An diesem langen Sommernachmittag war die Luft erfüllt vom Duft des Kampferbaums.

 

Viel zu groß war der Baum geworden, so dass die Wohnung darunter kaum noch Sonnenlicht abbekam. Mit Hilfe von Öl, das nach Terpentin roch, hatte die junge Frau gerade Farben angemischt. Nun wandte sie sich der weißen Leinwand zu, holte tief Luft und schloss die Augen.

Eigentlich war es eine ruhige Wohngegend, doch in diesem alten, verwitterten Mehrfamilienhaus ging es auch tagsüber unruhig und laut zu: Klänge von Musikinstrumenten, die von den Bewohnern des Hauses nach Herzenslust malträtiert wurden, Sportübertragungen aus dem Radio und das Quietschen der verrosteten Eisentreppe. Darüber hinaus roch es ganz seltsam. Kurzum, es war ein Ort, dem eine normale Katze sich niemals nähern würde.

Daher war ich beruhigt. Denn hier würde mir keine andere Katze in die Quere kommen.

Da ich zudem schwerhörig war, konnte es von mir aus noch so laut sein, es störte mich nicht im Geringsten.

Das Mehrfamilienhaus war von einem verwilderten Garten umgeben. Ich war auf einen Ast des riesigen Kampferbaums geklettert, um von dort die junge Frau zu beobachten.

Sie starrte auf die weiße Leinwand vor sich und rührte sich nicht.

Da ich erst zu Beginn des Sommers das Licht der Welt erblickt hatte, verstand ich noch nicht viel von dem, was die Menschen so trieben, aber irgendwie kam es mir nicht normal vor, dass sie die ganze Zeit nur die weiße Leinwand anstarrte.

Nach einer Weile bewegte sie sich.

Entschlossen zog sie, ohne zu zögern, in der Mitte der Leinwand einen dicken schwarzen Strich.

Das ging mir durch und durch, ich war entzückt und innerlich so bewegt, dass mein Schwanz in die Höhe schnellte.

Bis die Sonne unterging und die Lichter in den Straßen angingen, trug sie Farbe auf die Leinwand auf. Nach und nach tauchte aus dem Nichts eine Landschaft auf, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Plötzlich entdeckte sie mich.

Ihr Blick war so intensiv und durchdringend, dass ich mich nicht vom Fleck rühren konnte.

»Mimi!«

Sie nannte mich Mimi.

Bisher war ich immer nur mit »Weg da!«, »Diebische Katze« oder »Streuner« angesprochen worden.

Sie jedoch versuchte nicht einmal, mich zu verjagen, und gab mir Futter. Der in Öl eingelegte Fisch aus der Konservendose war ausgesprochen lecker, und obendrein hatte ich jetzt sogar einen Namen, worüber ich sehr glücklich war.

Daher beschloss ich, mich von nun an auch selbst Mimi zu nennen.

*

Die kleine Mimi. Eine schneeweiße, verwöhnte Katze. Sie saß immer hinter dem Fenster mit dem kunstvollen Holzdekor im ersten Stock und wartete auf mich, wenn ich aus der Schule nach Hause kam. Sobald ich weißes Zeichenpapier auf meinem Schreibtisch ausbreitete und Bilder malte, sprang sie auf das Papier und wollte, dass ich mich um sie kümmerte. Da sie sich in der noch nicht getrockneten Farbe herumwälzte, färbte sich ihr schönes weißes Fell kunterbunt.

Beim Essen maunzte sie vom Geschirrschrank herunter und versuchte, sich in unsere Gespräche einzumischen. Das fand ich unheimlich süß.

Ach ja, als Mimi bei uns lebte, wohnten meine Mutter und mein Vater beide noch zu Hause.

Wir aßen zusammen Frühstück, ich erzählte von dem, was ich in der Schule erlebt hatte, und beide hörten mir zu. War es etwas Lustiges, lachten sie mit mir, und war es eine bittere Erfahrung, regten sie sich gemeinsam mit mir darüber auf.

Doch ehe wir uns versahen, hatten wir auf einmal völlig unterschiedliche Essenszeiten und sprachen nur noch selten miteinander.

Nach dem Abschluss der Oberstufe hatte ich beschlossen, mein Zuhause zu verlassen und allein zu wohnen. Meine Eltern waren zwar dagegen, aber da beide auch machten, was sie wollten, dachte ich damals, dass auch ich egoistisch sein durfte.

Das Haus, in das ich einzog und in dem ich nun wohnte, war alt und schäbig, doch brauchte ich keine Miete zu zahlen. Genau genommen sollte ich sie nachzahlen, wenn ich selbst einmal Geld verdienen würde. Vermieterin war nämlich meine Großmutter mütterlicherseits. Beim Malen passierte es schnell, dass Farbe danebenging, aber auch darauf brauchte ich keine Rücksicht zu nehmen.

 

Mittlerweile besuchte ich eine Fachschule für Kunst und Design. Schon seit dem Frühjahr des letzten Jahres in der Oberstufe war ich regelmäßig hierhergekommen, um mich auf die Aufnahmeprüfung der Kunsthochschule vorzubereiten. Aber dann fiel ich bei der Prüfung durch, weshalb ich ein Jahr auf den nächsten Versuch

Da so einige Typen meinten, Malen sei leichter als ein anderes Studium, und die Kunsthochschule in erster Linie als Karrieresprungbrett betrachteten, war der Andrang für die Aufnahmeprüfung riesig. Um die Aufnahmeprüfung zu bestehen, benötigte man, wenn man nicht ausgesiebt werden wollte, eine besondere Technik. Das hatte ich aber leider erst zu spät gemerkt.

Wegen der Typen, die keine Lust hatten, für die Aufnahmeprüfung an einer anderen Hochschule zu lernen, und die so naiv waren zu denken, dass sie malen könnten, hatten wirklich talentierte Prüflinge wie ich das Nachsehen.

Ich wusste, dass meine Bilder außergewöhnlich gut waren.

Trotzdem lobten die Dozenten, die selbst an der Kunsthochschule studiert hatten, als Künstler jedoch gescheitert waren, meine Bilder nur selten. Stattdessen ließen sie mich immer nur eintönige Routineübungen machen.

Dabei war sogar die weiße Katze, die Mimi so ähnlich sah, von meinen Bildern fasziniert.

Offen gesagt, gab es keinen in meiner Umgebung, der besser malen konnte als ich.

Da mir Talent in die Wiege gelegt worden war, nahm ich auch gern ein wenig Unglück in Kauf.

Zum Beispiel, dass ich so klein war, dass das Färben meiner Haare voll danebengegangen und dass ich durch die Aufnahmeprüfung gefallen war.

Glück oder Unglück – das war meines Erachtens eine Frage der Einstellung. Meine Eltern lebten getrennt, die doppelte Untreue brachte zwar Unglück mit sich, aber finanziell ging es mir ganz gut, denn ich konnte allein leben, ohne Miete zu zahlen.

Ich war zwar unglücklich gewesen, dass ich den Sprung an die Uni nicht geschafft hatte, aber dadurch hatte ich herausgefunden, was ich gern machen wollte, und wenn ich das bedachte, hatte es mir doch auch Glück gebracht.

Ich würde mit meinen Bildern meinen Lebensunterhalt verdienen.

Sobald meine Hand sich bewegte, tauchten verschiedene Ideen vor meinem inneren Auge auf

Als Zeichen meiner Dankbarkeit – nun ja, das ist vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt – öffnete ich für sie zum Abendbrot eine Dose Thunfisch. Während ich ihr dabei zusah, wie sie hingebungsvoll den Fisch verspeiste, erinnerte ich mich an Mimi. Auch sie hatte Dosenthunfisch geliebt.

Einen Augenblick lang dachte ich daran, die Katze bei mir aufzunehmen.

Es gab zwar für die Wohnung keine Vorschriften, die Haustiere verboten, wie sie in besseren Stadtvierteln üblich waren, aber keiner der Bewohner dieses Hauses hielt ein Haustier. Alle waren chaotisch oder arm oder aber beides. Es gab keinen Bewohner, der ernsthaft ein Tier hätte halten können.

Dennoch, das Zeichenmaterial kostete Geld. Und da ich unter chronischem Geldmangel litt, konnte auch ich mir eine Katze einfach nicht leisten.

*

Ich hatte außer ihr noch nie einen Menschen kennengelernt, der sich einer Katze vorstellte.

Sie roch immer so seltsam. Nach Alkohol, Farbe, Parfüm, fremdländischen Gewürzen oder nach Zigaretten, obgleich sie selbst nicht rauchte.

Sie war sehr launisch, an manchen Tagen gab sie mir Futter, an manchen nicht.

Bekam ich keines, war sie meist völlig ins Malen vertieft. Dann blieb mir nichts anderes übrig, als mir Futter bei einem anderen Bewohner des Hauses oder ganz woanders zu suchen. Hinter dem Haus gab es verwilderte Blumenbeete und einen Wasserhahn mit Anschluss für den Gartenschlauch, wo ich immer sauberes Wasser trinken konnte.

Meist gab Reina mir von dem ab, was sie selbst gerade aß, manches war lecker und manches hätte ich kein zweites Mal fressen wollen. War sie gut gelaunt, öffnete sie extra für mich eine Dose Katzenfutter.

So bekam ich zwar hin und wieder Futter von ihr, doch wohnte ich nicht wirklich bei ihr.

»Tut mir leid, aber ich kann dich nicht aufnehmen.«

»Katzen sterben nämlich.«

›Ganz meine Meinung! Katzen sterben sehr schnell.‹

Ich hatte schneeweißes Fell, war von meinen Geschwistern die kleinste und obendrein auch noch schwerhörig. Mehrmals wurde ich fast von Autos überfahren, bemerkte zu spät, wenn sich mir eine andere Katze näherte, und hatte schon schreckliche Erfahrungen gemacht.

»Aber Katzen müssen nun einmal sterben.«

Sie lächelte traurig, als sie das sagte.

Vielleicht hieß ja die Katze, die sie verloren hatte, Mimi. Dann wäre ich Mimi die Zweite.

Reina bezeichnete sich selbst als sehr eigensinnig.

»Deshalb bekommst du auch nur Futter, wenn mir danach ist.«

Sie war wirklich eigensinnig. Es kam sogar vor, dass ich mitten in meinem Mittagsschläfchen auf dem kühlen Beton im Schatten von ihr am Nacken gepackt und in einer großen Schüssel von Kopf bis Fuß gewaschen wurde.

»Wie weiß du bist! Und was für eine Schönheit!«

Ich mochte sie.

Denn sie war sehr stark.