer anderen Sternschnuppe saß.
Es war John. Wie ein Astronaut trug er einen runden Helm aus Glas.
»Oh, John!«, rief Shino.
»Hi, Shino!«, antwortete John. Da es ein Traum war, fühlte es sich überhaupt nicht seltsam an, dass der Hund sprechen konnte.
»Sag mir, was du dir wünschst! Bei Sternschnuppen darf man sich etwas wünschen«, erklärte John und zwinkerte dabei mit den Augen.
»Nun, dann wäre ich gern jünger!«
»Aber du bist doch schon jung genug!«
Im Traum war sie tatsächlich ein junges Mädchen.
»Oh, stimmt!«
»Hast du vielleicht noch einen anderen Wunsch?«
Shino äußerte eine Bitte, die ihr plötzlich in den Sinn kam:
»Du könntest an meiner Stelle das Frühstück zubereiten.«
Wie glücklich wäre sie, wenn morgens beim Aufwachen das Frühstück schon fertig wäre!
»Wird gemacht!«, antwortete John und schlug sich wie zur Bestätigung mit der Vorderpfote auf die Brust.
Da wachte Shino auf.
Sie war innerlich unruhig. Ob das an dem seltsamen Traum lag?
›Könnte es sein …‹, dachte sie, aber natürlich stand nirgends ein zubereitetes Frühstück.
»War doch klar!«
Sie fand es albern, dass sie auch nur einen Augenblick lang eine solche Hoffnung gehegt hatte, und musste über sich selbst lachen.
Sie beschloss, aus ein paar Resten vom Vortag rasch für sich selbst und John das Frühstück zuzubereiten.
Kuro wurde von einem köstlichen Duft geweckt. Da er bis spät in die Nacht aufgeblieben war, hatte er tief und fest geschlafen.
Langsam schob er sich aus der Hundehütte, da trafen sich seine und Shinos Blicke.
»Na so was!«
Shino machte große Augen.
»Shino, es fällt mir schwer, es dir zu sagen, aber … John hat sich gestern Abend auf eine Reise begeben.«
Kuro erklärte es ihr, so gut er konnte, auf seine eigene Art und Weise. Eigentlich konnte Shino ihn gar nicht verstehen, aber sie entdeckte Johns Halsband und schien dann zu begreifen, was geschehen war.
»Nun habe ich extra das Futter gemacht … könntest du es nicht fressen?«
So bekam Kuro das ganze Frühstück, das für John gedacht war, für sich allein. Als er noch jung gewesen war, hatte er immer damit geliebäugelt, einmal Johns Futter für sich zu erobern, aber die Mahlzeit, die er nun so ganz ohne Kampf erhielt, hatte jeglichen Reiz für ihn verloren.
»Willst du mein Kind sein?«
Das war ein ganz besonderes Angebot, aber Kuro beschloss, es abzulehnen.
»Ich bin ein streunender Kater. Ich werde niemandem gehören.«
Kuro hatte seinen Stolz.
Nachdem er das Frühstück verspeist hatte, verließ er Shinos Grundstück. ›Als Katzenboss habe ich schließlich viel zu tun‹, dachte er.
Auch am nächsten Tag beschloss er, am Morgen bei Shino nach dem Rechten zu sehen.
›Ich bin einfach zu gutmütig. Aber da John mich nun einmal darum gebeten hat, kann ich nicht anders.‹
Als Kuro zu Shino kam, stand, obwohl er nicht darum gebeten hatte, bereits Futter für ihn da. Er beschloss, es dankbar anzunehmen. Wie immer war es ausgesprochen köstlich. Fischfond und Hühnchenfleisch harmonierten perfekt – diesen Geschmack liebte er über alles.
Hingerissen verspeiste er alles. Als er dabei unversehens den Kopf hob, sah er Shino mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.
Wenn sie jeden Tag das Futter zubereitete, konnte er es ja unmöglich schlecht werden lassen. Er beschloss, nun täglich nach dem Rechten zu sehen.
Schließlich wurde es ihm lästig, immer hin und her zu ziehen, weshalb er sich dafür entschied, in Johns Hundehütte zu schlafen. Shino bot ihm mehrmals an, in ihr Haus zu kommen, doch das lehnte er ab. Wenn er dort einzog, dann war er kein streunender Kater mehr. Er bekam zwar sein Futter von Shino, übernachtete aber in Johns Hütte.
Oft saßen Shino und Kuro Seite an Seite auf der Veranda des alten Hauses und unterhielten sich.
Seit John nicht mehr da war, brauchten sie beide jemanden, mit dem sie reden konnten.
Shino streichelte zärtlich Kuros Rücken. Bisher hatte er keinem Menschen erlaubt, sein Fell zu berühren, weshalb er anfangs aufspringen wollte, aber während er sich dann geduldig streicheln ließ, merkte er, dass es wider Erwarten doch sehr angenehm war.
Shino lebte allein in dem alten Haus. Alles, was sie erzählte, handelte von Toten oder von Menschen, die nicht hier lebten.
Ich erzählte ihm von der Zeit, als ich noch voller Energie und auch sehr hübsch war.
Der Vater meines Mannes, mein Schwiegervater, hatte einen Hirnschlag und wurde zum Pflegefall.
Wegen der Leute bestand meine Schwiegermutter auf der Pflege zu Hause, und mein Mann war derselben Meinung. Niemand wusste, wie hart es werden würde, und da wir das Haus unter großem Kostenaufwand umbauen ließen, konnten wir danach auch nicht mehr zurück.
Die Pflege war eine große Belastung, sowohl für die Pflegenden als auch für den Patienten.
Mein Schwiegervater, der lange Jahre in leitender Position in einem Unternehmen gearbeitet hatte und sehr stolz war, konnte bis zuletzt seine Situation nicht akzeptieren. Dieser Mann, der einmal eine geachtete Persönlichkeit gewesen war, geriet nun beim geringsten Anlass vor Wut außer sich. Es fing an mit: »Komm sofort, wenn ich dich rufe!« und ging weiter damit, dass er beim Tischdecken und -abräumen herumnörgelte, sich aufregte, uns bedrohte, gewalttätig und Gefangener seines Verfolgungswahns wurde.
Auch meine Schwiegermutter musste eine Menge aushalten und hielt tapfer durch. Ich beschloss, meine Stelle im Vertrieb eines Pharmaunternehmens zu kündigen und meiner Schwiegermutter zu helfen.
Mein damaliger Vorgesetzter empfahl mir, meinen Schwiegervater in ein Pflegeheim zu geben, und bat mich zu bleiben, doch mein Mann erlaubte es nicht.
Schließlich kam mein letzter Tag im Unternehmen.
»Im Leben muss man auch manchmal an sich selbst denken«, gab mir mein Chef als guten Rat mit auf den Weg.
Den Sinn dieses Satzes verstand ich erst sehr viel später.
Länger, als ich mir hätte vorstellen können, pflegte ich meinen Schwiegervater.
Als er verstarb, faltete meine Schwiegermutter die Hände und sagte: »Danke!«
Kurz darauf zeigten sich bei ihr die ersten Symptome einer Demenz.
Da mein Mann damals bereits nicht mehr nach Hause kam, pflegte ich allein meine Schwiegermutter. Ihr Verhalten ähnelte bald dem ihres verstorbenen Mannes. Die Tyrannei meines Schwiegervaters, die sie so sehr verabscheut hatte, übte sie nun selbst aus. Völlig auf mich allein gestellt, musste ich jetzt ihre Launen aushalten, doch ließ ich sie nicht im Stich und pflegte sie weiter.
Mittlerweile war ich in einem Alter, in dem ich nicht mehr in das Unternehmen, in dem ich gearbeitet hatte, zurückkehren konnte, auch hatte ich meinen Stolz gegenüber meinem Mann, der bei einer anderen Frau wohnte.
Meine Schwiegermutter hielt all den Stress, den ihre gesundheitlichen Probleme hervorriefen, bald selbst nicht mehr aus, sie schrie, tobte, und zum Schluss wusste sie, bis sie starb, nicht mehr, wer sie war.
Zurück blieben ein barrierefreies Haus und meine völlig erschöpfte Wenigkeit.
Wir hatten keine Kinder. Wenn wir welche gehabt hätten, wäre es vielleicht anders gewesen. Mein Mann arbeitete im Wohlfahrtswesen. Ohne den blassesten Schimmer von den Mühen der praktischen Pflege zu haben, die mir Tag für Tag in seinem Haus oblagen, reiste er durch ganz Japan und hielt Vorträge über Kranken- und Altenpflege.
»Mein Mann hat mich verlassen … in dem leeren Haus bin ich nun ganz allein zurückgeblieben.«
Shino lächelte einsam.
»Hm.«
Es war eine Geschichte aus einer Welt, die Kuro nicht verstand.
»Manchmal denke ich darüber nach, was mein Leben eigentlich ausmachte …«
Shino kraulte Kuro unter dem Kinn.
»Du hast es gut, bist frei …«
Kuro hatte immer in Freiheit gelebt. Daher wusste er nur zu gut, dass die Freiheit auch ihren Preis hatte.
»Du hast sowohl einen Ort zum Schlafen als auch eine warme Heizung als auch etwas zu essen. Ich verstehe nicht, was du mit ›leerem Haus‹ meinst.«
Shino schloss die Augen halb und schaute glücklich drein.
»John ist leider nicht mehr da … ein Glück, dass du gekommen bist.«
›Du lieber Himmel! Sie umschmeichelt mich.‹ Kuro erhob sich plötzlich.
›Ich muss ihr beibringen, wie man lebt!‹
»Komm mit!«
Kuro nahm Shino mit auf einen Spaziergang.
Wie die Katzen leben, das lernte man am besten auf der Straße. Shino war zwar schon nicht mehr die Jüngste, aber es war nie zu spät, um etwas Neues anzufangen.
Wie einem Katzenkind, das noch keine Ahnung hat, wie man sich in der Welt zu verhalten hat, erklärte Kuro Shino geduldig, wie die Katzen leben.
Zuerst ging es um die Sicherstellung von Trinkwasser. Um Wasser, das man trinken konnte, und um solches, das man nicht trinken durfte. Da das Wasser in den Pfützen schmutzig war, verdarb man sich damit den Magen. Das Wasser in den Springbrunnen der Parks wirkte zwar auf den ersten Blick sauber, aber da hier stets dasselbe Wasser zirkulierte, konnte man sich auch damit den Magen verderben. Das Wasser an Trinkwasserbrunnen war sicher. Auch mit den Tropfen aus einem Wasserhahn konnte man seinen Durst stillen.
Als Nächstes beschloss Kuro, Shino zu erklären, wie man jagte. War man imstande, Beute zu fangen, konnte man überall überleben. Außerdem war es aufregend und interessant. Es brachte einfach Spannung ins Leben.
»Shino, wart mal hier!«
Kuro sprang direkt vor ihr ins dichte Gras, fing eine Heuschrecke und kam damit zurück. Mit dieser Art von Beute zu beginnen, war wahrscheinlich am besten.
Er legte die Heuschrecke vor Shino ab.
»Oh, wie geschickt!«
Shino ließ die Heuschrecke, die er extra für sie gefangen hatte, wieder frei.
»So ein Weibsbild! Willst du überhaupt etwas lernen?«, kanzelte Kuro sie ab, aber da Shino ihm mit den Worten »Du bist ein toller Kerl!« den Rücken streichelte, war es ihm bald egal.
›Ist schon in Ordnung. Hauptsache, sie begreift es so nach und nach …‹
Der Morgenspaziergang gehörte von nun an zu ihrem täglichen Programm.
Eines Tages entdeckte Kuro eine junge Frau, deren Duft er kannte.
»Guten Morgen, Aoi!«
Shino nannte diese Frau Aoi.
»Guten Morgen!«
Es war die Menschenfrau, bei der Cookie wohnte und die damals gekommen war, um sie abzuholen, als sie sich verlaufen hatte. Aoi machte diesmal einen gepflegteren Eindruck als damals. Auch ihre Gesichtsfarbe wirkte gesünder, sie war jetzt eine richtige Schönheit.
»Sind Sie auf dem Weg zur Arbeit?«
»Ja, heute ist der erste Tag.«
»Oh! Na, dann viel Erfolg!«
»Danke. Der Kater da, ist das Ihr Kater? Er sieht einem Kater, der manchmal zu mir kommt, sehr ähnlich.«
»Könnte man so sagen. Er bekommt Futter von mir.«
»Futter? Da hast du aber Glück gehabt!«
Mit diesen Worten hockte sich Aoi vor Kuro hin und zeigte ihm ihre Handflächen. Neugierig geworden, schnupperte Kuro unwillkürlich daran. Das war eine Falle. Aoi packte ihn, legte ihn im Handumdrehen auf den Rücken und streichelte seinen Bauch. Kuro wand sich und wollte fliehen, aber da das Kraulen so angenehm war, gab er schließlich seinen Widerstand auf.
›Du kennst dich aber gut mit Katzen aus … Ah, das tut gut!‹
»Geht es Cookie gut?«, fragte Kuro, aber für Aoi klang es nur wie »Miau, miau!«
»Ich habe auch eine Katze. Es ist noch ein Katzenkind, aber … kürzlich ist es einfach ausgerissen. Es ist zu seiner Mutter gelaufen.«
»Oh, was für ein kluges Kätzchen!«
»Stimmt gar nicht! Ich habe Cookie zu ihrer Mutter gebracht!«, korrigierte Kuro.
Natürlich verstanden die beiden Menschen ihn nicht.
»Naja, schon gut.«
Nachdem sie sich von Aoi verabschiedet hatten, beschlossen Shino und Kuro, sich auf den Heimweg zu machen. Kuro wollte noch ein bisschen durch sein Revier streifen, aber Shino war offensichtlich schon müde.
Als sie zu Hause ankamen, hatte Kuro das Gefühl, dass jemand da war.
»Könnte es sein, dass … war er etwa zurückgekommen?«
Entschlossen rannte Kuro los. Er spähte in die Hundehütte, aber da war kein John. Irgendjemand schlief auf der Veranda. Es war nicht John, sondern ein junger Mann. In einem abgetragenen Anzug, mit einem Plastikbeutel vom Supermarkt in der Hand und einem blassen Gesicht.
Es war zwar ein fremder Mann, doch fühlte Kuro sich nicht bedroht. Der Mann roch so ähnlich wie Shino.
»Ist es denn möglich … Ryôta? …«
Als Shino ihn so ansprach, öffnete der wie krank daliegende Mann die Augen. Ohne seine Position zu ändern, schloss er die Augen wieder halb und antwortete:
»Tante! Lange nicht gesehen …«
»Ja, in der Tat! Was ist denn passiert?«
»Tante, ich habe eine Bitte. Wenn ein Anruf kommt, bitte sag niemandem, dass ich da bin! Und vor allem: bitte kein Wort zu meinem Vater!«, bat Ryôta inständig in einem Tonfall, als wäre er in größter Not.
»Du hast bestimmt gute Gründe. Einverstanden!«
Shino hieß den unerwarteten Gast herzlich willkommen.