Zwanzig
Piper trug eine vollgepackte Einkaufstasche mit Süßigkeiten, Backmischungen und anderen Seelentröstern auf den Armen und sah, dass Jesse vor ihrem Wohnhaus stand, als sie wenige Meter entfernt war. Kurz blieb sie stehen und überlegte, ob sie einfach kehrtmachen sollte, aber er hatte sie bereits entdeckt, die Hand gehoben und winkte ihr lächelnd zu.
Das Lächeln gab sie nicht zurück, sondern straffte die Schultern.
Ausgerechnet ihn wollte sie jetzt nicht sehen.
Nicht nach dem beschämenden Interview, das er heute im Fernsehen gegeben hatte und bei dem er sie nur die Privatlehrerin meiner Nichte genannt hatte. Als er die Sexbombe mit der fantastischen Figur und der roten Löwenmähne mit seinem charmantesten Lächeln bedacht, mit ihr geflirtet und ihr dann gesagt hatte, dass Piper im Grunde ein Niemand war, hatte es sich angefühlt, als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen.
Nur die Privatlehrerin.
Nur eine Freundin.
Die Parallele zu Trevor, der sie verleugnet hatte, als es darauf angekommen war, war erschreckend.
Piper fragte sich, was mit ihr nicht stimmte, dass sie nie die Freundin eines Mannes war, wenn sich dieser zu ihr bekennen sollte. Wenn es unbequem wurde, war sie immer jemand Bedeutungsloses. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass sie für Jesse mehr sei als eben nur die Privatlehrerin seiner Nichte.
Offenbar hatte sie sich getäuscht.
Sie musste daran denken, was er ihr im Flugzeug gesagt hatte – damals nach ihrem ersten Kuss. Und sie dachte an das, was er ihr gesagt hatte, als er am Abend vor Weihnachten in ihr Zimmer gekommen war. War es da ein Wunder, dass sie durcheinander war?
„Da bist du ja“, begrüßte er sie gut gelaunt und kam ihr entgegen, als sie die letzten Meter bis zum Haus schlich.
Wie immer sah er blendend aus und zog die verspiegelte Sonnenbrille von seiner Nase, um sich zu ihr hinabzubeugen und ihr einen Kuss auf den Mund zu drücken. Anscheinend bemerkte er nicht, dass sie zurückzuckte, weil er ihr die Einkaufstüte abnahm. „Ich habe schon auf dich gewartet. Wenn ich gewusst hätte, dass du einkaufen gegangen bist, wäre ich mitgekommen. In unserem Kühlschrank herrscht nämlich Ebbe.“
Piper murmelte eine Erwiderung, weil sie sich nicht auf offener Straße mit ihm streiten wollte. Außerdem war er so gut gelaunt, dass Piper gar nicht wusste, was sie zu ihm sagen sollte. Es war klar, dass er keinerlei Schuld darüber empfand, was er heute im Fernsehen vor Millionen Zuschauern verkündet hatte. Jetzt war er hier und trug ihre Einkäufe in ihre Wohnung.
Am liebsten hätte sie ihn rausgeworfen, um allein zu sein und nachdenken zu können.
Von ihrer finsteren Stimmung bemerkte Jesse nichts, weil er ihre Einkaufstasche in die Küche trug, an ihren Kühlschrank ging, sich anschließend ein Glas Wasser eingoss, einen großen Schluck trank und ihr dann ungeniert den Po tätschelte.
Bis dahin hatte Piper nicht gewusst, was sie ihm sagen sollte, aber nun schoss es wütend aus ihr heraus. „Sag mal, spinnst du jetzt total?!“
Sein Kopf fuhr zurück, und er sah sie an, als wären ihr plötzlich zwei Köpfe gewachsen. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Das fragst du mich etwa?“ Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Gleichzeitig war ihr regelrecht übel vor Anspannung und Panik, weil sie mit jeder Sekunde, in der er vor ihr stand und sie aus seinen grünen Augen ansah, mehr und mehr wusste, wie verliebt sie in ihn war und wie sehr er ihr das Herz brechen konnte, wenn er in ihr wirklich nur Allies Privatlehrerin sah – eine Frau, mit der er gerne schlief, aber die ihm nichts bedeutete.
„Ja, das frage ich dich.“ Jesse stellte das Wasserglas beiseite und runzelte die Stirn. „Du scheinst böse auf mich zu sein …“
„Und du kannst dir nicht denken, warum?“, fauchte sie ihn an.
„Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen“, antwortete er ruhig. „Gestern Abend war zwischen uns doch alles in bester Ordnung, Piper. Da hast du mich noch nicht angesehen, als würdest du mir am liebsten eine scheuern, weil ich dir den Po tätschele. Im Gegenteil – du hast es gemocht, wenn ich das getan habe.“
Sie presste die Lippen aufeinander und verengte die Augen. Seinen Kommentar über ihren Po ignorierte sie. „Gestern Abend hast du auch nicht vor Millionen Zuschauern erklärt, dass ich ein Niemand bin, der dir nichts bedeutet.“
Verwirrt zwinkerte er, richtete sich steif auf und starrte sie ungläubig an. „Was …“
„Ich habe es gesehen, Jesse. Ich habe Let’s talk about … gesehen.“ Sie schluckte schwer. Jetzt war es raus.
Sein ungläubiger Gesichtsausdruck wurde fassungslos. „Deshalb bist du wütend?“
Sie schnappte nach Luft. „Natürlich! Soll ich etwa glücklich sein und mich darüber freuen, was du über mich gesagt hast?“
„Das war ein Interview, Piper.“
„Ja, das weiß ich, schließlich saß ich vor dem Fernseher!“
Jesse schüttelte den Kopf. „Du verstehst das Ganze nicht.“
„Ich glaube schon, dass ich es verstehe.“ Sie merkte, dass ihre Stimme zu zittern begonnen hatte. „Man hat dir eine Frage gestellt und du hast geantwortet.“
„Das ist das Showbusiness“, antwortete er erregt. „Du darfst nicht ernst nehmen, was dort gesagt wird!“
Bebend holte sie Luft. „Die Moderatorin hat dich nach mir gefragt, und du hast geantwortet, dass ich niemand Wichtiges bin. Du hast gesagt, dass ich Allies Lehrerin bin.“
Wütend runzelte er die Stirn. „Ich weiß, was ich gesagt habe!“
„Also stimmt es?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fühlte sich schrecklich angreifbar und verletzlich. „Ich bin nur Allies Lehrerin – mehr nicht?“
Jesse fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Ich kann nicht glauben, dass du dich wegen eines lächerlichen Interviews so aufregst, Piper. Diese Show und dieses Schrapnell von Moderatorin kann niemand bei Verstand ernstnehmen. Ich habe nur gesagt, was sie hören wollte.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, flüsterte sie ihm zu, während sie sich fragte, weshalb sie sich mit diesem Streit selbst quälte.
„Natürlich bist du nicht nur Allies Lehrerin!“
„Und warum hast du das nicht gesagt?“
Er sah aus, als würde er sich gleich das Haar raufen. „Piper, ich habe deshalb nichts gesagt, weil ich nicht will, dass mein Privatleben breitgetreten wird. Die Presse dichtet einem Affären an, die es nicht gibt, nur weil man einer Frau die Tür aufhält, und wenn man in einem Interview erzählt, dass man mit seiner Mom Graceland besucht hat, heißt es plötzlich, dass man Elvis’ uneheliches Kind ist!“
Das mochte Sinn ergeben, aber Piper konnte nur daran denken, dass er sie verleugnet hatte. Jesse hatte aus ihr jemanden gemacht, der ihm nichts bedeutete. „Du hast gesagt, dass du Single bist.“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich Single bin“, korrigierte er sie scharf. „Ich bin der Frage ausgewichen, habe aber keine definitive Antwort gegeben. So macht man das in diesem Geschäft, wenn man nicht will, dass gleich die ganze Welt über sein Privatleben Bescheid weiß.“
„Du hast mich verleugnet“, warf sie ihm leise vor.
„Verdammt noch mal, das habe ich nicht getan!“
„Und warum hast du dann gesagt, dass ich dir nicht wichtig bin?
Aufgebracht herrschte er sie an: „Was erwartest du denn, Piper? Hätte ich dieser Leichenfledderin von Moderatorin etwa erzählen sollen, dass wir beide vor ein paar Tagen miteinander geschlafen haben und noch gar nicht darüber geredet haben, was zwischen uns eigentlich läuft, aber dass ich dich sehr mag und oft an dich denken muss?“
Piper wich zurück.
Und Jesse setzte sofort eine zerknirschte Miene auf. „So habe ich das nicht gemeint! Ich wollte nur deine Privatsphäre schützen, Piper.“
„Nein, mit meiner Privatsphäre hatte es nichts zu tun. Du hast einfach nicht zu mir gestanden – wie Trevor damals. Und ich weiß jetzt auch, warum.“ Wieder hatte sie das Gefühl, einen Schlag in den Magen abbekommen zu haben.
„Du verdrehst mir die Worte im Mund und machst aus einer Mücke einen Elefanten“, grollte er zornig. „Und vergleich mich bitte nicht mit deinem Ex!“
„Wieso nicht?“, wollte sie wissen und merkte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. „Für ihn war ich ein Niemand und für dich bin ich das anscheinend auch – sonst hättest du es ja nicht in diesem Interview gesagt.“
Sie konnte sehen, wie sich seine Kinnlinie verhärtete. „Wir haben vor ein paar Tagen zum ersten Mal miteinander geschlafen, Piper. Wir lernen uns gerade erst kennen. Woher soll ich wissen, was das zwischen uns ist? Aber du hältst es für eine gute Idee, dass ich in einer Talkshow über dich rede, obwohl ich selbst nicht sicher bin, ob es zwischen uns funktionieren wird? Ist das wirklich dein Ernst? Du kannst dir genauso wenig sicher sein wie ich, dass es zwischen uns funktionieren wird!“
Ihr Magen sackte ins Bodenlose. „Eigentlich dachte ich bis gerade eben, dass wir beide sicher wären, dass es zwischen uns funktionieren würde.“