Zwei­und­zwanzig
Piper hatte gewusst, dass es ein Fehler sein würde, zu dieser Gala zu kommen.
Als Jesse sie eingeladen hatte, war sie sich zwar bewusst gewesen, dass diese Veranstaltung eine große Angelegenheit sein würde, bei der viele Promis der Stadt anwesend sein würden, aber da war sie auch davon ausgegangen, mit Jesse hinzugehen – als ein Date. Jetzt war sie nur die Begleiterin seiner Nichte. Sie war Allies Privatlehrerin, ganz wie er es aller Welt verkündet hatte. Und als diese kam sie sich absolut deplatziert vor, beim Schaulaufen der Schönen und Reichen dabei zu sein.
Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, den Silvesterabend allein zu Hause zu bleiben, weil sie erstens davon ausgegangen war, dass Jesse seine Einladung nach ihrem Streit sowieso zurückgezogen hatte, und weil sie zweitens Zeit und Ruhe brauchte, um ihre Wunden zu lecken. Aber Allie hatte alle verfügbaren Karten ausgespielt, um sie zu manipulieren. Als das Mädchen davon sprach, dass es ihr erstes Silvester ohne ihre Eltern sein würde und dass sie auch nicht hingehen würde, weil sie sich ohne Piper nicht trauen würde, war sie eingeknickt.
Natürlich wusste sie, dass Allie sie manipuliert hatte, aber in jener Situation hatte Piper einfach keine Kraft mehr gehabt, um Allie Widerstand zu leisten.
Deshalb hatte sie sich ihr schönstes Kleid angezogen, ein langes schwarzes Abendkleid mit einem tiefen Ausschnitt und einem Schlitz am Bein, sie hatte ihre Haare aufgedreht und sogar zu rotem Lippenstift gegriffen. Gegen die Promis, die edle Designerkleider trugen, ihren wertvollen Diamantschmuck präsentierten und stundenlang von einer Armada von Visagisten und Friseuren zurechtgemacht worden waren, konnte Piper natürlich nicht ankommen, aber das war auch nicht das Ziel ihres Abends.
Sie wollte die Veranstaltung lediglich hinter sich bringen und so früh wie möglich nach Hause fahren.
Vielleicht war diese Gala auch die Feuerprobe, die sie bestehen musste, bevor sie ab nächster Woche mit SpringBreak erneut auf Tour ging und Allie unterrichtete. Bei der Europatour war noch alles anders gewesen, weil sie Jesse nur aus der Ferne angehimmelt hatte. Dieses Mal würde es bedeutend schwieriger für sie sein, ständig in Jesses Nähe zu sein und Abstand zu ihm zu halten, obwohl sie in ihn verliebt war – und er nicht die gleichen Gefühle für sie hatte.
Schwierig war bereits die Fahrt bis in die Milk Studios gewesen, weil Allie und Jesse sie in einer gemieteten Limousine abgeholt hatten. Jesse während der Fahrt gegenüberzusitzen, ihn anzusehen und nicht mit ihm zu reden, war eine Tortur gewesen. Zwar hatte Piper ihm nichts mehr zu sagen, was nicht längst erwähnt worden war, aber das Schweigen zwischen ihnen war anstrengend. Da half auch Allie nicht, die fröhlich vor sich hinplapperte und in ihrem kurzen, grünen Kleid mit dem ausgestellten Tüllrock ganz bezaubernd aussah. Ihr Onkel war in seinem schwarzen Smoking eine absolute Augenweide und würde vermutlich die Blicke aller anwesenden Frauen auf sich ziehen. Piper auf jeden Fall konnte gar nicht anders, als ihn ständig anzustarren.
Und er starrte zurück.
Die gesamte Fahrt über schaute er sie an, ohne einen Ton zu sagen.
Piper bereute, dass sie keine Migräneattacke vorgetäuscht hatte, um zu Hause zu bleiben. Dieser Abend würde mit absoluter Sicherheit eine Katastrophe werden.
Als sie bei der Gala ankamen, bemerkte Piper mit Schrecken einen roten Teppich und ein regelrechtes Blitzlichtgewitter. Gefühlt Hunderte Fotografen standen hinter einer Absperrung und fotografierten die Gäste, die auf dem roten Teppich posierten, der von der Straße direkt in die Veranstaltungshalle führte. Wer hineinwollte, musste offenbar über den roten Teppich.
Sie erkannte Taylor, der zusammen mit seiner wunderschönen Verlobten in ein paar Kameras lächelte und anschließend jemandem mit einer Fernsehkamera ein kurzes Interview gab. Dann war da noch ein gewisser Schauspieler, der für seinen Modelverschleiß bekannt war und erst vor einem Jahr den Oscar gewonnen hatte.
Ganz unmöglich konnte Piper zusammen mit diesen Showgrößen über den roten Teppich laufen! Sie war nur Allies Privatlehrerin und würde den Lieferanteneingang nehmen, schwor sie sich.
Doch bevor sie Jesse und Allie darüber in Kenntnis setzen konnte, wurde die Tür geöffnet. Allie sprang fröhlich hinaus, gefolgt von Jesse, der aus dem Auto stieg, sich dann zu Piper umdrehte und ihr schweigend eine Hand reichte.
Sie starrte seine Hand an, sah ihm anschließend in die grünen Augen und ließ sich besseren Wissens von ihm aus der Limousine helfen. Ihr Herz raste und ihre Hand kribbelte, als Jesse sie berührte, während sie sich unglücklich fragte, ob sie sich in den letzten Tagen lediglich eingebildet hatte, dass zwischen ihnen mehr war als nur Sex. Er war so zärtlich und aufmerksam gewesen. Jesse hatte dieses süße Privatkonzert für sie gegeben, in Löffelchenstellung mit ihr geschlafen und ihr persönliche Dinge anvertraut, über die er bestimmt nicht mit vielen Menschen sprach. Aber dann hatte er davon gesprochen, dass er gar nicht sicher war, ob die Sache zwischen ihnen funktionieren würde.
Das tat weh.
Es tat weh, weil Piper nicht eine Sekunde daran gezweifelt hatte, dass es funktionieren würde.
Sobald sie neben ihm stand, ließ er ihre Hand los und begrüßte eine Frau mit einem Headset, die am Rand des roten Teppichs stand und eine Liste in den Händen hielt.
Was sie sagte, bekam Piper nicht mit, weil dafür die Geräuschkulisse zu laut war, aber sie ging davon aus, dass diese Frau sie durch einen Hintereingang in die Veranstaltung schleusen würde. Niemand würde Fotos gebrauchen können, auf denen Piper zu sehen war und …
Jesse legte seine Hand auf Pipers unteren Rücken und schob sie einfach mit sich in Richtung roter Teppich.
Im ersten Moment war sie viel zu abgelenkt von den vielen Fotografen und der beeindruckenden Kulisse, dass sie zwei, drei Schritte mit ihm ging. Aber dann bemerkte sie, dass sie im Begriff war, über den roten Teppich zu laufen, und blieb abrupt stehen.
Auch Jesse blieb stehen und schaute sie an.
Piper schaute zurück und ahnte, dass sie wie ein erschrockenes Reh aussehen musste, das geradewegs in den Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos blickte.
Jesse sagte kein Wort. Er blickte ihr einfach nur tief in die Augen und ließ seine Hand, die gerade noch knapp über ihrem Po gelegen hatte, bis zu ihrer linken Hand wandern und verschränkte seine Finger mit ihren. Ganz sanft drückte er ihre Hand, forschte in ihren Augen und beugte plötzlich den Kopf zu ihr nach unten, um sie zu küssen. Zärtlich und fast keusch presste er seine Lippen für einen kurzen, endlosen Moment auf ihren Mund, lehnte sich wieder zurück und lächelte sie an.
Ihre Knie wurden weich, aber das hatte nichts mit etwaigem Lampenfieber zu tun, sondern mit der Tatsache, dass Jesse ihre Hand hielt und sie gerade geküsst hatte.
Noch immer hatte keiner von beiden ein Wort gesagt.
Piper schluckte schwer und raunte ihm zu: „Ich kann das nicht.“
„Was?“
Sie riss ihre Augen auf und nickte den Fotografen zu. „Das.“
Sein Lächeln war weich, beruhigend und galt nur ihr. „Ich bin doch bei dir.“ Seine Worte wärmten sie von innen.
„Jesse …“
„Ich habe einen Fehler gemacht“, bekannte er heiser. „Den möchte ich wiedergutmachen und der Frau, die ich liebe, beweisen, dass sie mir alles andere als unwichtig ist.“
Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Piper starrte Jesse an und fragte sich, ob sie sich womöglich verhört hatte. Seine Gesichtszüge, sein Blick und sein Lächeln sagten ihr jedoch, dass sie richtig gehört hatte.
„Was hast du gesagt?“, flüsterte sie ihm zu.
„Ich liebe dich.“ Jesse hob ihre Hand an seinen Mund und küsste zärtlich ihren Ringfinger. „Keine Moderatorin wird dich jemals wieder für Allies Privatlehrerin halten, sondern wissen, dass du zu mir gehörst.“
Ihre Augen begannen zu brennen, während ihr Herz Purzelbäume schlug.
„Bitte weine nicht“, flehte Jesse und drückte wieder ihre Hand.
„Ich kann nicht anders“, klagte sie wispernd. „Ich bin so glücklich.“
Sie schniefte, woraufhin Jesse leise lachend erwiderte: „Wenn du jetzt weinst, erzähle ich gleich der Presse, dass du früher in SpringBreak-Bettwäsche geschlafen und eine Puppe mit meinem Gesicht besessen hast.“
Piper schnappte leise nach Luft und grollte, während ihre Tränen schlagartig versiegten: „Das würdest du nicht wagen.“
Gleichzeitig zuckten ihre Mundwinkel, und sie hatte das Gefühl, vor Glück jeden Moment abheben zu können.
Mit seinem charmantesten Lächeln zwinkerte er ihr zu: „Wart’s ab!“