„Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass man am Labor-Tag, obwohl es der Tag der Arbeit ist, nicht
arbeiten muss, wenn man selbstständig ist“, erklärte Sloane mit neckender Stimme an Dean gewandt, der gerade ein Brett von dem merkwürdigen Holzkonstrukt entfernte, das eigentlich ein Klettergerüst für Kinder sein sollte. Jedenfalls hatte das der völlig verzweifelte Vater behauptet, der heute in aller Frühe angerufen hatte, um Dean zu bitten, den Aufbau zu übernehmen, nachdem er daran gescheitert war.
Man musste Dean zugutehalten, dass er zugesagt hatte, obwohl sie beide noch geschlafen hatten, als das Telefon geklingelt hatte. In der letzten Nacht hatten sie nur wenig Schlaf abbekommen, und Sloane war davon ausgegangen, dass sie heute ausschlafen und einen gemütlichen Tag gemeinsam im Bett oder auf der Couch verbringen würden. Vielleicht hätten sie auch Bridget Jones weiterschauen können, nachdem sie gestern nicht dazu gekommen waren, den Film bis zum Ende anzusehen.
Stattdessen hatte Dean sie und seinen Werkzeugkoffer eingepackt und war fast eine halbe Stunde lang Richtung Norden gefahren, um zu seinem Kunden zu kommen, in dessen Garten ein nur halb aufgebautes Klettergerüst stand, das sein Sohn morgen zum sechsten Geburtstag bekommen sollte. Die Familie hatte sich bereits verabschiedet und war nach Bridge Bay zum Stadtfest gefahren, damit der kleine Junge nicht mitbekam, woran im Garten gewerkelt wurde.
Sloane hatte es sich derweil auf der Gartenbank gemütlich gemacht und beobachtete Dean, der konzentriert die Aufbauanleitung studiert und sich dann ans Werk gemacht hatte. Ihm bei einer körperlichen Arbeit zuzuschauen, war fast so erquickend, wie ihn auf einer Bühne beim Singen zu erleben.
„Das hier ist auch eine Ausnahme“, verkündete er und warf das Brett neben sich auf den Boden. „Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass der kleine Junge morgen kein Geschenk zu seinem Geburtstag bekommt oder ...“ Er hielt kurz inne und entfernte mit seinem Akkuschrauber eine Schraube, um auch das nächste Brett abzuschrauben und neben sich zu werfen. „Oder dass sich ein Kind verletzt, weil der Vater die Anleitung nicht richtig gelesen hat.“
Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme ließ ihn noch sympathischer wirken, als er es ohnehin schon war.
Ein warmes Gefühl stieg in Sloane auf, während sie ihm zusah und noch mehr als zuvor erkannte, dass Dean, der oft zurückhaltend und düster erschien, im Grunde herzensgut war und seinen freien Tag opferte, um das Klettergerüst für ein Kind aufzubauen. Sie hatte bereits gewusst, dass sie Gefühle für ihn entwickelt hatte, aber jetzt gerade in diesem Moment verliebte sie sich endgültig in ihn. Und es ängstigte sie nicht einmal.
„Abgesehen davon werde ich nicht allzu lange brauchen“, beruhigte er sie und schenkte ihr über die Distanz von mehreren Metern ein warmes Lächeln, das in ihr wiederhallte. „Ich verspreche, dir den restlichen Tag zur Verfügung zu stehen.“
Das klang in der Tat wunderbar, weil sie beide bereits übermorgen zurück nach Los Angeles fahren mussten. Eigentlich hätte Sloane noch viel mehr Zeit allein mit ihm in seiner Hütte verbringen können.
„Heißt das, dass wir Bridget Jones
zu Ende schauen können?“
„Wenn du darauf bestehst.“ Er griff nach einem Hammer. „Aber ich muss dich warnen: Als wir gestern Abend den Film angesehen haben, sind wir nicht weit gekommen.“
„Ich weiß“, erwiderte sie fröhlich und erhob sich, um in seine Richtung zu schlendern. Für die sorgfältig angelegten Blumenbeete hatte sie keine Augen, sondern betrachtete wohlig, wie sich Dean bückte, um eine Packung mit Nägeln aufzuheben. „Wir sind bis zu dem Teil gekommen, in dem sich Bridget diese hässliche figurformende Unterwäsche angezogen hat. Ich wusste gar nicht, dass du auf so etwas stehst.“
Er lachte rau auf – in keiner Weise beleidigt – und hob eine Leiste auf, um sie ein bisschen abseits wieder hinzulegen. „Dazu sage ich lieber nichts.“
„Warum?“
Über die Schulter hinweg zwinkerte er ihr zu. „Egal, was ich sage, ich kann nur verlieren und stehe zum Schluss als Perverser da, der auf hässliche Unterwäsche steht.“
„Nein“, tröstete sie ihn leichthin. „Du bist kein Perverser ... nur ein bisschen vielleicht“, schränkte sie ein.
„Da bin ich ja beruhigt.“
Lächelnd trat sie näher an ihn heran und beobachtete, wie er eine weitere Leiste aufhob, um sie neben die andere zu legen. Zwar hatte Sloane keine Ahnung, was er vorhatte, aber er schien zu wissen, was er tat. „Kann ich dir zur Hand gehen?“
„Du könntest mir helfen, diese Leiste an die spätere Leiter zu schrauben, und dann das Brett halten, während ich es anbringe.“ Er nickte dem Klettergerüst zu, als müsste Sloane wissen, was er meinte.
Zusammen arbeiteten sie an dem Aufbau des Spielgeräts, indem Sloane genau das tat, was laut Dean in der Anleitung stand, und seinen Anweisungen folgte. Es dauerte nicht allzu lange und sie hatten die Fehler des übereifrigen Dads beseitigt und standen kurz davor, die Leiter aus Holz an das Gerüst anzubringen.
„Das sieht sehr gut aus“, urteilte Dean und wackelte an der Konstruktion herum, die sich keinen Millimeter bewegte. Zufrieden nickte er. „Und stabil ist es auch. Hauptsache ist, dass nichts lose ist, damit sich die Kinder nicht verletzen. Wie es aussieht, ist dabei im Grunde scheißegal.“
„Die Kinder freut es, wenn das Gerüst nicht nur stabil ist, sondern auch gut aussieht“, hob sie hervor.
„Vermutlich. Der Kleine wird sich hoffentlich freuen und viel Spaß mit seinem Klettergerüst haben.“ Er lächelte weich und klopfte gegen das Holz.
„Du magst Kinder“, stellte sie fest und betrachtete dabei den Schwung seiner Lippen.
„Kinder sind nicht voreingenommen“, erwiderte er nachdenklich. „Und sie geben dir nie das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Stattdessen sind sie ehrlich und verstellen sich nicht. Ich denke, wir Erwachsenen täten gut daran, uns in dieser Eigenschaft den Kindern anzupassen.“
Obwohl sie ihm zu einhundert Prozent recht gab, prustete sie innerlich los, weil sie sich schlagartig daran erinnerte, wie Kayla ihrer Kindergärtnerin auf den Kopf zugesagt hatte, dass sie einen dicken Popo
bekommen hatte. Und Sloane hatte sie in ihrer unnachahmlich ehrlichen Art gesagt, dass ihre Spaghetti wie Würmer schmeckten, obwohl ihre Tochter nicht gewusst haben konnte, wie Würmer überhaupt schmeckten.
„O ja“, stimmte sie ihm zu und nahm den bittersüßen Schmerz über Kaylas Verlust an, während sie vor allem Dankbarkeit dafür verspürte, dass sie fünf Jahre lang Mutter einer wunderbaren Tochter hatte sein dürfen. „Kinder können sehr ehrlich sein. Das stimmt. Manchmal sogar zu ehrlich.“
„Das gefällt mir an ihnen“, entgegnete Dean. „Sie verstellen sich nicht.“
„Mhm.“ Neugierig betrachtete sie ihn. „Hast du schon einmal daran gedacht, Kinder zu bekommen?“
„Ich weiß nicht.“ Er senkte den Kopf und verzog nachdenklich den Mund. „Bis jetzt hat sich mir die Frage nicht gestellt. In den letzten Jahren habe ich mich darauf konzentriert, trocken und clean zu bleiben und mein Leben zu regeln. Meiner Meinung nach sollte man nur dann ein Kind bekommen, wenn man ihm ein stabiles Umfeld bieten kann. Und du?“
„Was?“
Interessiert schaute er sie an. „Hast du jemals daran gedacht, Kinder zu bekommen?“
Natürlich konnte er nicht wissen, dass seine Frage einen wunden, schmerzlichen Punkt berührte, und außerdem hatte sie mit dieser Frage begonnen, dennoch bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Bis auf ihre Therapeutin gab es niemanden, mit dem sie über ihre Tochter sprach. Ihr ganzes Umfeld umschiffte das Thema Kinder, das wie eine Leuchtreklame über Sloanes Kopf zu hängen schien, sobald jemand aus ihrem Bekanntenkreis schwanger wurde oder sobald sie auch nur an einem Hundewelpen vorbeilief. Alle benahmen sich, als könnte Sloane zerbrechen, wenn man Kayla erwähnen würde, dabei wollte sie sich an ihre Tochter erinnern. Und sie würde nicht zerbrechen. Nicht mehr.
Weil sie Dean vertraute und weil sie ihm von Kayla erzählen wollte, lächelte sie ihn zittrig an und atmete tief durch. „Ich wollte immer Kinder haben, und ich hatte auch ein Kind. Eine Tochter. Ihr Name war Kayla.“
Sehr langsam richtete er sich auf und schaute ihr genau in die Augen.
Sie sah ihm an, welche Frage er ihr stellen wollte, und kam ihm zuvor, indem sie gefasst erzählte: „Mit vier Jahren wurde sie plötzlich krank - akute myeloische Leukämie. Alles ging unglaublich schnell. Von jetzt auf gleich hatte sie Fieber und war müde, aber das ist bei Kindern nichts Ungewöhnliches, dachten wir. Dann kam die Diagnose. Kayla musste auf die onkologische Station der Kinderklinik verlegt werden und sollte eine Chemotherapie bekommen.“ Sie schüttelte den Kopf und dachte an die vielen Stunden und Tage, in denen sie hilflos neben Kaylas Bett gesessen hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Dean mit einer Stimme, die verzerrt und voller Mitgefühl war.
„Die Therapie schlug nicht an“, antwortete sie schlicht. „Der Krebs war sehr aggressiv. Wir versuchten alles, aber sie starb zehn Monate später.“
Schweigend legte Dean das Werkzeug beiseite und kam auf sie zu. Er sagte kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Es reichte, dass er sie an sich zog und die Arme um sie legte.
Sloane lächelte unter Tränen und schmiegte ihre Wange gegen seinen Hals.
Von allen Dingen, die er hätte sagen können, entschied er sich für die richtige Antwort. „Erzähl mir von Kayla“, bat er sie. „Was für ein Mädchen war sie?“
Dankbar schloss Sloane die Augen und legte ihre Arme um seine Taille. Sie brauchte drei Anläufe, um zu erwidern: „Furchtlos und lustig. Kayla hatte lauter Unsinn im Kopf und versteckte sich gerne an den unmöglichsten Orten, damit ich sie suchen musste. Sie liebte Affen, Erdnussbutter und Klopf-Klopf-Witze und verlangte jeden Abend, dass ich ihr eine Geschichte vorlas. Und sie wollte nie ohne ihr Nachtlicht ins Bett gehen.“
„Affen, Erdnussbutter und Klopf-Klopf-Witze“, murmelte Dean belustigt in ihr Haar. „Eine unschlagbare Kombination. Kayla muss ein tolles Kind gewesen sein.“
„Ja, das war sie.“
Lange Zeit sagte keiner von beiden etwas. Sie hielten sich einfach fest und pressten sich aneinander.
Zwar wusste Sloane nicht, woran Dean dachte, aber sie dachte an ihre Tochter – daran, wie Kayla vor der Diagnosestellung gewesen war, als sie noch nicht schwach, traurig und voller Schmerzen gewesen war. Voller Schmerzen, die ihr niemand hatte nehmen können, bis der Tod um drei Uhr morgens sie von ihnen erlöste.
Vor jenem vierten Juli, den Sloane mit Kayla im Krankenhaus verbracht hatte, während sie annahm, dass sich ihre Tochter einen Schnupfen eingefangen hatte, war sie ein vor Gesundheit und Glück strotzendes Kind gewesen, das sie jeden Tag zum Lachen gebracht hatte. Sloane wollte sich lieber an ihre glückliche Tochter erinnern und nicht daran denken, wie viele Schmerzen und wie viel Angst Kayla in ihren letzten Lebensmonaten hatte aushalten müssen. Für eine Mom waren solche Gedanken kaum zu ertragen.
„Du bist so stark“, raunte Dean ihr ins Ohr und legte seine Hand auf ihren Hinterkopf. „Du bist die stärkste Person, die ich kenne.“
„Nein, das bin ich nicht“, widersprach sie ihm leise und sah zu ihm hoch.
In seinen feuchten Augen konnte sie Mitleid für ihren Verlust erkennen, der sie so sehr gequält hatte, dass sie einen folgenschweren Entschluss gefasst hatte, als sie vor Schmerz und Trauer fast wahnsinnig geworden war.
„Ich war nicht stark“, wiederholte sie mit einem Krächzen. „Nachdem Kayla tot war, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, sie für immer verloren zu haben, und wollte nicht mehr leben. Also schluckte ich alle Tabletten, die ich zu Hause finden konnte, und schloss mich im Badezimmer ein.“
Dean flüsterte ihren Namen.
„Heute kann ich mit Kaylas Tod umgehen“, erklärte sie ihm sacht und fuhr schonungslos ehrlich fort: „Aber damals wollte ich sterben und hätte es auch geschafft, wenn Patrick und mein Dad nicht die Tür eingetreten und mich ins Krankenhaus gebracht hätten, wo sie mir den Magen auspumpen mussten. Es war ziemlich knapp.“
Sie konnte hören, wie er scharf einatmete. Diese Reaktion konnte sie ihm nicht verdenken.
„Was geschah danach?“, wollte er mit belegter Stimme wissen.
Sloane rieb einen kurzen Moment ihre Lippen aufeinander. „Für achtundvierzig Stunden kam ich unter psychiatrische Beobachtung, während meine Familie völlig außer sich war. Ich wollte nicht nach Hause, wo alles von vorne beginnen würde, und ich wollte meiner Familie nicht zumuten, sich um mich zu kümmern und gleichzeitig Angst haben zu müssen, dass ich wieder versuchen würde, mich umzubringen. Also ging ich in Therapie. Das war das Beste, was ich tun konnte.“
Anschließend fragte er nichts mehr.
Und auch Sloane musste nichts mehr sagen, weil sie alles erzählt hatte, was wichtig gewesen war. Dass Dean sie weiterhin im Arm hielt, sprach für sich. Und es sprach für sich, wie sehr sie die Umarmung genoss.
„Sloane?“
„Hm?“ Ein weiteres Mal schmiegte sie ihr Gesicht gegen seinen Hals.
„Ich bin sehr froh, dass dein Exmann und dein Dad die Tür eingetreten haben.“
Vorsichtig lächelte sie und schloss dabei die Augen. „Ich auch.“
„Ich kann nur hoffen,
dass du niemandem hiervon erzählst, schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.“ Dean seifte Sloanes Rücken ein und konnte nicht glauben, dass sie es tatsächlich geschafft hatten, sich zusammen in seine Badewanne zu quetschen.
Dass es im ganzen Badezimmer nach ihrem fruchtigen Badeschaum duftete und Sloane mehrere Kerzen angezündet hatte, die ein weiches romantisches Licht verbreiteten, war ein bisschen ungewohnt für ihn.
Männer nahmen schließlich keine langen Schaumbäder bei Kerzenlicht. Was Männer jedoch allzu gerne taten, war, mit den Frauen ein Bad zu nehmen, in die sie sich verliebt hatten, und ihnen den Rücken zu waschen. Wie Dean bereits herausgefunden hatte, verirrten sich dabei nämlich hin und wieder seine Hände.
Mit ihren hochgesteckten Locken und dem nackten schlanken Rücken sah Sloane wie eine sexy Waldnymphe aus, die sich vor ihm im duftigen Wasser rekelte und ihm ab und zu einen provozierenden Blick über die Schulter zuwarf. Dieser Blick war auch schuld daran, dass sich seine Hände immer wieder zu ihren Brüsten verirrten und er seine Lippen in ihrem Nacken vergrub, während er Dinge gegen ihre Haut murmelte, die ganz eindeutig passieren würden, wenn sie nach diesem Bad ins Bett gehen würden.
In der letzten Nacht hatten sie es erst spät ins Bett geschafft, nachdem sie sich auf der Couch geliebt hatten. In seinem Schlafzimmer waren sie noch zweimal übereinander hergefallen, bevor sie tatsächlich zum Schlafen gekommen waren, und Dean glaubte nicht, dass es heute anders ablaufen würde. Er konnte nämlich nicht die Finger von ihr lassen und war verwirrt von dem Bedürfnis, heißen wilden Sex mit ihr zu haben und sie gleichzeitig beschützend im Arm zu halten. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gefühlt.
Niemals zuvor hatte er sich den Kopf darüber zerbrechen müssen, was er tun konnte, damit der Frau, deren Lächeln sein Herz wild schlagen ließ, kein Leid geschah.
Emotional aufgewühlt von dem Gespräch, das sie im Garten seines Kunden geführt hatten, war der Drang, Sloane zu beschützen und sie einfach nur festzuhalten, so groß, dass er noch verrückt würde.
Dean hatte keinerlei Ahnung gehabt, was Sloane mitgemacht und erlebt hatte. Allein die Vorstellung, was sie durchgemacht und wie sehr sie gelitten haben musste, als ihre Tochter starb, zerriss ihn innerlich. Und er blieb bei seiner Ansicht, dass sie die stärkste Person war, die er kannte, denn sie hatte etwas erlebt, was keinem Menschen zugemutet werden sollte, und war daran nicht zerbrochen. Sloane war lebenslustig, aufgeschlossen und unbeschwert und sie genoss jeden Tag. Dean war sich absolut sicher, dass nicht viele Menschen in der Lage waren, nach so einem schlimmen Verlust noch einmal von vorn anzufangen und ihre Trauer hinter sich zu lassen.
Ihre Kraft ließ ihn demütig zurück.
„So, so? Du hast also einen Ruf zu verlieren“, neckte sie ihn und riss ihn aus seinen Gedanken heraus. „Was für einer soll das sein?“
„Lach nicht“, wies er sie an und schöpfte ein bisschen Wasser über ihre Schultern, das in einem kleinen Rinnsal über ihren Rücken floss und dabei die Spur ihrer Wirbelsäule folgte. „Ich bin ein knallharter Rockstar, wie du weißt. Knallharte Rockstars sitzen normalerweise nicht in einer Badewanne voller Schaum und waschen ihrer Herzensdame den Rücken, während überall Kerzen brennen.“
Natürlich hielt sie sich nicht an das, was er gesagt hatte, und lachte fröhlich. „Nicht zu vergessen, dass dieser Rockstar für seine Herzensdame einen Teddybären gewonnen und dafür schlappe sechzig Dollar ausgegeben hat.“
„Besser als hundert Dollar“, hielt er dagegen und zeichnete mit seinen Fingern winzige Muster auf die glatte Haut über ihrer Schulter.
„Was?“
„Hm?“ Fasziniert betrachtete er die babyweichen Haare an ihrem Nacken und konnte nicht widerstehen, ihr einen kleinen Kuss auf die Schulter zu drücken.
„Hundert Dollar?“
„Wieso hundert Dollar?“, fragte er verwirrt und konnte nur daran denken, wie gut sie roch und wie fantastisch sie schmeckte.
„Dean“, rief sie ihm belustigt ins Gedächtnis. „Du hast soeben gesagt: Besser als hundert Dollar
. Hat es irgendeine Bewandtnis damit auf sich oder was sollte dein Kommentar?“
Er zuckte mit den Schultern, auch wenn sie das nicht sehen konnte, weil sie mit dem Rücken zu ihm saß. „Nichts Besonderes. Ich musste nur daran denken, dass Zac einem Schießbudenbesitzer einhundert Dollar für einen Teddybären bezahlt hat, weil er den Lucy schenken wollte, es um seine Schießkünste jedoch nicht sehr gut bestellt war.“
„Aha. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit.“
„Als Anwalt hätte er eigentlich einen besseren Preis aushandeln können.“ Er umschloss ihre Taille mit einem Arm und zog sie eng an sich, während das Wasser leise plätscherte.
„Zac hat dir die Geschichte erzählt? Ich hätte angenommen, dass er diese Schmach lieber für sich behalten würde.“
„Nein, Lucy hat sie mir erzählt.“ So gelassen und ruhig wie es nur ging, fuhr er fort: „Zac und ich reden nicht viel miteinander, daher gehe ich davon aus, dass er mir niemals davon erzählt hätte.“
Ihre Hand legte sich auf seinen Unterarm, während sie ihren Rücken an seine Brust schmiegte. „Mir ist schon aufgefallen, dass ihr beide keine Plaudertaschen seid – jedenfalls was einander betrifft. Ansonsten hält sich Zac mit seinen Kommentaren nur selten zurück. Was gibt es da zwischen euch? Streit?“
„So könnte man es nennen.“ Dean seufzte.
„Was ist passiert?“
Er stieß die Atemluft aus und rümpfte die Nase. „Zac kann mir nicht verzeihen, was ich damals ausgefressen habe, und das kann ich ihm nicht einmal verübeln. Deshalb redet er nicht mit mir. Wir sind zu der Einigung gekommen, uns aus dem Weg zu gehen und der Band zuliebe die Füße stillzuhalten. Offiziell verstehen wir uns natürlich blendend, aber wenn die Kameras aus sind, schweigen wir uns an.“
„Das habe ich bemerkt“, kommentierte sie trocken. „Was ist denn zwischen euch passiert, dass er sich weigert, dir zu verzeihen?“
Dean verzog das Gesicht, denn so genau wusste er es selbst nicht mehr.
Nein, das war falsch. Natürlich wusste er noch, was er getan hatte, aber er wusste wirklich nicht mehr, wie es so weit gekommen war, dass er mit Zacs damaliger Freundin Tonya geschlafen hatte. Heute konnte er sich nicht mehr vorstellen, dass er mit der Frau eines seiner Freunde Sex haben könnte – für ihn wäre es der schlimmste Verrat. Und deshalb verstand er sogar, weshalb Zac ihm gegenüber so unnachgiebig war. Damals waren sie nicht nur Bandkollegen und Freunde gewesen, sondern auch Brüder. Dean schämte sich noch immer dafür, einen seiner besten Freunde und Brüder auf diese Weise verraten zu haben.
Das sagte er auch Sloane. „Ich bin dafür verantwortlich, dass sich die Band damals getrennt hat, weil ich mit Zacs Freundin Tonya geschlafen habe. Als er es herausfand, verließ er die Band und alles ging kaputt.“
Auf seine schonungslose Ehrlichkeit antwortete Sloane nicht sofort. Sie wartete ein paar Sekunden ab und wollte dann – typisch Frau – wissen: „Warst du in sie verliebt?“
„In Tonya?“ Unlustig lachte er auf. „Nein, überhaupt nicht.“
„Und warum hast du dann mit ihr geschlafen?“
„Ich habe keine Ahnung“, entgegnete er ehrlich und stöhnte auf. „Die Zeit damals war ziemlich verrückt. SpringBreak war ständig auf Tour oder im Studio – ein Konzert folgte auf das andere. Wenn ich nicht auf der Bühne stand oder einen Song einsang, war ich high und betrank mich. Meine Erinnerung ist deshalb nur lückenhaft. Es gab viele Frauen. Viele Groupies, die sich an uns heranwarfen. Tonya gehörte zum Team und war eine der Backgroundtänzerinnen. Ich wusste, dass Zac etwas mit ihr am Laufen hatte, aber ...“ Dean seufzte. „Das klingt jetzt schräg, aber ein paar der Groupies waren ganz versessen darauf, mit möglichst vielen Bandmitgliedern zu schlafen, und wir standen ihnen in ihrem Vorhaben nicht im Weg.“
„Schon verstanden.“ Sie räusperte sich bedeutungsvoll. „Ihr wart wilde Rockstars, die nichts anbrennen ließen.“
„So ungefähr“, murmelte er. „Aber zu deiner Beruhigung: Ich habe nie einer Fledermaus den Kopf abgebissen.“
„Da bin ich wirklich beruhigt.“ Sloane schnaubte auf. „Was passierte dann?“
Dean fuhr sich über die Lippen. „Die anderen hatten mitbekommen, dass ich mit Tonya im Bett gelandet war, und hielten vor Zac die Klappe. Keiner von uns ahnte, dass es ihm mit ihr ernst war. Offenbar war er über beide Ohren verliebt und dachte darüber nach, ihr einen Antrag zu machen.“
„Wie alt wart ihr damals?“
„Zac war zwanzig und ich einundzwanzig.“
„Ihr wart noch halbe Babys“, warf Sloane ein.
„Vielleicht“, schränkte er ein. „Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass Zac die Band verließ, als er herausfand, dass ich mit seiner Freundin geschlafen hatte und dass die anderen davon gewusst und es ihm verschwiegen hatten.“
„Schöne Scheiße“, murmelte Sloane leise.
„Ja.“
Ihre Hand, die auf seinem Unterarm lag, streichelte ihn zärtlich. „Wie ging es dir damit?“
„Ich war ziemlich hinüber“, gestand er nach ein paar Augenblicken leise. „Als es die Band gab, hatte ich noch einen Grund, mich wenigstens dann zusammenzureißen, wenn wir einen Auftritt hatten und Musik machten, aber nach der Trennung gab es kein Halten mehr. Ich rutschte völlig ab.“
„Und du hast einen Entzug gemacht.“
„Ja, weil ich eine Überdosis nahm und auf der Intensivstation wach wurde. Ohne diesen Zusammenbruch hätte ich niemals eingesehen, dass ich ein Problem hatte.“
Er musste sehr abfällig gesprochen haben, weil Sloane seine Hand drückte und forsch erwiderte: „Du hast dein Problem gelöst, Dean.“
„Nach drei Entzügen“, schränkte er ein. „Ich bin mehrmals rückfällig geworden, bis ich es geschafft habe.“
„Aber du hast es geschafft.“
„Und auf dem Weg dorthin habe ich Menschen verletzt und das zerstört, was meine Bandkollegen aufgebaut hatten. Stolz bin ich nicht darauf.“
„Hast du deshalb eingewilligt, beim Comeback der Band dabei zu sein? Du willst wiedergutmachen, dass ihr euch damals getrennt habt, richtig?“
„Ist das nicht offensichtlich? Es war allein meine Schuld.“
„Nein, das stimmt nicht“, widersprach sie. „Schuld waren der Alkohol und die Drogen.“
Die Selbsterkenntnis, zu der er erst in seinem dritten Entzug gelangt war, brachte ihn dazu, Folgendes zu sagen: „Der Alkohol und die Drogen waren schuld daran, dass ich die Kontrolle verloren habe, aber ich bin es, der für das verantwortlich ist, was ich damals getan habe. Deshalb muss ich auch versuchen, wiedergutzumachen, was ich meinen Mitmenschen zugemutet habe, auch wenn es einige Dinge gibt, die ich leider nicht ungeschehen machen kann.“
„Sprichst du von der Band und Zac?“
„Nein.“ Seine Kehle wurde eng und er senkte den Kopf. „Ich spreche von meiner Grandma. Ihr habe ich mit meiner Abhängigkeit und meinen Entzügen am meisten zugemutet. Sie war immer für mich da, obwohl ich sie im Stich gelassen habe, als sie meine Unterstützung gebraucht hätte.“
Sloane legte den Kopf zur Seite und schaute zu ihm nach oben. Dean senkte den Kopf und begegnete ihrem aufmerksamen Blick.
„Woran gibst du dir ihretwegen die Schuld?“, wollte sie mit einem mitfühlenden Flüstern wissen und verknotete seine Finger mit ihren. Man hätte meinen können, dass sie seine Gedanken lesen konnte.
„Monate nach meinem zweiten Entzug wurde ich rückfällig“, erklärte Dean mit einem Kratzen im Hals und einem Brennen in den Augen. „Meine Grandma ließ alles stehen und liegen, um sich um mich zu kümmern. Ich wollte ihre Hilfe nicht und warf sie aus meiner Wohnung, in der es wie im Hauptquartier eines kolumbianischen Drogenkartells aussah. Sie blieb hartnäckig und kam Tag für Tag wieder, bis sie mich so weit hatte, wieder in die Entzugsklinik zu gehen. Während ich dort war, hatte sie einen Herzinfarkt.“ Er musste sich räuspern und ein paar Sekunden warten, bis er weitersprechen konnte. „Sie war schon seit längerer Zeit krank und hätte sich schonen müssen, aber meinetwegen ...“
„Dean.“ Sloane unterbrach ihn und legte ihm eine Hand auf die Wange. „Das darfst du dir nicht anlasten. Du bist nicht schuld am Herzinfarkt deiner Großmutter.“
„Verstehst du nicht?“, fragte er mit rauer Stimme. „Sie war mein ganzes Leben für mich da, aber als ich für sie hätte da sein sollen, habe ich versagt. Ich war nicht einmal bei ihr, als sie starb.“
„Du warst krank und konntest nichts dafür.“
„Ich war nicht krank. Ich war süchtig.“
„Auch eine Sucht ist eine Krankheit. Und die hast du dir nicht ausgesucht.“
Er biss die Zähne zusammen und entgegnete nichts.
Sloane streichelte tröstlich über seine Wange, was sich unerträglich gut anfühlte. Dean musste bereits befürchten, sich vor ihr zu blamieren, indem er jeden Moment in Tränen ausbrach. Mit niemandem hatte er jemals so offen über den Tod seiner Großmutter gesprochen.
„Zwar kenne ich deine Grandma nicht“, murmelte sie sanft, „aber ich bin mir sicher, dass sie nicht wollen würde, dass du dich für ihren Tod verantwortlich fühlst und dir die Schuld gibst. Ich glaube, sie wäre sehr stolz auf dich und auf das, was du erreicht hast.“
Auch darauf entgegnete er nichts, weil er seiner eigenen Stimme nicht traute.
Langsam und bedächtig drehte Sloane seinen Kopf in ihre Richtung und forschte in seinen Augen. „Du solltest aufhören, dir die Schuld an Dingen zu geben, die passiert sind, als du nicht du selbst warst, Dean. Und du solltest anfangen, in dir das zu sehen, was ich sehe: einen wundervollen, hilfsbereiten und anständigen Mann, der aus eigener Kraft sein Leben in den Griff bekommen und neu angefangen hat. Du verdienst es, glücklich zu sein.“
Als sie den Kopf hob und ihn zärtlich auf den Mund küsste, erwiderte er den Kuss voller Sehnsucht und wusste, dass er den einen Menschen gefunden hatte, der sein Herz und seine Seele berührte.