Was mir wichtig ist


DRUCK UND ANGST IM PROFIFUSSBALL

4. März 2019

Wie ticken wir eigentlich? Was treibt uns an? Was macht uns glücklich? Was macht uns wütend? Und wieso? Das interessiert mich, wirklich. Ich möchte das wissen und verstehen.

In den ersten Jahren als Fußballprofi in Dordrecht und Almelo hatte ich viel Zeit nachzudenken, über mich und andere. Irgendwann wurde daraus der Wunsch, dieses Interesse auf eine professionelle Basis zu stellen.

Ich habe mich schon immer für Menschen und die Beweggründe ihrer Handlungen interessiert. Ferndiagnosen wie: „Der Spieler lacht ja gar nicht beim Torjubel, bestimmt will er damit seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck bringen, dass er heute nicht in der Startelf stand“, regen mich auf. Das sind Fernsehfloskeln, Spekulationen für die Sensationsgier, ähnlich ärgerlich.

Ich wollte es genauer wissen und mehr erfahren, als diese Floskeln hergeben. Meine Mitspieler besser verstehen, meinen Trainer, meine Freunde.

In der Zeit, als ich in Almelo spielte und in Gronau wohnte, machte ich einen Termin bei der Studienberatung in Münster. Ich wollte wissen, inwiefern sich ein Psychologiestudium an der Uni Heidelberg mit dem Job als Fußballprofi verbinden ließe. Die Antwort aus Münster: „Du kannst das als Topsportler gerne machen, aber wir sind nicht so flexibel.“ Die Uni Heidelberg war natürlich gleich mal eine große Adresse, so als würde ich den FC Bayern bitten, nebenbei ein bisschen mittrainieren zu dürfen. In Heidelberg hatte man Präsenztermine, Vorlesungen, feste Klausuren. „Nebenbei“ war da nicht. Und zwischen Gronau und Heidelberg liegen schlappe 400 Kilometer.

Ich verabschiedete mich von dem Gedanken, irgendwo „normal“ zu studieren. Das war schwer möglich. Ich konnte nicht am Montagmorgen zur Uni, dann kurz zum Training und dann wieder in den Hörsaal. Fürs Erste legte ich das Thema Studium ad acta, hielt aber die Augen nach Alternativen auf.

Im Frühjahr 2018 hatte ich ein sehr belastendes erstes halbes Jahr in Bergamo hinter mir, wenig Spielzeit, wenige Gespräche, viele Sorgen, als ich im Internet auf die Seite des Instituts für Lernsysteme ILS stieß, „Deutschlands größter Fernschule“. Über einen Grundkurs Psychologie hieß es dort: „Ob Sie Ihre beruflichen Kompetenzen um psychologisches Know-how ergänzen möchten oder es Ihnen um eigene Aspekte, wie beispielsweise einer Verbesserung der seelischen Gesundheit oder der gezielten Förderung von Stärken geht…“ – genau darum ging es mir. Um das Verständnis und die Einordnung meiner eigenen Situation und wie ich daran arbeiten könnte. Der Grundkurs bot darüber hinaus die Chance, einen Überblick über das weite Feld der Psychologie zu bekommen. Ein grobes Basiswissen. Mehr musste es erst einmal gar nicht sein. Das Leben als Fußballprofi ließ ein Studium auch gar nicht zu.

Ich meldete mich an, und im Februar 2018 ging es los. Der Kurs war normalerweise auf 14 bis 16 Monate ausgelegt, weil ich ihn aber so spannend fand und mich reinhängte, war ich schon im Dezember durch. Ich erhielt ein Zertifikat, aber viel wichtiger: Ich wusste jetzt, dass Psychologie zu hundert Prozent mein Ding war, genau das richtige Fach für mich. Ich wollte mein neu erworbenes Wissen unbedingt vertiefen. Und einen richtigen Abschluss erlangen. Es musste doch die Möglichkeit geben, in Bergamo Fußball zu spielen und Vorlesungen online zu besuchen. Wir lebten im Jahr 2018. Da sollte es keine Rolle spielen, wo ich den Vorlesungen lauschte, ob in Dubai auf dem Rücken eines Kamels oder in meiner Wohnung in Bergamo. Ich wollte kein Studium in Bergamo beginnen, denn wenn Atalanta irgendwann einfiel, mich zu verkaufen, hätte ich damit nicht viel gewonnen.

Nicolas Haas war meine Rettung, ohne ihn wäre ich kaum klargekommen in Italien. Er war ein Teamkollege aus der Schweiz, zwei Jahre jünger als ich und genau wie ich ohne Freundin und Familie nach Bergamo gezogen. Wir halfen uns im ersten Jahr gegenseitig, wenn der andere mal wieder ein Tief hatte. Zum Ende der ersten Saison, als ich mitten in meinem Grundkurs an der ILS steckte, erzählte mir Nico, dass er ein Psychologiestudium anfangen wolle. „Ey, geil“, sagte ich, „wo machst du das? Ich denke da auch schon die ganze Zeit drüber nach.“

So kam ich an die SHR Fernhochschule, die sich „The Mobile University“ nennt, mit 21 Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie war, durchaus wichtig zu erwähnen, eine Privatschule, also kostenpflichtig. Aber, auch wichtig zu erwähnen, ein bisschen Geld hatte ich als Fußballer ja durchaus zur Verfügung. Weil die SHR eine Privatschule war, entfiel der Numerus clausus, der beim Studiengang Psychologie normalerweise im Einser-Bereich lag – mit meinem Zweier-Abitur schwierig. Das passte also auch. Aber das Wichtigste stand fett auf der Startseite: Fernstudium.

Bei einem telefonischen Beratungsgespräch zeigte sich, dass die SHR das perfekte Paket für mich hatte. Gewisse Präsenztermine, wie zum Beispiel Klausuren, durfte ich in Italien erledigen. Ich musste dafür lediglich eine deutsche Schule oder die Botschaft aufsuchen. Alle anderen Dinge wie Vorlesungen wurden über einen Online-Campus abgewickelt. Es gab nicht mal einen bestimmten Zeitraum, in dem ich das Studium schaffen musste, einzige Vorgabe war, dass ich sechs Semester zu absolvieren hatte. Ob ich diese sechs Semester aber, wie ursprünglich vorgesehen, in drei oder in sechs Jahren hinter mich bringen würde, spielte keine Rolle.

Der Fisch war am Haken und schnell auch im Netz. Ich schrieb mich ein, überwies die erste Rate, und seit dem 4. März 2019 bin ich Student der Psychologie.

Ich möchte an dieser Stelle niemanden damit langweilen, wie genau das Fernstudium aussieht und was für Kompetenzfelder ich zu belegen habe. Wie jedes Kompetenzfeld noch mal in einzelne Modul aufgeteilt ist und wie ich mich auf die erste Klausur zur Historie der Psychologie vorbereitet habe. Wie die Grundlagen der Psychologie aussehen und wie furztrocken es beim wissenschaftlichen Arbeiten zugeht. Wie mir die Corona-Quarantäne half, diesen elendigen Teil mit Stochastik und Statistiken hinter mich zu bringen. Wie ich belegen musste, ob die Psychoanalyse von Sigmund Freud valide oder objektiv ist …

Weil die Vorlesungen virtuell waren, entfiel selbstredend auch das Studentenleben, weshalb ich leider nicht von einer „Ersti-Woche“ mit Schnitzeljagden und wilden Partys berichten kann. Nicht mal eine Vorstellungsrunde gab es, lediglich eine wahrscheinlich automatisierte Mail des Studienleiters: „Herzlich willkommen und viel Spaß.“ Die ersten Monate verliefen relativ schleppend, weil parallel zum Studium auch ab und zu Fußball gespielt werden musste. Und seit September 2019 ja auch noch international. Es gab deshalb immer wieder Momente, in denen ich mich fragte, warum ich mir diesen Stress überhaupt antat. Ja, schon klar. Ein Fußballspieler, der über Stress redet. Vielleicht sagt ihr jetzt: „Der muss doch nur kurz zum Training und kann dann wieder aufs Sofa!“ Stimmt ja auch. Auf dem Blatt Papier hat ein Fußballprofi keinen stressigen Alltag. Eine oder zwei Trainingseinheiten am Tag, vielleicht noch eine Besprechung, und das war es. Die Zeit, zu studieren, ist auf jeden Fall da. Meistens muss man einfach nur den Arsch hochkriegen. Zur Wahrheit gehört aber auch das Drum und Dran. Natürlich „arbeiten“ wir letztlich nur die 90 Minuten auf dem Platz, aber dazu kommen die Reisen, das Training und die Vorbereitung. Das Kofferpacken und Umgewöhnen. Die körperliche Erschöpfung wirkt sich auf den geistigen Zustand aus. Manchmal bist du einfach so kaputt und fertig, dass du nicht in der Lage bist, dich für zwei oder drei Stunden an den Schreibtisch zu setzen, um über die Geschichte der Psychologie zu lesen.

Aber natürlich kam auch danach Atalanta weiterhin an erster Stelle. Die erste Reise zum Champions-League-Spiel nach Zagreb wollte ich nicht mit Sigmund Freud oder Albert Ellis und seiner Verhaltenstherapie verbringen. Und auch nicht die Reisen danach. Wir sind so viel unterwegs, dass ich oft nicht die Muße habe, groß zu pauken. Man kann auch sagen, ich bekomme den Arsch oft nicht hoch.

Das ist aber nicht schlimm, denn ich muss ja lediglich sechs Semester absolvieren, in welcher Zeit, ist ja wie gesagt egal. Ich habe das Studium noch nicht eine Sekunde lang bereut. Sobald ich fertig bin – der Zeitpunkt wird früher oder später kommen –, ist der Master fest eingeplant. Momentan versuche ich mich in Richtung Klinische Psychologie und Diagnostik zu spezialisieren. Hier geht es darum, Krankheitsbilder zu erkennen, zu diagnostizieren und den Menschen mit der richtigen Therapie zur Seite zu stehen. Mein großer Traum ist es, nach der Karriere als Fußballer eine Praxis zu eröffnen und Menschen zu helfen, insbesondere Sportlern, die mit Druck und Angst konfrontiert sind.

Ich könnte mir vorstellen, in dieser Hinsicht mit Bundesligavereinen zusammenzuarbeiten. Denn der Fußball schreibt oft so schöne Geschichten, dass die schlimmen gerne übersehen, versteckt oder verschwiegen werden. Es gibt Dinge auf und neben dem Platz, mit denen ich mich nicht anfreunden kann und werde. Und über diese Dinge möchte ich reden. Um eins gleich klarzustellen: Ich verstehe mich hier nicht als Sprachrohr aller Fußballer, sondern möchte einfach nur persönlich etwas loswerden.

Ich bin mir dessen bewusst, dass vieles in diesem Buch polarisieren dürfte und Diskussionen auslösen könnte – das ist auch völlig okay und sogar gut! Ich gebe bewusst viel von mir preis, weil es mir auf dem Herzen liegt, mir sehr wichtig ist und mich belastet. Deswegen würde ich mir wünschen, dass die Offenheit im Umgang mit den Themen nicht für eine möglichst große Schlagzeile missbraucht, sondern ernst genommen wird und vielleicht zum Nachdenken anregt.

Im Fußballgeschäft sind sehr viele Augen auf die Spieler gerichtet, eben weil sich sehr viele Menschen für Fußball interessieren. Und weil viel Geld in diesem Geschäft fließt, ist ständiger Druck Normalität. Die Spieler müssen in der Lage sein, diesen Druck auszuhalten. Das betrifft zwar nicht nur Fußballer. Jeder Mensch kennt Drucksituationen. Sei es der Viertklässler vor einer Mathearbeit, der Chirurg vor einer Operation oder die Eltern, die Verantwortung für ihre Kinder haben. Druck ist, davon bin ich überzeugt, in gewissem Sinn sogar positiv, damit To-do-Listen abgearbeitet werden. Man denke nur an Schularbeiten oder Hausarbeiten. Ich persönlich brauche den Druck vor einem Fußballspiel. Mir gefallen die Anspannung und der positive Stress. Sie sind die Voraussetzung, um Höchstleistung zu bringen.

Um was es mir hier aber geht, ist eine andere Art von Druck, der negative Druck von außen, sei es von der Presse, von sozialen Medien oder von anderen Menschen. Den können wir nicht beeinflussen, und der kann einen kaputtmachen. Nur sieht das leider selten jemand, weil zumindest im Fußballgeschäft kaum darüber geredet werden darf. Die Sichtweise der Öffentlichkeit ist gemeinhin, dass Fußballer eine Wagenladung voll Geld bekommen und deshalb alles runterschlucken und akzeptieren müssen. „Was beschwerst du dich? Du fährst doch gleich nach Hause, legst dich in deinen Jacuzzi und hast die Niederlage schon wieder vergessen, die uns Fans so lange quält!“ Aber Fußballer sind keine Maschinen, die auf Knopfdruck funktionieren. Es sind Menschen mit Emotionen, mit Problemen. Auch dem ach so reichen Fußballer geht es einfach mal beschissen. Auch ich streite mich mit meiner Freundin und bin mit dem Kopf vielleicht nicht immer bei der Sache. Auch ich habe einfach mal einen schlechten Tag.

Der Druck von außen wird durch soziale Medien immer schlimmer, mitunter unerträglich. Was denkt sich User XY dabei, wenn er schreibt, was für ein „Hurensohn“ ich sei, der „sterben soll“, weil er „viel zu schlecht für Atalanta“ ist? Wo ist da die Hemmschwelle? Das ist gleichzeitig derjenige, der mich nach einem Foto oder Autogramm fragt, wenn ich ihm auf der Straße über den Weg laufe. Aber hier, im Internet, hat er die größten Eier der Welt, weil er sich hinter seinem Profil verstecken kann.

Sowas will ich nicht einfach akzeptieren, nur weil ich unverhältnismäßig viel Geld verdiene. Ich kann nichts dafür, dass in diesem Geschäft Verträge gemacht werden, bei denen mir selbst schwindelig wird. Ich kann nur dafür sorgen, dass ich jeden Tag mein Bestes gebe, um diesem Geld in irgendeiner Form gerecht zu werden.

Aber was passiert, wenn ich öffentlich beklage, dass Menschen im Internet auf mir herumhacken und meine Familie bedrohen, weil wir gerade ein Spiel verloren haben? Dann werde ich schief angeschaut. „Sag mal, hast du nicht andere Sorgen als solche Internet-Helden?“ Na klar. Aber das belastet mich, ich möchte mir das nicht gefallen lassen. Jetzt rede ich schon mal über so ein Thema, und ihr nehmt mich gar nicht ernst. Es fehlt die Sensibilität für das Thema, es fehlt das Bewusstsein dafür, dass uns Spieler solche Nachrichten oder Berichte aus den Zeitungen zerfetzen können und bewirken, dass wir noch schlechter spielen, weil der Druck dadurch stetig steigt. Es muss Kritik geben, weil sie dabei hilft, sich als Person und als Spieler weiterzuentwickeln, aber wenn diese exzessiv und unter der Gürtellinie ist, muss man in meinen Augen auch mal eingreifen. Natürlich stehen wir in der Öffentlichkeit und müssen mehr aushalten, völlig zu Recht. Aber was ist denn, wenn wir den Spieß mal umdrehen und ich den Reporter nach einem hochemotionalen Spiel frage: „Was bist du denn für eine Flasche? Du hast 90 Minuten Zeit, dir dieses Spiel anzugucken und vernünftige Fragen zu formulieren, und dann kommst du mir hier mit so einem Durchfall um die Ecke, auf den ich antworten soll. Du bist kein Journalist, sondern Abfall, du kannst deinen Job nicht.“ Dann möchte ich mal sehen, wie so ein Reporter darauf reagiert und ob es ihn tangiert. Vermutlich wird er es genauso machen wie wir Spieler: Er versucht, es wegzulächeln und zu überspielen. Aber innen, ungefähr an der Stelle, wo sich das Herz befindet, zerbricht in so einem Moment etwas. Und das zu reparieren, ist gar nicht mal so einfach, weil so was nichts mehr mit Kritik zu tun hat, sondern beleidigend und respektlos ist. Und egal, wie viel oder wenig Geld jemand verdient – so sollte man nicht miteinander umgehen. Schlechtes Spiel hin oder her, schlechte Fragen hin oder her, das Dokument falsch abgeheftet hin oder her. Das hat auch nichts mit Gejammer zu tun, sondern soll einfach darauf aufmerksam machen, wie sehr Worte manchmal schmerzen können. Und vielleicht denkt der eine oder andere ja mal an das, was ich hier schreibe, wenn er kurz davor ist, jemandem etwas Verletzendes zu überbringen.

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Spieler sich nicht trauen, öffentlich über Probleme zu sprechen, weil ihnen dann sofort unterstellt wird, dass sie mit Druck nicht klarkommen würden. Sie glauben, dass potenzielle Arbeitgeber zurückschrecken, weil sie sich diese Probleme lieber nicht ans Bein binden wollen. Deswegen halten die Spieler lieber den Mund und fressen die Probleme in sich hinein. Sie trauen sich nicht mal, innerhalb ihres Vereins über Probleme zu reden. Das fängt nicht erst bei Druck oder Angst an, sondern bereits bei ganz alltäglichen Dingen, einer kriselnden Beziehung etwa oder wenn ein Familienmitglied krank ist. Dabei müsste es doch ein Anliegen des Vereins sein, Bedingungen zu schaffen, dass die Spieler ihre Bestleistung abrufen können. Keine Arbeit macht Spaß, wenn der Kopf nicht frei ist. Und im Fall von Druck und Angst geht es nicht um Spaß, sondern um Gesundheit.

Wenn ich im Kopf nicht frei bin, werde ich auch keine Topleistung auf dem Platz bringen. Im Gegenteil: Dann werden meine Leistungen immer schlechter, der Verein unzufriedener und die Kritik der Öffentlichkeit immer größer. Aber von außen sieht niemand, warum ich gerade so eine Scheiße spiele. Und nicht mal der Verein weiß es, weil er sich keine Zeit für mich nimmt. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: In meinem ersten Jahr in Bergamo wuchs mir die Situation so manches Mal über den Kopf. Ich spielte nur selten, saß allein in meiner Wohnung und sah meine Freundin oder meine Familie nur alle zwei, drei Monate. Ich verstand die Sprache kaum und schaffte es oft nicht, den Anweisungen im Training zu folgen. Was hätte es Atalanta, und speziell Gian Piero Gasperini, gekostet, mich kurz zur Seite zu nehmen und fünf Minuten mit mir zu reden? „Robin, irgendwas läuft doch hier noch nicht rund. Warum? Wie geht es dir eigentlich?“ Vielleicht bin ich ja zu naiv. Ich wurde nie auf dieses Business vorbereitet, konnte nie die Erfahrung als Jungprofi in einem Nachwuchsleistungszentrum sammeln. Vielleicht habe ich einfach ein falsches Bild von der Fußballwelt.

Trotzdem sage ich: Es hätte niemanden auch nur einen Cent gekostet, das Gespräch mit mir zu suchen. Mir hätte es so gutgetan, zu sehen, dass jemand da ist, der sich um mich sorgt, dem es ist nicht egal ist, was mit mir passiert.

Ich bin kein Footballfan, aber im September 2020 las ich folgende Geschichte. Dak Prescott, der Quarterback der Dallas Cowboys, des wertvollsten Sportteams der Welt, hatte noch keinen neuen Vertrag für die neue Saison, seine Zukunft war offen, als er seinen Bruder verlor. In einem Interview teilte er mit, wie er mit dieser Situation zu kämpfen habe und dass er an Depressionen leide. Er redete ganz offen darüber. Einen Tag später wurde Prescott dafür von einem bekannten TV-Kommentator angegriffen. Wie er es wagen könne, sich so zu entblößen? Er solle gefälligst sein Team anführen, das größte Team der USA! Wie sollten seine Teamkollegen jetzt noch Respekt vor ihm haben?

So ein bescheuerter Schwachsinn.

Das Gute an der Geschichte waren die Reaktionen auf den Kommentar. Fast alle stellten sich auf Prescotts Seite und verurteilten die Aussagen des Kommentators.

Vereine sollen ihre Spieler schützen. Ein großer Schritt wäre es schon, wenn sie ihnen zu verstehen geben würden: „Jungs, wenn ihr irgendwelche Probleme habt, kommt zu uns, redet mit uns.“ Das ist schon viel, mehr muss es erst mal auch gar nicht sein. Und im nächsten Schritt wäre es noch schöner, wenn ich auch öffentlich darüber reden könnte, was mich als Profisportler belastet, ohne dass in den Schlagzeilen danach das Wort „jammern“ auftauchte. Auch da wieder ein Beispiel: Per Mertesacker wurde mit Deutschland Weltmeister, mit Werder Bremen und dem FC Arsenal Pokalsieger, bestritt in seiner aktiven Karriere über 600 Spiele für Verein und Nationalmannschaft. Kurz vor seinem Karriereende erklärte Mertesacker im März 2018 in einem Interview, dass sich der ständige Druck im Profifußball bei ihm vor Spielen regelmäßig in Form von Brechreiz und Durchfall bemerkbar gemacht habe. Dass er mitunter froh gewesen sei, wenn er mal verletzt ausfiel und so eine „Auszeit“ bekam. Das tragische Halbfinal-Aus in der Verlängerung gegen Italien bei der WM 2006 empfand er damals als Erleichterung: „Ich weiß es noch, als wäre es heute. Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei.“ Zum Zeitpunkt des Interviews hatte ich gerade erst mit dem Psychologie-Grundkurs begonnen. Ich war völlig baff, ehrlich gesagt. Gefühlt zum ersten Mal sprach da ein aktiver Fußballer über die Sorgen, die ihn 15 Jahre lang fast wöchentlich begleitet hatten, und dann gleich so.

Was passierte? Natürlich griffen alle Medien das Thema auf, es war ja auch mehr oder weniger Neuland, was Mertesacker da betreten hatte. Viele zitierten ihn, sprachen von bemerkenswert offenen Worten. Aber es gab auch Leute, die die Intention dieses Interviews entweder nicht verstanden oder absichtlich fehlinterpretiert haben. RTL schrieb: „Mertesacker jammert über Druck im Profi-Fußball.“ Merte wurde als „Weltmeister von trauriger Gestalt“ bezeichnet. Auf Twitter ging daraufhin der Kommentar eines Users viral, der diesen Beitrag mit „Löscht euch“ kommentierte. Ich bin nicht bei Twitter, aber ich hätte diesen Kommentar sicherlich geteilt. Schlimm, dass Mertesacker über ein Jahrzehnt gewartet hat, um über seine Gefühle zu sprechen. Er sprach für all die Fußballer da draußen, denen es genauso ging oder geht wie ihm. Es wird immer Leute geben, die die Probleme eines Fußballers lediglich als die Probleme eines Fußballers sehen. Die nicht sehen wollen, dass die Millionen auf dem Konto eben keine psychischen Probleme lösen.

Seit ein paar Jahren spiele ich jetzt mit Josip Ilicic zusammen und würde behaupten, ihn einigermaßen gut zu kennen. Josip kam 2010 aus Slowenien nach Italien, spielte zunächst drei Jahre in Palermo, anschließend vier Jahre in Florenz, und seit 2017 ist er wie ich in Bergamo. Nach außen hin gibt er sich als starke Persönlichkeit, dabei nimmt er sich jede noch so kleine Angelegenheit sehr zu Herzen. Vor ungefähr zwei Jahren wurde Josip krank, bekam Atemprobleme und verpasste einige Wochen. Dann kam das Coronavirus. Josip, das wissen die wenigsten, wurde gleich zu Anfang positiv getestet und hatte nach seiner Quarantäne Angst, wieder mit uns zu trainieren, weil er sich nicht erneut anstecken wollte. Stattdessen versteckte er sich zu Hause. Die Öffentlichkeit fragte sich, was da los war. Josip hatte bis dahin eine unglaubliche Saison gespielt und allein im Achtelfinal-Rückspiel gegen Valencia vier Tore geschossen. In den Medien galt er als Heilsbringer, ohne den Atalanta es schwer haben würde. Aber Josip blieb zu Hause, weil er Angst hatte. Irgendwann setzte ein Idiot das Gerücht in die Welt, Josips Frau habe ihn betrogen, und deswegen sei er jetzt depressiv. Unfassbar. Wer schreibt so eine Scheiße? Was denkt man sich dabei? So belastet man einen Menschen, dem es eh schon schlecht geht, nur noch mehr. Seine Frau musste ihre Profile in den sozialen Medien löschen, weil sie Morddrohungen erhielt. Atalanta ging daraufhin schließlich an die Öffentlichkeit. Josip würde den Rest der Saison nach dem Re-Start aufgrund psychischer Probleme nicht spielen können, teilte der Verein mit.

Der anschließende Support war unglaublich. Die ganze Stadt, hatte man den Eindruck, schloss sich zusammen, um Josip zu unterstützen, ihm zur Seite zu stehen. Alle wünschten ihm eine schnelle Genesung. Endlich ging es mal um den Menschen und nicht um den Fußballer. Um die Gesundheit und nicht ums Geld.

Ich finde: Genau da müssen wir hinkommen. Wir müssen uns gegenseitig helfen, uns ermutigen, miteinander sprechen. Wir müssen uns Zeit geben, uns Fehler erlauben. Nicht nur Fußballern, sondern uns allen.