Eins
„Was hat sie jetzt schon wieder angestellt, Patricia?“ Jesse schenkte der Frau hinter dem Schreibtisch ein schiefes Lächeln, als er ihr Vorzimmer betrat, und er war froh über ihr freundliches Gesicht. Es war nämlich sehr wahrscheinlich, dass er in den nächsten Minuten kein anderes freundliches Gesicht sehen würde.
Das hatte er im Gefühl.
Und sein Gefühl log meistens nicht.
Er ging davon aus, dass Ärger auf ihn wartete, was ihm ganz und gar nicht passte, weil er erstens nicht scharf auf eine Gardinenpredigt war und weil er zweitens eigentlich einen anderen Termin hatte, den er sausen lassen musste, um hier zu sein.
„Das soll Direktor Tucker Ihnen lieber selbst sagen, Jesse.“
„So schlimm also?“, wollte er resigniert von ihr wissen, während er die Tür hinter sich schloss. Seine Schultern sackten nach unten.
Was auch immer Allie heute angestellt hatte, er hätte darauf verzichten können, ein weiteres Mal hergebeten worden zu sein und dafür einen wichtigen Termin zu verpassen, den er zusammen mit seinen Bandkollegen hatte, um die anstehende Tour zu besprechen. Langsam reichte es ihm, ständig in die Schule seiner Nichte gerufen zu werden, um über ihr Fehlverhalten zu reden.
Erst letzte Woche war er ins Büro des Direktors gebeten worden und hatte sich anhören müssen, dass sie seine Unterschrift auf einer Entschuldigung gefälscht hatte, weil sie den Unterricht geschwänzt hatte. Von dieser Sache hatte Jesse keine Ahnung gehabt. Er war davon ausgegangen, dass sie in der Schule gewesen war – in der Schule, die ein halbes Vermögen kostete. Nur ein paar Tage zuvor hatte er in ihre Highschool kommen müssen, weil Allie dabei erwischt worden war, wie sie bei einem Englischtest von einem Mitschüler abgeschrieben hatte.
Jesse hatte nicht gewusst, was ihn mehr geärgert hatte.
Dass seine Nichte abgeschrieben hatte, obwohl sie laut Aussage ihres früheren Englischlehrers die Beste des Kurses gewesen war, oder dass er wegen solch einer Lappalie im Aufnahmestudio gefehlt hatte, als er eigentlich mit seiner Band an der finalen Version ihres neuesten Songs hätte arbeiten sollen. Für die nächste Auskopplung gab es bereits ein festes Datum, das sie einhalten mussten und von dem viel abhing – dass eine Schülerin abschrieb, war dagegen kein Notfall, wie Jesse fand.
War es nicht wahnsinnig übertrieben, dass er deshalb alles stehen und liegen lassen musste, um in die Schule zu kommen? Als er zur Highschool gegangen war, wäre niemand auf die Idee gekommen, die Eltern in die Schule zu bestellen, weil ihr Kind bei einem Test von einem anderen Schüler abschrieb.
Und seit wann behandelte man das Abschreiben wie ein Kapitalverbrechen?
Vermutlich war er selbst nur deshalb nicht in Französisch durchgefallen, weil er ständig bei seiner Tischnachbarin abgeschrieben hatte, die ein Jahr in Frankreich bei einer Gastfamilie gewohnt hatte. Zwar konnte sich Jesse nicht mehr an ihren Namen erinnern, aber er wusste noch, dass sie nicht nur die französische Sprache erlernt hatte, als sie in Frankreich gelebt hatte, sondern auch ziemlich heiße Küsse und … noch andere französische Fertigkeiten.
Natürlich hatte er davon nichts erzählt, als Allies Direktor getobt hatte, weil sie abgeschrieben hatte. Der Schuldirektor wirkte nicht wie jemand, der zu Scherzen aufgelegt war. Stattdessen gehörte er zu den bierernsten Typen, die zum Lachen in den Keller gingen und aus einer winzigen Kleinigkeit ein riesiges Drama machten. Anders war es nicht zu erklären, dass er Jesse zu sich kommen ließ, wann immer Allie sich danebenbenahm. Jesse empfand das Verhalten des Direktors schlichtweg übertrieben und lästig.
Er hatte Besseres zu tun.
Und er war sich sicher, dass auch die Eltern der anderen Schüler Besseres zu tun hatten, als wegen jeder Kleinigkeit ins Sekretariat gerufen zu werden. Wozu bezahlten sie eigentlich ein so hohes Schulgeld, wenn sie sich dennoch ständig mit Schulproblemen herumschlagen mussten? Konnten die Lehrer diese nicht allein lösen?
Als er Allie an dieser Schule angemeldet hatte, war er nicht davon ausgegangen, mindestens einmal in der Woche hierher zitiert zu werden. Insgeheim hatte er gehofft, dass gut ausgebildete Pädagogen ihm die Probleme abnehmen würden, die er mit seiner Nichte hatte, ohne dass er involviert wäre.
Was wusste er schon von Teenagern?
Obwohl es noch nicht so lange her war, dass er selbst ein Teenager gewesen war, konnte er zu seiner Nichte einfach nicht durchdringen. Sie waren nicht auf der gleichen Wellenlänge, und das machte sich täglich bemerkbar. Zwischen ihnen gab es nur Stress. Bereits beim Frühstück bekamen sie sich in die Haare und fingen zu streiten an. Oder aber Allie sprach kein Wort mit ihm und ignorierte ihn. Jesse wusste nicht, was ihm mehr auf den Keks ging – ein lautstarker Streit oder das an den Nerven zerrende Schweigen.
Die meiste Zeit wusste er nicht, was er mit ihr anfangen sollte.
Für die teure Privatschule hatte er sich entschieden, weil sie sehr vielversprechend geklungen hatte. Außerschulische Aktivitäten, Förderprogramme und Nachmittagsbetreuung – Jesse war davon ausgegangen, dass Allie ständig beschäftigt wäre und ihre Freizeit zum größten Teil in der Schule verbringen würde, ohne dass er großartig eingebunden sein müsste.
In seiner Vorstellung wäre Allie auf ihrer neuen Schule gut zurechtgekommen und er hätte genügend Zeit für sich und für seine Karriere gehabt. Bei Problemen wären die Lehrer eingesprungen, um diese zu regeln, und Jesses Aufgabe hätte darin bestanden, jeden Monat das horrende Schulgeld zu zahlen.
An seinem bisherigen Leben hätte sich fast nichts geändert, wenn man davon absah, dass er seine Wohnung nun mit einer Fünfzehnjährigen teilte.
Heute konnte er über diese Vorstellung nur lachen, denn sein Leben stand Kopf, seit Allie zu ihm gezogen war. Sie konnte oder wollte sich mit der neuen Situation nicht abfinden, was sie ihn und alle anderen deutlich spüren ließ. In ihre neue Schule wollte sie sich überhaupt nicht integrieren, und sie blockte jeden seiner Versuche ab, sich ihr zu nähern. Jesse hatte keine Ahnung, was er falsch machte, und nach fast drei Monaten verließ ihn bald die Geduld, denn er merkte immer mehr, wie ihm alles entglitt. Sein Privatleben war ein Desaster, und auch um seine Karriere sähe es über kurz oder lang finster aus, wenn er sich nicht bald vermehrt auf seinen Job konzentrierte. Wie sollte er das jedoch tun, wenn er andauernd in die Schule seiner Nichte gerufen wurde und immer wieder Probleme mit ihr hatte?
Wenn er an seine eigene Schulzeit dachte, fiel ihm nur ein einziges Mal ein, bei dem seine Mom seinetwegen in die Schule gerufen worden war – damals war Jesse im Biologieunterricht ohnmächtig geworden, als er einen Frosch sezieren sollte. Er hatte mit einer blutenden Stirn im Krankenzimmer gesessen und auf seine Mom gewartet, die ihn nach Hause gebracht hatte. Kein einziges Mal war sie von seiner Schule informiert worden, dass er etwas angestellt hatte. Seine Eltern waren nur dann in seine Schule gekommen, wenn es eine Schulaufführung oder einen anderen offiziellen Termin gegeben hatte.
Sie hatten nie einen beruflichen Termin verpasst, weil er während der Schulzeit negativ aufgefallen war. Jesse würde sich wünschen, dass es bei ihm ähnlich wäre.
Seinetwegen war die Tour der Band bereits einmal verschoben worden, als Allie vor fast drei Monaten zu ihm gekommen war. Unter den gegebenen Umständen hätte er seine Nichte nicht allein lassen können, um mit der Band durchs Land zu ziehen und Konzerte zu geben. Er hatte sich für sie verantwortlich gefühlt. Deshalb war die Tour verschoben worden. Das Management und das Plattenlabel hatten Verständnis für seine Situation gehabt – und seine Bandkollegen sowieso. Jedoch sah der neue Plan vor, dass die Tour in wenigen Wochen starten sollte. Dieses Mal wollte er nicht, dass irgendetwas dazwischenkam.
Jesse konnte es kaum erwarten, mit der Band unterwegs zu sein und ein bisschen Abstand zu all dem Stress daheim zu bekommen. Es war nicht einfach gewesen, eine Betreuung für Allie zu organisieren, die sich um den Teenager kümmern würde, solange Jesse tourte, aber durch eine Agentur hatte er eine Babysitterin engagiert, die bei ihnen zu Hause wohnen und sich um Allie kümmern würde, während er unterwegs war.
Für ihn war die Sozialarbeiterin ein Geschenk des Himmels, schließlich hatten diverse andere Babysitter das Jobangebot abgelehnt, nachdem sie den renitenten Teenager kennengelernt hatten.
Für Allie dagegen war die streng wirkende Mrs. Henderson, die bereits Rücksprache mit der Schule gehalten hatte und über Allies Stundenplan sowie über ihre Aufgaben bestens informiert war, ein Geschenk der Hölle, wie sie nicht müde war, von sich zu geben.
Aber wie hätte er ohne einen Babysitter, der auf Allie aufpasste, auf Tour gehen können?
Um es ganz offen zu sagen: Die Situation wuchs ihm über den Kopf. Er war einfach nicht darauf vorbereitet, einen Teenager um sich zu haben und dafür Sorge zu tragen, dass es ihr gut ging. Für diese Aufgabe war er denkbar ungeeignet.
Er hatte Allie zum letzten Mal gesehen, als sie noch nicht eingeschult gewesen war und als sie eine Zahnlücke getragen hatte. Damals war sie ein süßes kleines Mädchen gewesen, das gelispelt und vor Freude gelacht hatte, wenn er sie in die Höhe geworfen hatte. Aber das war über zehn Jahre her. In all den Jahren hatte er sie nicht zu Gesicht bekommen, und plötzlich war er ihr Vormund – ihr Erziehungsberechtigter. Dabei kannten sie sich überhaupt nicht.
Allie und er waren sich völlig fremd und hatten keinerlei Beziehung zueinander. Was wussten sie schon voneinander? Und was wusste er schon davon, für einen Teenager verantwortlich zu sein? Allie war schließlich nicht mit einem Handbuch geliefert worden. Dafür zu sorgen, dass es ihr gut ging, stellte für Jesse eine Herausforderung dar, von der er nicht wusste, ob er sie erfüllen konnte. Immerhin hatte er bereits Probleme damit, eine Zimmerpflanze zu besitzen und sie am Leben zu erhalten. Und diese brauchte eigentlich nur Wasser!
Ein Teenager war sehr viel anspruchsvoller – vor allem wenn besagter Teenager nachts aus dem Fenster kletterte und im Morgengrauen nach Hause kam, obwohl Jesse ihr verboten hatte, die Wohnung zu verlassen. Nachts kein Auge zuzubekommen, Krankenhäuser abzutelefonieren und sich von der Polizei sagen zu lassen, dass es noch zu früh für eine Vermisstenanzeige sei, war eine Erfahrung, auf die Jesse gut und gerne verzichtet hätte.
Wer auch immer die Pubertät erfunden hatte, gehörte erschossen und zuvor gefoltert.
„Ich weiß nicht, worum es dieses Mal geht“, gestand die Schulsekretärin und riss ihn aus seinen Gedanken heraus. „Ich weiß nur, dass Direktor Tucker sehr besorgt ist, nachdem Allies Biologielehrer mit ihm gesprochen hat“, verriet sie ihm. „Die beiden warten zusammen mit Allie auf Sie. Sie können hineingehen, wenn Sie möchten, Jesse.“
Eigentlich wollte Jesse nicht hineingehen – viel lieber wäre er woanders gewesen. Um ehrlich zu sein, hätte er lieber stundenlang mit dem unmusikalischsten Menschen auf der Welt die Tonleiter geübt, als das Büro des Direktors zu betreten. Aber was blieb ihm anderes übrig?
Sobald er an die Tür des Büros klopfte, diese öffnete und die finsteren Mienen des Direktors und des Biologielehrers bemerkte, machte sich ein ungutes Gefühl in ihm breit. Mit Mr. Tucker, dem Schuldirektor, konnte er sich verständigen, aber Allies Biologielehrer konnte Jesse auf den Tod nicht leiden. Der Mann trug seine Hosen nicht nur so unnatürlich weit oben, dass man sich fragen musste, ob ihm nicht bewusst war, dass seine Zeugungskraft darunter leiden konnte, sondern er war auch ein derart pedantisches Arschloch, dass es Jesse schwerfiel, mit ihm in einem Raum zu sein. Nachdem Allie in ihrem ersten Biologietest prompt durchgefallen war und Jesse den Lehrer um etwas Nachsicht gebeten hatte, weil Allie sich erst an die neue Situation und an die neue Schule gewöhnen musste, hatte Mr. Parker keineswegs verständnisvoll reagiert, sondern erwidert, dass er Lehrer und kein Sozialarbeiter sei. Seither war der etwa fünfzig Jahre alte Lehrer mit dem unnatürlichen Sitz seiner Hosen, der vermutlich bei seinen Eltern im Keller wohnte, für Jesse ein rotes Tuch.
„Guten Tag.“ Mit gebotenem Ernst begrüßte er die beiden Männer mit einem Nicken und betrat das Büro, das so eingerichtet war, dass es einschüchternd wirken sollte. Anders waren die raumhohen Buchregale aus dunklem Holz, die mit beeindruckenden Wälzern gefüllt waren, nicht zu erklären. Jesse konnte sich nicht vorstellen, dass es auch nur einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt gab, der diese sicherlich langweiligen und voll gestaubten Bücher gelesen hatte.
„Setzen Sie sich bitte, Mr. Gibson“, bat Direktor Tucker ihn direkt, woraufhin sich Jesse neben seine Nichte setzte.
Angesichts ihres Aufzugs konnte er sich denken, warum er heute hergebeten worden war. Die teure Privatschule, auf die Allie ging, schrieb nämlich eine genaue Kleiderordnung vor, die nicht besagte, dass die Schülerinnen wie minderjährige Prostituierte gekleidet sein sollten. Allie jedoch sah aus, als befände sie sich auf dem Weg zum Casting eines Pornofilms mit dem Titel Geile Schulmädchen tun alles für gute Noten .
Jesse kannte sich in diesem speziellen Genre zwar nicht aus, denn seine Vorlieben sahen glücklicherweise etwas anders aus, aber Allies Kleidung ließ keinen anderen Schluss zu. Ihr Rock war unerhört kurz abgeschnitten und das T-Shirt mit dem Logo der Sex Pistols , das er zudem als seines identifizierte, hatte sie ebenfalls abgeschnitten, sodass ihr Bauch nackt war. Als sie heute Morgen die Wohnung verlassen hatte, war er bereits zum Jogging aufgebrochen und hatte sie nicht zu Gesicht bekommen. Wie beinahe jeden Morgen.
Vielleicht hätte er lieber warten und einen Blick auf ihre Aufmachung werfen sollen. Dann säße er jetzt nicht hier und würde seinen Termin verpassen, weil sich Allie über die Kleiderordnung der Schule hinweggesetzt hatte.
Sie war ein bildhübsches Mädchen, das die feinen Gesichtszüge ihrer Mutter und die Körpergröße ihres Vaters geerbt hatte. Allie war groß, schlank, sportlich und für ihr Alter ausgesprochen weit entwickelt. Während Jesses Haut dank seines afroamerikanischen Vaters die Farbe von dunklem Karamell besaß, war Allie etwas heller. Mit ihren schwarzen langen Locken, der olivfarbenen Haut und den grünen Katzenaugen sowie den fein gemeißelten Gesichtszügen war Allie nicht nur ausgesprochen hübsch, sondern auch sehr exotisch. Sie sorgte bereits für genug Aufsehen, auch wenn sie nicht wie eine Prostituierte gekleidet durch Los Angeles lief und alle Perversen dieser Stadt auf den Plan rief.
Und von diesen Perversen gab es eine Menge.
Erst gestern hatte Jesse auf dem Wilshire Boulevard im Stau gestanden und irgendeinen Typen dabei beobachtet, wie der sich ein paar Plakate angeschaut und sich dabei einen runtergeholt hatte – mitten am Tag! Verstörend an der Tatsache war nicht etwa gewesen, dass sich dieser Kerl in aller Öffentlichkeit befunden hatte, sondern dass die Plakate für umweltschonende Elektroautos geworben hatten.
Dass Männer auf Autos standen und zu ihnen oftmals eine engere Bindung besaßen als zu ihren Frauen, war bekannt, aber Jesse hatte noch nie davon gehört, dass es Männer gab, die von Elektroautos so sehr angetan waren, dass sie deshalb gleich Hand anlegen mussten – an sich selbst. Nicht etwa an den Autos.
Was auch immer das für ein Fetisch war, Jesse wollte nicht, dass seine fünfzehnjährige Nichte damit in Kontakt kam. Oder mit anderen Fetischen. Sie hatte noch genug Zeit, um zu lernen, dass es Männer mit teilweise sehr merkwürdigen Vorlieben gab – ob sie nun zu Elektroautos masturbierten oder sexuelle Beziehungen zu Staubsaugern hatten.
Allie war noch ein halbes Kind, das gerade aus dem Alter raus war, mit Puppen zu spielen. Sie sollte sich mit ihren Freundinnen in der Mall treffen, Pyjamapartys veranstalten und Tagebuch schreiben!
Genau darüber hatten sie sich vor zwei Wochen gestritten, als sie sich von einem angeblichen Schulfreund hatte abholen lassen und mit ihm zu einer Party hatte fahren wollen – auf dessen Motorrad!
Jesse hatte nur einen Blick auf den kahl rasierten Typen mit den überdimensionalen Muskelbergen sowie dem kunstvollen Tattoo auf seiner Schläfe und dem klangvollen Namen Spike werfen müssen, um zu wissen, dass er sicherlich kein Highschool-Schüler war.
Spike, der ein geschmackvolles Unterhemd sowie Hosen im Camouflagemuster und mit Nieten besetzte Stiefel getragen hatte, wirkte nicht wie jemand, der eine teure Privatschule besuchte. Viel eher sah er wie jemand aus, der das Lesen und Schreiben im Knast gelernt hatte. Jesse hatte gar nicht wissen wollen, wo Allie diese wandelnde Geschlechtskrankheit kennengelernt hatte, und er hätte Allie eher an die Heizung gekettet, als dass er ihr erlaubt hätte, mit diesem Typen auszugehen.
Seine Weigerung, sie auf ihr Date gehen zu lassen, hatte in einem epischen Streit geendet, in dem Allie ihn einen verklemmten Spießer genannt hatte.
Er war kein Spießer! Und verklemmt war er schon einmal gar nicht.
Bereits mit siebzehn Jahren hatte er einer Rockband angehört und Dinge getan, von denen seine Nichte keinen blassen Schimmer hatte! Er war verdammt cool und alles andere als ein verklemmter Spießer.
Er wollte lediglich seine Nichte nicht mit einem Kerl namens Spike ausgehen lassen, der es vermutlich als romantisches Date betrachtete, Allie zu einem Hundekampf auszuführen und dann mit ihr Sex hinter einem Müllcontainer in einer dreckigen Gasse gleich neben einer Imbissbude zu haben!
Himmel, sie war doch erst fünfzehn! Jesse mochte zwar keine Ahnung von fünfzehnjährigen Mädchen haben, aber er wusste, dass fünfzehn kein Alter war, um mit gefährlich aussehenden Typen zu Partys zu gehen. Die Vorstellung, dass seine minderjährige Nichte, für die er verantwortlich war, mit Spike durchbrennen könnte, schwanger wurde und ihr Leben in einem Wohnwagen verbringen würde, ließ ihn seither nicht schlafen. Er hatte regelrechte Albträume, in denen Allie als fünffache Mutter Schrott sammelte und Spike im Gefängnis besuchte!
„Danke, dass Sie so schnell hergekommen sind, Mr. Gibson.“
„Mir blieb ja keine andere Wahl“, erwiderte er mit einem gezwungenen Lächeln und drehte sich auf seinem Stuhl zu Allie um, die ihn ignorierte und starr nach vorn schaute. „Ich kann mir denken, was Allie heute mal wieder angestellt hat, und ich bin alles andere als begeistert, weil ich eigentlich einen wichtigen Termin hatte, der jetzt gerade ins Wasser fällt.“
Trotzig schob seine Nichte die Unterlippe nach vorn und murmelte: „Du hättest nicht herkommen müssen.“
Jesse kniff die Augen zusammen und merkte, wie sich ein schmerzhaftes Pochen gleich hinter seiner Stirn bemerkbar machte. „Doch, das musste ich, schließlich bin ich für dich verantwortlich, Allie. Wenn mich dein Direktor anruft, weil du etwas angestellt hast, dann muss ich kommen.“
Sie schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ihr Direktor räusperte sich und lenkte Jesses Aufmerksamkeit auf sich. „So bedauerlich es auch ist, dass Sie Ihren Termin verpassen, Mr. Gibson, denke ich, dass wir unbedingt über das heutige Fehlverhalten Ihrer Nichte sprechen sollten.“
Jesse drehte den Kopf zu dem grauhaarigen Mann hinter dem Schreibtisch und presste die Lippen aufeinander.
Das Fehlverhalten seiner Nichte hielt ihn von seinem Job ab und beinhaltete zudem eines seiner Lieblingsshirts, das er in dem jetzigen Zustand nur noch tragen konnte, wenn er aus unerfindlichen Gründen als Aerobiclehrer arbeiten und dabei Leggings sowie Stulpen tragen würde. Es war nicht das erste Mal, dass Allie sich an seinen Sachen vergriffen hatte. Wundersamerweise waren aus seinen Lieblingsjeans Allies ultraknappe Shorts geworden, seine schwarze Lederjacke war wochenlang verschwunden gewesen, bis er sie in Allies Sporttasche entdeckt hatte, und seinen Rasierer hatte sie sich ebenfalls unter den Nagel gerissen. Dass er fand, sie sei mit fünfzehn zu jung, um sich die Beine zu rasieren, hatte ihm das Adjektiv uncool eingebracht.
Warum war sie nur so sehr auf Konfrontation gepolt? Ihre Aufsässigkeit machte ihn verrückt, und langsam verlor er die Geduld mit ihr. Angesichts dessen, was ihr passiert war und was sie mitgemacht hatte, war Jesse in den ersten zwei Monaten förmlich um sie herumgeschlichen, hatte Verständnis gezeigt und sie in Ruhe gelassen. Aber mittlerweile war ein Punkt erreicht, an dem er von ihr erwartete, sich in die neue Situation einzufinden und ihm nicht das Leben zu erschweren.
Sie war schließlich kein Kleinkind mehr, sondern in einem Alter, in dem man von ihr erwarten konnte, vernünftig zu sein.
Jesse holte tief Luft und nickte dem Direktor auffordernd zu. „Okay, reden wir über Allies Fehlverhalten und bringen es hinter uns.“
Obwohl der Direktor die Stirn runzelte und gar nicht glücklich über Jesses Kommentar wirkte, meinte er: „Wir haben Sie angerufen, Mr. Gibson, weil Allies heutiges Vergehen ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen wird. Wir mussten nicht nur das gesamte Lehrerkollegium informieren, sondern auch den Elternbeirat, der noch heute zusammentritt. Es ist eine ernste Angelegenheit.“
Seit wann war ein abgeschnittenes T-Shirt der Sex Pistols ein ernsthaftes Vergehen? Und seit wann war ein Verstoß gegen die Kleiderordnung derart schwerwiegend, dass der Elternbeirat eingeschaltet wurde?
Mit einem verwirrten Zwinkern schaute er zwischen dem düster wirkenden Direktor und dem Biologielehrer mit den viel zu weit nach oben gezogenen Hosen hin und her. „Der Elternbeirat wurde informiert?“
„Ja, leider“, gestand der Direktor. „An unserer Schule tolerieren wir derartige Verstöße nicht. Ich fürchte, dass diese Sache ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen wird.“
„Moment mal.“ Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, und er hatte keine Ahnung gehabt, wie streng die Schule war, was deren Schuluniform betraf. „Finden Sie nicht, dass Sie etwas voreilig sind? Es mag schon sein, dass ich diesbezüglich etwas lockerer eingestellt bin, aber ich denke, dass man Allie zugutehalten sollte, dass es auf ihrer alten Schule keine solche Verordnung gab. Für sie war es ganz normal, damit zur Schule zu kommen.“
„Was?“ Der Biologielehrer starrte ihn entsetzt an und ließ die Arme fallen. „Und das heißen Sie auch noch gut, Mr. Gibson?!“
Dass der prüde Biologielehrer kein Verständnis für eine exzellente Punkband der Siebzigerjahre hatte, wunderte Jesse nicht, aber um des lieben Friedens willen, grinste er ihn entschuldigend an. „Geschmäcker sind nun einmal verschieden. Sie mögen dafür nicht zu haben sein, Mr. Parker, aber ich bin seit meinem zwölften Lebensjahr ein großer Fan.“
Daraufhin atmete der andere Mann scharf ein und schnappte förmlich nach Luft. Jesse fragte sich, wie der Musikunterricht an dieser Schule aussah, wenn allein die Erwähnung einer Punkband einen Lehrer dazu brachte, kurz vor einem Schlaganfall zu stehen.
Auch der Direktor wirkte entsetzt. „Mr. Gibson …“
Jesse hob eine Hand und unterbrach den Direktor mit zerknirschter Miene. „Okay, ich gebe es zu. Ich bin nicht ganz unschuldig an dem Ganzen, immerhin hat Allie es von mir. Offenbar hat sie sich – wieder einmal – an meinen Sachen vergriffen und sie mit zur Schule gebracht. Das wird selbstverständlich nicht mehr vorkommen.“
Plötzlich war es so still, dass man eine Stecknadel hätte hören können, wenn sie auf den Boden gefallen wäre.
Die pure Entrüstung und das fassungslose Entsetzen der beiden Pädagogen, die ihm entgegenschlugen, verstand Jesse überhaupt nicht.
Direktor Tucker fand als Erster seine Sprache wieder, auch wenn er sich zweimal räuspern musste und vor lauter Fassungslosigkeit heftig schluckte. „Wollen Sie uns damit sagen, dass Allie den Joint von Ihnen hat?“
„Den was ?!“ Stocksteif setzte sich Jesse auf und spürte, wie ihm die Kinnlade nach unten fiel. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre vor Bestürzung von seinem Stuhl aufgesprungen.
„Allies Joint“, wiederholte der Direktor.
„Was? Wovon sprechen Sie überhaupt?“ Jesse schüttelte den Kopf und rutschte auf seinem Stuhl nach vorn.
„Allie wurde heute von Mr. Parker mit einem Joint erwischt.“
„Was?!“ Jesse sah zwischen Allie und dem Direktor hin und her. „Sie wurde was ?“
„Allie wurde heute dabei erwischt, wie ihr ein Joint aus dem Rucksack fiel. Was haben Sie denn gedacht, worum es hier geht?“, wollte der Direktor von ihm wissen und wirkte genauso verwirrt und überrumpelt, wie Jesse sich gerade fühlte.
„Ich dachte, Sie hätten etwas gegen Allies Kleidung“, brach es unbeherrscht aus ihm heraus, während sich sein Herzschlag so sehr beschleunigt hatte, dass Jesse ihn in seinem Schädel dröhnen hören konnte.
„Ihre Kleidung?“
„Die Sex Pistols “, erwiderte er außer sich und atmete schwer. „Das T-Shirt! Das gehört mir. Von einem Joint wusste ich nichts! Allie!“ Fassungslos sah er seine Nichte an, die den Blick mit stürmischen grünen Augen, die seinen so ähnlich sahen, erwiderte. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mit Drogen in die Schule zu gehen? Und woher hast du den Joint?“
„Das geht dich nichts an!“, feuerte sie zurück.
Wütend schnappte er nach Luft. „Etwa von diesem Spike? Hat er dir den Joint gegeben?“
„Nein!“
„Von wem dann?“
Trotzig schwieg sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ein roter Schleier legte sich über Jesses Augen, und am liebsten hätte er sie angebrüllt und sie gefragt, was sie sich dabei dachte, so einen Scheiß anzustellen und mit Drogen erwischt zu werden! Und noch während er innerlich vor Wut tobte, dass sie sich und ihn in eine derartige Situation gebracht hatte, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er hatte früher selbst ab und zu einen Joint geraucht, aber längst damit aufgehört, weil sein Freund, der ebenfalls mit harmlosen Joints angefangen hatte, beinahe an einer Überdosis gestorben war. Allein der Gedanke, dass Allie wie Dean …
„Sosehr ich Ihr Entsetzen und Ihre Wut nachempfinden kann, Mr. Gibson, sollten Sie lieber später im Privaten mit Allie darüber reden, von wem sie die Drogen bekommen hat. Jetzt geht es um Allies weitere schulische Laufbahn.“
„Natürlich.“ Jesse wandte sich wieder dem Direktor zu und schluckte seine Wut hinunter. Ein Drogenverstoß war tatsächlich besorgniserregend und nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Das T-Shirt der Sex Pistols dagegen war ein Waisenknabe. Der Gedanke an seinen Termin war urplötzlich in den Hintergrund getreten. „Lassen Sie uns darüber reden, was wir tun können, um diese Angelegenheit zu bereinigen.“
Der Direktor verzog den Mund. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob dies so einfach umzusetzen sein wird.“
Jesse runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“
„An dieser Schule tolerieren wir weder Alkohol noch Drogen. Verstöße gegen diese Verordnung ziehen schwere Konsequenzen nach sich.“
Sein Magen zog sich zusammen. „Von welchen Konsequenzen sprechen Sie?“
Direktor Tucker ließ sich ein paar Sekunden Zeit und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. „Ich denke, wir alle begreifen, dass es mit Allie nicht so weitergeht“, begann er ruhig und abwägend. „Erst vor ein paar Tagen saßen wir hier, nachdem Allie Ihre Unterschrift gefälscht hatte, Mr. Gibson. Jetzt wurde sie mit Drogen erwischt. Das sind keine Kavaliersdelikte mehr, sondern tendieren in eine kriminelle Richtung, die Anlass zur Besorgnis gibt. Der Lehrkörper fragt sich, was als Nächstes kommen wird. Und auch der Elternrat ist besorgt, insbesondere dann, wenn Drogen im Spiel sind. An dieser Schule wird der Besitz von Drogen nicht toleriert.“
„Da sind wir einer Meinung“, stimmte Jesse ihm zu und hoffte, damit die Wogen glätten zu können. „Allie und ich werden ein sehr ernstes Gespräch über dieses Thema führen. Ich kann Ihnen versichern, dass so etwas nie wieder vorkommen wird.“
„Bei allem Respekt, Mr. Gibson“, warf der Biologielehrer ein, „aber im Namen des Lehrerkollegiums spreche ich die allgemeine Besorgnis darüber aus, dass Allie sich nicht in die Schule einfügen will . Wir sind uns nicht sicher, ob die Jefferson High die richtige Wahl für sie war. Vielleicht ist Ihre Nichte an einer anderen Schule besser aufgehoben. Wir sind mit ihr schlicht und ergreifend überfordert.“
Sein Magen sackte ins Bodenlose, während er begriff, was Direktor Tucker gemeint hatte, als er von Konsequenzen sprach.
„Bereits vor einem Monat stand eine Suspendierung vom Unterricht im Raum, die im letzten Moment abgewendet werden konnte, und in der letzten Woche kam Allie mit einer Verwarnung davon, weil wir noch einmal Nachsicht gezeigt haben“, erklärte der Direktor ziemlich direkt. „Wir waren uns einig, dass Allie den Willen zeigen müsste, hier zur Schule zu gehen. Das hat sie bisher nicht getan – im Gegenteil. Dass sie heute mit einem Joint erwischt wurde, zeigt uns, dass sie nichts dazugelernt hat.“
„Und das bedeutet?“
„Ich fürchte, dass Allie der Schule verwiesen werden muss. Dauerhaft.“ Der Direktor stieß die Atemluft aus und wandte seinen Blick Allie zu, die kein einziges Wort sagte und nicht sehr besorgt wirkte.
Innerlich knirschte Jesse mit den Zähnen und überlegte gleichzeitig panisch, was er tun oder sagen könnte, um zu verhindern, dass Allie von der Schule flog. „Können Sie Allie nicht für ein paar Tage suspendieren, anstatt sie sofort der Schule zu verweisen? Ich bin mir sicher, dass eine Suspendierung eine so abschreckende Wirkung auf sie haben wird, dass sie sich anschließend bessert.“
Der Biologielehrer grummelte irgendetwas vor sich hin, von dem Jesse glaubte, dass es besser für ihn war, den Kommentar akustisch nicht verstanden zu haben.
„Hören Sie, Mr. Gibson, mir ist die Entscheidung nicht einfach gefallen, aber in Rücksprache mit Allies Lehrern und mit den Vorsitzenden des Elternbeirates bleibt mir nichts anderes übrig. Als Direktor muss ich an das Wohl der ganzen Schule denken – nicht an einen einzigen Schüler oder eine einzige Schülerin.“ Er seufzte schwer. „Allie, ich weiß, dass du in diesem Jahr sehr viel durchgemacht hast, und ich habe großes Verständnis sowie Mitgefühl für deine Situation, aber dein Verhalten muss Konsequenzen haben. Verstehst du das?“
Entweder verstand sie es nicht oder sie wollte es nicht verstehen, denn Allie blieb stumm und sah durch ihren Direktor einfach nur hindurch.
Sie blieb ebenfalls stumm, als Jesse diverse Dokumente erhielt, Papiere unterschrieb und mit ihr anschließend das Schulgebäude verließ, um sich auf den Weg zu seinem Auto zu machen, das auf dem Schulparkplatz stand. Jesse zerbrach sich den Kopf, was er tun und was er sagen sollte, um Allie klarzumachen, wohin ihr Verhalten sie gebracht hatte, aber ihm fiel nichts Passendes ein. Vielleicht war er dafür auch einfach zu wütend. Er befürchtete nämlich, sie jeden Moment anzuschreien, und bemühte sich sehr, sich im Zaun zu halten.
Leicht fiel es ihm jedoch nicht.
Sobald sie in seinem Auto saßen, verstellte Allie augenblicklich das Radio und suchte einen anderen Sender. Der Gangster-Rap, der durch seinen Ford Escape dröhnte, war eine Beleidigung für jeden Menschen mit einem Hauch Musikgeschmack. Ohne ein Wort zu sagen, schaltete er das Radio aus, und zum ersten Mal seit drei Monaten protestierte seine Nichte nicht lauthals, sondern lehnte sich in ihrem Sitz zurück.
Währenddessen fuhr Jesse vom Parkplatz und fädelte sich in den trägen Nachmittagsverkehr der Stadt ein. Obwohl auf der Straße keine Hektik herrschte, musste er sich auf den Verkehr konzentrieren, weil er noch immer wahnsinnig aufgebracht war. Nun ja, das war untertrieben, denn er war unglaublich wütend …
„Na, los“, forderte Allie ihn plötzlich auf. „Du willst mich anschreien, also fang an, wenn du dich dann besser fühlst.“
Seine Hände krallten sich um das Lenkrad, und ein heißes Prickeln schoss über seine Kopfhaut, während sein Hals anschwoll. Dennoch nahm er sich vor, sie nicht anzuschreien. Stattdessen dachte er daran, wie er vor drei Monaten nach Vermont geflogen war, um dort ein Häufchen Elend vorzufinden, das drei Tage nicht aus seinem Zimmer gekommen war. Daran sollte er denken und nicht daran, was sie heute angestellt hatte.
Er würde Allie nicht anbrüllen, auch wenn es ihm noch so schwerfiel, denn er war alles, was sie noch hatte. Sie war ein einsames, unglückliches Mädchen, sagte er sich – ein fünfzehnjähriges Mädchen, das bei seinem Onkel am anderen Ende des Landes leben musste, obwohl sie sich kaum kannten. Genau das musste sich Jesse immer und immer wieder vor Augen halten, wenn Allie ihn zur Weißglut trieb. Anstatt wütend zu werden, sollte er Verständnis zeigen.
Ja, das sollte er.
„Von wem hast du den Joint?“, hörte sich Jesse selbst fragen. „Von diesem Spike?“
„Nein.“
„Allie“, erklärte er warnend und wechselte dabei die Spur, weil er einen Block später rechts abbiegen musste. „Ich will die Wahrheit wissen.“
„Das ist die Wahrheit“, rief sie beleidigt. „Ich kenne Spike doch kaum.“
In der jetzigen Situation fand Jesse dies nicht sehr beruhigend. „Von wem hast du dann den Joint?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, wie er aus dem Augenwinkel sehen konnte. „Das geht dich nichts an!“
„Und ob es mich etwas angeht“, erwiderte er mühsam beherrscht. „Wenn meine Nichte Drogen nimmt, geht mich das ziemlich viel an!“
„Ich nehme keine Drogen!“
„Und warum hat man dann einen Joint bei dir gefunden? Einen Joint! Verdammt noch mal, du bist fünfzehn Jahre alt und solltest es eigentlich besser wissen!“ Mit seiner linken Hand fuhr er sich unbeherrscht durch sein kurzes lockiges Haar. „Was hast du dir nur dabei gedacht, Drogen mit in die Schule zu nehmen?“
Auf seine Frage antwortete sie nicht, sondern starrte regungslos durch die Frontscheibe auf die Straße.
Jesse spürte, wie er mit den Kiefern mahlte. Seine Erfahrung mit aufsässigen fünfzehnjährigen Mädchen war begrenzt. Früher hatte es Millionen fünfzehnjähriger Mädchen gegeben, die in ihn verliebt gewesen waren und die ihn angehimmelt hatten, aber mit keiner von ihnen hatte er sich darüber streiten müssen, wie lange sie abends ausgehen durfte, keine von ihnen hatte ihn angeblafft, wenn er sich nach ihren Hausaufgaben erkundigte, und keine von ihnen hatte sich stundenlang im Bad eingeschlossen, während er gegen die Tür hämmerte, weil er pinkeln musste. Dummerweise hatte seine Wohnung in Westwood nur ein Badezimmer.
Als er nach Los Angeles gezogen war, war er noch davon ausgegangen, allein dort zu wohnen, schließlich hatte sich Jenn geweigert, von Chicago wegzuziehen und sich in Kalifornien niederzulassen. Nicht, dass Jesse deshalb besonders niedergeschlagen gewesen wäre.
Aber das war ein Thema, das ihn momentan nicht besonders interessierte und über das er nicht nachdenken wollte, wenn seine Nichte gerade von ihrer Schule geflogen war und mit Drogen im Rucksack herumlief.
„Es war nur ein einziger Joint“, grollte Allie und riss ihn aus seinen Gedanken heraus.
„Und du meinst, dass das die Sache besser macht? Du bist von der Schule geflogen, Allie!“ Er bremste ab, als ein halsbrecherischer Fahrradfahrer seinen Weg kreuzte. „Weißt du überhaupt, was das bedeutet?“
„Mr. Tucker und Mr. Parker haben geradezu so getan, als wäre ich eine Schwerverbrecherin, die Drogen an kleine Kinder verkauft“, verteidigte sie sich erregt und gestikulierte mit einer Hand herum.
Jesse setzte einen Blinker. „Du hast einen Joint mit in die Schule gebracht, Allie“, erinnerte er sie.
„Ich hatte ihn noch gar nicht geraucht! Außerdem sind wir hier in Kalifornien“, protestierte seine Nichte. „Hier ist es sogar gesetzlich erlaubt, Marihuana zu rauchen!“
„Wenn man volljährig ist“, widersprach Jesse zornig „Was du noch nicht bist. Außerdem ist es nicht erlaubt, Drogen mit zur Schule zu nehmen! Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand!“
Allie schnaubte laut auf. „Tu nicht so scheinheilig, Onkel Jesse! Du hast bestimmt selbst schon einmal gekifft!“
„Wir reden hier nicht von mir!“
„Also hast du gekifft?“
Wieder knirschte er mit den Zähnen. „Das tut nichts zur Sache, aber ja – ich habe früher ab und zu einen Joint geraucht. Soll ich dir auch sagen, warum ich aufgehört habe?“ Er schluckte schwer und verengte die Augen, während er in Schrittgeschwindigkeit an einem Lastwagen vorbeifuhr, der auf der rechten Spur stand und etwas ablud.
„Lieber nicht …“
„Weil einer meiner besten Freunde drogenabhängig wurde und beinahe gestorben wäre“, erwiderte er, ohne ihren Einwand zu beachten, und fuhr gnadenlos fort: „Wenn du willst, kann er dir erzählen, wie ein Entzug funktioniert und wie es ist, nach einer Überdosis in einer Notaufnahme wach zu werden. Drogen sind kein Kinderspiel, Allie.“
„Es war nur ein Joint“, wiegelte sie merklich leiser und ruhiger ab.
„Ein Joint, der dir einen Schulverweis eingebracht hat!“
„Gut! Ich will sowieso nicht auf diese beschissene Schule gehen!“
„Und was willst du stattdessen tun?“, fuhr er sie an und ignorierte, dass er dieses Gespräch eigentlich ruhig hatte angehen wollen. „Hast du vergessen, dass du ohne einen Highschoolabschluss nicht aufs College gehen kannst?“
„Ausgerechnet du willst mit mir über die Schule und das College sprechen? Du bist mit siebzehn Musiker geworden und warst überhaupt nicht auf dem College!“
„Als ich Musiker wurde, hatte ich bereits meinen Highschoolabschluss und später war ich auf einer Abendschule“, widersprach Jesse aufgebracht. „Außerdem geht es hier nicht um mich! Ich wusste bereits mit siebzehn, was ich werden wollte.“
„Wer sagt denn, dass ich nicht weiß, was ich werden will?“
„Ach ja? Nach allem, was du in letzter Zeit angestellt hast, vermute ich, dass es dein Ziel ist, eine Karriere als minderjährige Mutter an der Seite eines Drogendealers zu machen und mit ihm in einem Wohnwagen zu hausen, wenn er dich nicht dazu zwingt, Hundekäfige sauber zu machen oder mit ihm von Schrottplatz zu Schrottplatz zu fahren“, fuhr er sie an, ohne darüber nachzudenken, und trat ein wenig zu hart auf die Bremse, als die Ampel vor ihm auf Rot schaltete.
Als er nach rechts sah, bemerkte er das Entsetzen in ihren Augen, die ihn derart unschuldig anblickten, dass er ein schlechtes Gewissen bekam. „Allie …“
„Du kannst mich hier rauslassen“, verkündete sie und griff nach ihrem Rucksack. „Ich fahre mit dem Bus nach Haus. Vielleicht schaffst du es dann noch zu deinem Termin.“
„Das kommt gar nicht infrage.“ Er knurrte förmlich. „Wir setzen unser Gespräch fort, und du fährst nirgendwohin mit dem Bus, weil du ab sofort Hausarrest hast.“
Wie nicht anders zu erwarten, protestierte Allie sofort und ballte dabei die Hände zu Fäusten. „Das ist unfair!“
„Unfair?!“ Vermutlich würde im nächsten Moment irgendein überlebenswichtiges Gefäß in seinem Kopf platzen, so sauer war er. „Unfair ist, dass ich deinetwegen schon wieder einen wichtigen Termin versäumt habe und dass ich anscheinend Gitterstäbe vor deinem Fenster anbringen muss, damit du nicht einfach mitten in der Nacht abhauen kannst. Und es ist unfair, dass ich jetzt vor dem Problem stehe, dich an einer anderen Schule unterzubringen, was sicherlich nicht leicht sein wird, wenn man bedenkt, wie viele Schwierigkeiten du auf der Jefferson High hattest!“
„Wieso schickst du mich nicht gleich in ein Heim?“, wetterte sie los. „Dann wärst du mich und meine Probleme los!“
Bevor er etwas erwidern konnte, riss Allie die Beifahrertür seines Autos auf und stürmte hinaus.