Kapitel 11


BERGAMO I

27. Mai 2017

Ich hatte gerade erst meinen Berater abgewimmelt, als mein Telefon erneut klingelte. Nico-Jan Hoogma, der Sportdirektor von Heracles, wollte wissen, ob ich zu Atalanta wechseln wollte oder nicht. Falls ich mich für einen Wechsel entscheiden würde, „müssen wir uns um einen Ersatz für dich kümmern.“ Ich antwortete: „Es tut mir sehr leid für die Million, die euch vielleicht durch die Lappen geht, aber so, wie das gerade läuft, kann ich es mir nicht vorstellen.“ Ich konnte diesem Transfer nicht zustimmen. Das war unmöglich. Nach der Rückkehr aus Mallorca hatte ich mich auf ein wenig Ruhe gefreut. Ganz ehrlich, über einen Wechsel hatte ich nach wie vor nicht nachgedacht. Meinen Berater war ich zwar losgeworden, doch das Thema erwies sich als hartnäckiger.

Ein paar Tage später stand ich mit Mike und Marco, meinen besten Freunden, bei Marco im Garten vor der Dartscheibe. Ich hatte die beiden in die Geschehnisse der vergangenen Tage eingeweiht und mal wieder hochgezogene Augenbrauen als Reaktion geerntet. Mein Handy vibrierte. +39-Vorwahl. Keine Ahnung, wer das war. Ich ignorierte den Anruf. Es musste schon ein zweites Mal klingeln, damit ich nachschaute, zu welchem Land diese Vorwahl gehörte. Überraschung: Italien.

Beim dritten Mal ging ich ran. „Ciao, ciao, ciao.“ Ich legte sofort wieder auf. Das musste irgendwer von Atalanta sein, aber ich war wie gelähmt und nicht bereit für ein Gespräch. Die Situation überforderte mich, das Ganze war zu viel für mich. Der Anrufer probierte es wieder und wieder. Schließlich schaltete ich mein Handy in den Flugmodus. Mike, Marco und ich taten so, als wäre nichts passiert, und spielten weiter Darts.

Am Nachmittag fuhr ich nach Hause. Auf dem Parkplatz vor unserem Haus schaltete ich den Flugmodus aus. Genau in diesem Moment rief der Kerl wieder an. Ich gab mich geschlagen und nahm ab. Der Motor lief noch, mein Handy war auf Lautsprecher gestellt. Mama und Papa hatten im Garten gesessen und mitbekommen, dass ich wieder da war. Sie kamen zum Auto und wurden so Zeugen des Gesprächs. Wieder sagte der Mann mindestens 20-mal „Ciao“. „Ciao, Robin, ciao, ciao, ciao. Ci sei?“ Ich konnte kein Italienisch. Heute weiß ich, dass er fragte, ob da wirklich Robin Gosens am Telefon war.

„Hallo, was? Hier ist Robin Gosens“, antwortete ich auf Deutsch. Am anderen Ende raschelte es kurz. „I give you wife.“

Was war hier los? Vielleicht könnte sich der Mann, von dem ich annahm, dass er irgendwas mit Atalanta Bergamo zu tun hatte, ja auch mal vorstellen. Eine Frau meldete sich zögerlich. „My husband want to know: you come to Atalanta or not?“ Der Anruf kam von Giovanni Sartori, dem technischen Direktor von Atalanta. Seine Frau war so freundlich, als Übersetzerin auszuhelfen, denn Giovanni sprach kein Wort Englisch.

Beide wussten natürlich nicht, was für eine Tortur die vergangenen Tage für mich gewesen waren. Offenbar hatte mein ehemaliger Berater meine letzte Nachricht, nämlich die, dass der Wechsel aus meiner Sicht geplatzt sei, gar nicht weitergeleitet. Giovanni dachte wahrscheinlich, dass ich mich in den vergangenen drei oder vier Tagen nur deshalb nicht gemeldet hatte, weil ich Zeit zum Nachdenken brauchte. Also versuchte er mich anzurufen. Exakt 34 Mal.

Ich versuchte, seiner Frau zu erklären, dass ich nicht zu einem Verein wechseln konnte, den ich gar nicht kannte, und über den ich keine Informationen hatte. Und ganz sicher würde ich keinen Vertrag unterschreiben, den ich noch nicht einmal gesehen hatte. Ich hörte Geflüster auf Italienisch. Wahrscheinlich wurde meine Nachricht gerade übersetzt. Dann war sie wieder dran: „Wenn nur das das Problem ist, kannst du doch dieses Wochenende vorbeikommen, unser Spiel anschauen und dir selbst ein Bild machen.“

In der Serie A stand der letzte Spieltag an. Atalanta konnte noch Vierter werden, musste dafür aber im abschließenden Heimspiel gegen Chievo Verona gewinnen und gleichzeitig auf eine Niederlage von Lazio Rom in Crotone hoffen. So ein Besuch klang für mich nach einem sehr guten Plan. „Sollen wir dir einen Flug von Freitag bis Sonntag buchen?“, fragte Frau Sartori alias Herr Sartori. „Du nimmst deinen Vater mit, lernst erst mal die Stadt kennen, und am Samstag schaut ihr euch ganz in Ruhe das Spiel in der Loge an. Danach arrangieren wir für dich einen Termin beim Präsidenten und beim Trainer.“

Ja, verdammt noch mal! Genau das wollte ich doch die ganze Zeit. Meine ganze Stimmungslage änderte sich während dieses Telefonats komplett. Auf einmal wirkte Atalanta so nahbar, so realistisch. Auf einmal hatte ich wirklich Lust auf diesen Verein. Nur weil endlich auch mal jemand von diesem Verein mit mir sprach. Ich schaute zu Papa rüber, der genau wie Mama alles mitgehört hatte. Er hob den Daumen. Passt. Ich sendete dem Ehepaar Sartori über WhatsApp unsere Daten, ein paar Stunden später schickten sie uns schon unsere Flugtickets und die Hotelreservierung. Mama war ein bisschen sprachlos ob der Tatsache, dass ihr Sohn womöglich in ein fremdes Land ziehen könnte. Papa dagegen hatte sowieso meistens das Sportliche vor Augen und war dementsprechend begeistert über das Angebot. Ich erzählte Rabea von der überraschenden Wendung, mit der auch sie nicht gerechnet hatte. In dem Moment, glaube ich, fiel bei ihr langsam der Groschen. „Mist, der zieht jetzt vielleicht wirklich nach Italien.“

Meinen Berater wollte ich nicht mehr in die Sache involvieren. Papa wiederum war es wichtig, noch eine dritte Person dabei zu haben, die verhandeln konnte und sich mit Zahlen besser auskannte, als wir das taten. Der Freund eines Freundes meines Vaters hatte sich offenbar schon öfter um Spielerverträge gekümmert. Angeblich, das sagte mir dieser Kerl, den ich aus Gründen einfach Gustav nennen werde, hatte er Ahnung vom Geschäft und kannte sich aus. Das klang doch vielversprechend. Er würde von München aus nach Bergamo fahren und uns am zweiten Tag dort antreffen. Von da bräuchte man mit dem Auto knapp fünf Stunden.

Als schließlich das Wochenende vor uns lag und wir am Flughafen Düsseldorf angekommen waren, war von Papa nur noch ein Häufchen Elend übrig geblieben. Erst nachdem er den Daumen gehoben und der Reise zugestimmt hatte, hatte er realisiert, dass er noch nie zuvor in seinem Leben geflogen war. Er war panisch, schweißgebadet und völlig fertig. Während er sich zwei Beruhigungstabletten einpfiff, hatte ich den Spaß meines Lebens und filmte ihn nonstop. „Ey Papa, erster Flug! Freust du dich?“

Ich wollte das Wochenende möglichst gelassen angehen, ohne in allzu große Euphorie zu verfallen. Inzwischen ergab das Ganze immerhin einen Sinn, deshalb sollte es in aller Ruhe besprochen werden. In drei Tagen wäre ich schon sehr viel schlauer. Am Flughafen Milan-Bergamo wartete Gabriele Zamagna auf uns. Als Chefscout war er die treibende Kraft hinter meiner Verpflichtung gewesen, wie er uns auf der Fahrt vom Flughafen zum Vereinsgelände erzählte. 25-mal war er im vergangenen Jahr nach Almelo geflogen, um mich zu beobachten. Und ganz oft hatte ihn sogar Giovanni Sartori dabei begleitet. Er wusste alles über mich, konnte mir sagen, was ich wann wo falsch oder richtig gemacht hatte oder was ich noch verbessern müsste. „Was ich bei dir besonders cool finde, Robin: Dass du deine Mitspieler immer antreibst, dass du immer positiv bleibst, selbst bei einem Fehlpass.“ Ich war total beeindruckt. Dieser Mann hatte seine Hausaufgaben gemacht. Aber ich wollte ja nicht zu schnell zu euphorisch werden. Der erste Eindruck stimmte auf jeden Fall. Und mir wurde klar, dass dieser Verein tatsächlich sehr an meinen Fähigkeiten interessiert war.

Gabriele fuhr uns kurz zum Hotel, um die Koffer abzugeben, und dann zum Büro des Präsidenten in die Innenstadt. Ich hatte Luca Percassi vorher gegoogelt, damit ich wenigstens ein Bild von ihm vor Augen hatte. Er war Ende 30, 1,80 Meter groß und kahl. Er hatte das Hauptgeschäft gerade von seinem Vater Antonio übernommen, der im Grunde aber immer noch das letzte Wort hatte. Mehr wusste ich nicht, und Gabriele verriet mir leider auch nicht, auf was ich mich einstellen musste. Die Sekretärin brachte Papa und mich mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock zu Lucas Büro und führte uns direkt nach draußen auf eine kleine Terrasse. Ob wir einen Kaffee wollten, fragte sie. Nein, danke. Ich war sowieso schon aufgeregt, da wollte ich nicht noch zusätzlich ins Schwitzen geraten.

Nach wenigen Minuten in der Sonne kam Luca Percassi und stellte sich vor. Freundlich, aber bestimmend. Ein italienischer Geschäftsmann, wie er im Buch steht. „Robin, wir haben schon gedacht, das klappt nicht mehr“, sagte er zur Begrüßung in perfektem Englisch, „schön, dass du hier bist.“ Wir tauschten ein paar Nettigkeiten aus und lernten uns ein wenig kennen, doch Luca kam ziemlich schnell zur Sache. „Durch Gabriele weiß ich, dass du die richtige Mentalität mitbringst. Aber was mir ganz wichtig ist: Du musst sofort Italienisch lernen.“ Für ihn war es eine Frage des Respekts, die Landessprache zu beherrschen. Das sah ich ganz genauso.

Luca erklärte weiter, was er von mir erwarten würde, was auf mich zukäme und wie der Verein funktioniert. Atalantas Geschäftsmodell – wir nennen es mal so – sah vor, in der Regel junge und talentierte Spieler aus weniger bekannten Ligen auszugraben, zu fördern und mit Gewinn ein paar Jahre später zu verkaufen. Oder sie gleich aus der eigenen, landesweit berühmten Jugendakademie hochzuziehen. Wie zum Beispiel Mattia Caldara, der bei Atalanta groß geworden war und im Januar 2017 für fast 20 Millionen Euro an Juventus verkauft wurde. Diese Strategie hatte sich über die Jahre hinweg so gut bewährt, dass Atalanta inzwischen auch genug Geld auf der hohen Kante hatte, um selbst großzügig zu investieren.

Luca meinte, dass mir ein ähnlicher Weg bevorstand wie Mattia Caldara, wenn ich denn zu Atalanta wechseln und mich so weiterentwickeln würde, wie er sich das versprach. Er sagte das so locker nebenbei, als wäre es ganz normal, dass ich irgendwann mal 20 Millionen Euro kosten würde. Um ehrlich zu sein: So was Lächerliches hatte ich in meinen wenigen Jahren im Profifußball noch nicht gehört. Nichts gegen Luca, aber zu hören, dass ich, der mit Heracles Almelo sicherlich keine Sterne vom Himmel gespielt hatte, irgendwann mal solche Summen einbringen sollte, klang abenteuerlich. Fast schon absurd.

Nach rund 20 Minuten musste Luca schon zum nächsten Termin und verabschiedete sich. Am Wochenende würden wir uns wiedersehen. Vor dem Hotel sammelte Gabriele uns wieder ein und erkundigte sich, wie es gelaufen war. Gut, gut, sagte ich, immer noch ein bisschen beeindruckt. Im Auto schaute ich Papa an und sagte: „Das Erste, was ich mache, wenn ich hierherkomme, ist einen Italienischkurs zu belegen.“

Gabriele brachte uns zum Sportzentrum von Atalanta, einige Minuten außerhalb der Stadt in Zingonia. Während der Fahrt erzählte er uns von der Geschichte der Stadt. Ich nickte durchgehend, aber mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Am Sportzentrum von Atalanta stand neben einem großen Trainingskomplex und Sportplätzen auch ein Hotel, in dem die Profis immer die Nacht vor einem Heimspiel verbrachten. Da wir am Freitagnachmittag dort ankamen und das Spiel gegen Chievo Verona am Samstag stattfand, waren die meisten Spieler schon auf ihren Zimmern. Gabriele führte uns über das Gelände und durch die Kabinen, wo Andrea Masiello und Papu Gomez Tischtennis spielten. Ich gab den beiden die Hand und brachte mein bestes Italienisch hervor: „Ciao, Robin.“ Für den Anfang nicht schlecht, wie ich fand. Auf der ersten Etage lag das Gym, in dem uns Athletiktrainer Gabriele Boccolini begrüßte. Gabriele tippte mir auf die Schulter. „Schau mal, draußen ist der Trainer. Leider keine Chance, dass der sich jetzt Zeit für uns nimmt.“

Ich schaute Gabriele überrascht an. Man sollte ja davon ausgehen, dass gerade der Trainer alles dafür tut, um einen potenziellen Neuzugang von seinem Team zu überzeugen. Dass er ihm Honig um den Mund schmiert, ihm sein Verständnis von Fußball erklärt und wie der Spieler in das System passt. Aber so war und ist Gian Piero Gasperini nicht. Gabriele versuchte es darauf zu schieben, dass sich der Trainer in seiner Spielvorbereitung im Tunnel befand und besser nicht gestört wurde.

Wenige Wochen später erfuhr ich den wahren Grund.

Die Tour ging weiter in den zweiten Stock, vorbei an den Büros der Marketing- und Ticketing- und Presseabteilung, hin zu einem großen Konferenzraum, in dem Giovanni Sartori auf uns wartete. Jetzt lernte ich also den Mann kennen, der mich am Telefon ein paar Tage zuvor nicht in Ruhe lassen wollte. Er hatte eine Taktiktafel unterm Arm und seinen Sekretär als Übersetzer an seiner Seite. Er empfing uns sehr herzlich und fing gleich an zu strahlen. „Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass du zu uns kommst, Robin. Ich habe unserem Präsidenten schon gesagt, dass wir einen Plan B benötigen.“ Dann begann er, mir auf der Taktiktafel zu zeigen, welches System Atalanta spielte und wie ich da reinpassen würde. Unter Gasperini spielte Atalanta stets in einem 3-5-2 oder 3-4-1-2. Was bedeutete, dass die Position, die ich nun ein Jahr lang gespielt und endlich gelernt hatte, hier gar nicht vorgesehen war. In Almelo hatte ich als Linksverteidiger in einer Viererkette gespielt. Bei Atalanta sollte ich als linker „offensiver“ Verteidiger im Mittelfeld auflaufen.

Vielleicht dazu eine kurze Erklärung. Im Tor steht – Überraschung – der Torwart. Vor drei Innenverteidigern, die sich auf einer Linie verteilen, laufen meistens drei zentrale Mittelfeldspieler auf, von denen zwei den defensiven Part und einer den offensiven übernimmt. Bei Atalanta gehörte das offensive Mittelfeld zum Beispiel Papu Gomez. In der Grundordnung dieses Systems bewegen sich auf Höhe dieser Mittelfeldspieler der linke – also ich – und der rechte Außenverteidiger, die im Gegensatz zu einem System mit einer Viererabwehrkette die ganze Seite übernehmen müssen. Vorne bilden zwei Stürmer eine Doppelspitze. So viel zur kurzen Taktikschulung. Anfragen für weitere Kurse bitte an robingosens@esreichtjetzt.de.

Ich unterbrach Sartori nur ungern. „Müsste mir nicht der Trainer die Taktik erklären?“ Mit dieser Frage hatte offensichtlich niemand gerechnet. Sartori und Gabriele schauten mich jedenfalls sehr überrascht an. „Ich würde gerne mit dem Trainer sprechen“, sagte ich. „Damit ich ein Gefühl dafür bekomme, wie er mit mir plant und wie ich ihn einschätzen kann.“ Sartori zögerte. „Eigentlich ist das bei uns nicht üblich, aber ich rufe ihn mal eben an.“ Gasperini kam tatsächlich. Ein mittelgroßer, eigentlich immer ernst guckender Mister, der mit seinem weißen und vollen Haar der ideale Coverstar für eine Pastawerbung wäre.

Er gab mir die Hand und meinte, dass er nur fünf Minuten Zeit hätte. Er redete los und das viel zu schnell. Ich verstand natürlich nichts, nickte nur und wartete auf die Übersetzung. Was Gasperini mir zu sagen versuchte: „Ich sehe dich für die linke Seite oder eine Position in der Dreierkette.“ Ohne eine Stammplatzgarantie. „Tutto a posto?“ Alles klar? Und weg war er.

Ein kleiner Vorgeschmack, aber die volle Dröhnung Gasperini kam noch. Keine Sorge.

So kurz und spontan sein Auftritt auch war, mir bedeutete er sehr viel. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob der Trainer wenigstens eine Ahnung hatte, wer ich bin, und dass er auch mit an Bord war, was meine Verpflichtung betraf. Natürlich stand ich auf seiner Prioritätenliste vermutlich irgendwo an Position vierzehn, aber immerhin: er kannte mich.

Damit war das Meeting beendet. Gabriele fuhr Papa und mich zurück zum Hotel. Großzügig, wie Atalanta war, bekam jeder sein eigenes Zimmer. Den Abend verbrachten wir in der Citta Alta. Bergamo ist ganz einfach in Alt- und Neustadt geteilt. Die Neustadt unten und den Berg hoch die malerische Altstadt mit ihren typisch italienischen Gassen und schmalen Häusern mit den Rechteckfenstern und den dunkelgrünen Fensterläden. Wir aßen Pizza und tranken Aperol. Als es etwas später und die Stimmung etwas gelöster wurde, fingen Papa und ich an zu reden. Also wirklich zu reden.

Wir hatten einiges aufzuholen. Über die Jahre hatte ich mich mit Papa immer gestritten, im Prinzip seit meinen Anfängen als Fußballer, als er mein Trainer war. Irgendwie hatten wir es immer wieder geschafft, andere Standpunkte zu vertreten und dabei viel zu emotional zu reagieren. Wir sind beide sehr impulsiv und rasselten wahrscheinlich deshalb so oft aneinander. Aber jetzt saßen da nur Vater und Sohn und redeten bis tief in die Nacht. Dieses Gespräch war mir noch wichtiger als all die anderen, die an diesem Tag schon geführt worden waren. Es tat gut, sich auszusprechen. Nicht dass wir sonst ein schlechtes Verhältnis gehabt hätten. Aber immer hatte es irgendetwas gegeben, das uns davon abgehalten hatte, offen miteinander zu reden. An diesem Abend war es anders. Wir schafften es, auszuräumen, was zwischen uns stand. Allein deswegen bin ich Atalanta schon unendlich dankbar.

Am nächsten Morgen traf Gustav aus München ein und frühstückte im Hotel mit uns. Wir kannten uns noch nicht wirklich, also wurden erst mal ein paar Standpunkte ausgetauscht und ein „Matchplan“ entworfen. Sollte es zu Verhandlungen kommen, musste der Mann ja wenigstens wissen, was wir uns ungefähr vorstellten. Doch das ließ ich Papa und ihn machen, ich wollte mich raushalten und nicht über Zahlen reden. Ich wusste, dass mein Vertrag im Gegensatz zu dem in Almelo etwas besser ausfallen würde. Und das reichte mir. Ich war nicht nach Bergamo geflogen, um finanzielle Forderungen zu stellen. Ich wollte, und so schließt sich der Kreis zu meinem ehemaligen Berater, nur einen Eindruck vom Verein und den Menschen hier gewinnen. Das, was mein ehemaliger Berater eigentlich hätte machen sollen, als ich ihn eine Woche zuvor losgeschickt hatte. Und so kompliziert war dieser Auftrag ja eigentlich nicht.

Gabriele rief an und unterbrach unseren Frühstücksplausch. Ob ich nicht schon mal die medizinische Untersuchung bei Atalanta absolvieren wolle. „Falls du dich entscheidest, zu uns zu wechseln, müsstest du dann nicht noch mal hierhin fliegen für diesen Check und nur noch die Verträge unterschreiben.“ Gute Idee. Ich nahm mir ein Taxi nach Zingonia. Der Test war keine große Sache und nicht so spannend, als dass ich ihn jetzt hier groß erklären müsste. Die Kurzfassung: viel laufen, viel messen, viele Schläuche und Drähte und Herzschläge und ein bisschen Blut abnehmen. Bis auf meine leichte Asthmaerkrankung war ich kerngesund und bestand den Medizincheck, durch den in der Regel auch nur Fußballer fallen, die chronische Verletzungen haben. Von Verletzungen war ich bis dato sowieso fast verschont geblieben. Auch das würde sich in Bergamo noch ändern.

Gegen 13 Uhr sammelte uns ein Taxi vor dem Hotel ein und brachte uns zum Stadion von Atalanta. Um 15 Uhr war Anpfiff gegen Chievo. Die Verantwortlichen hatten sich wieder nicht lumpen lassen und uns schöne VIP-Plätze in einer Loge reserviert. Das Stadion in Bergamo war zu dem Zeitpunkt noch sehr alt und sanierungsbedürftig und vor allem klein, aber ein Logenplatz hat irgendwie immer einen besonderen Charme.

Atalanta war von Anfang an die bessere Mannschaft, brauchte aber ein wenig Anlauf. Kurz nach der Pause schoss Papu Gomez das spielentscheidende 1:0. Damit stand Atalanta auf Platz vier, musste aber noch abwarten, wie sich Lazio am nächsten Tag schlagen würde. Zumindest der fünfte Platz und damit die Qualifikation für die Europa League war schon garantiert. Die Mannschaft wurde von den 20 000 Fans im Stadion ausgiebig gefeiert und ich spürte, dass diese Anhänger etwas Besonderes waren. Sehr laut und leidenschaftlich, aber vor allem dankbar. Atalanta war über Jahrzehnte ein Abstiegskandidat gewesen und hatte zwischendurch auch immer mal wieder in der zweiten Liga gespielt, eine klassische Fahrstuhlmannschaft eigentlich. Der kleine Klub stand stets im Schatten von Mailand und Turin. Dass dieser Verein jetzt die Chance auf den vierten Platz hatte, war vor der Saison fast unvorstellbar gewesen. Und wäre außerdem das beste Ergebnis in der Klubgeschichte.

Viel besser konnte ein Bewerbungsschreiben an mich also gar nicht aussehen. Papa und Gustav blieben nach dem Spiel noch für die Vertragshandlung im Stadion, ich ließ mich zum Hotel bringen. Für den Abend hatten uns die Klubbosse einen Tisch im besten Restaurant der Citta Alta reserviert – allerdings tatsächlich nur für uns allein. Ich war davon ausgegangen, dass sie auch dabei sein würden, stattdessen saßen Papa, Gustav und ich zu dritt am Tisch und sollten den letzten Abend mit einem Gruß des Hauses genießen. Falls sich ein Sportdirektor oder Manager unter den Lesern befinden sollte: Wenn ihr einen Spieler verpflichten wollt, macht es genauso wie Mister Sartori und Mister Percassi. Liebe geht eben immer noch durch den Magen.

Am Sonntagmorgen begaben sich Papa und Gustav für weitere Verhandlungen ins Büro des Sportdirektors am Vereinszentrum, ich schaute mich noch ein wenig in der Innenstadt um. Schließlich standen die Chancen gut, dass das hier mein Zuhause wurde. Als die beiden wiederkamen, waren fast alle Detailfragen geklärt. Ich hielt Nico-Jan Hoogma, den Sportdirektor von Heracles Almelo, auf dem Laufenden und sagte ihm, dass sich das Blatt im Vergleich zur Vorwoche gewendet hatte. Die Zahlen, die auf dem neu verhandelten Vertrag standen, würden bedeuten, dass ich mir für die nächsten Jahre finanziell auf jeden Fall keine Sorgen zu machen brauchte. Mehr will ich nicht verraten, außer vielleicht so viel: Diesmal hätte ich nicht drei Monatsgehälter für einen VW Scirocco gebraucht.

Gustav setzte sich ins Auto und fuhr zurück nach München, Papa und ich flogen nach Düsseldorf. Und ich war mir ziemlich sicher, dass ich meinen neuen Verein gefunden hatte. Der Vertrag sah sehr gut aus, das Stadion war cool, die Fans und der Verein sowieso, und auch die Stadt gefiel mir. Es gab eigentlich keinen Haken mehr. Bis ich mit Rabea sprach.

Das ganze Wochenende hatte ich so viel über das Sportliche und das Leben in Italien nachgedacht, dass ich für einen Moment vergessen hatte, was ein Wechsel nach Bergamo für Rabea und mich und unsere Beziehung bedeuten würde. Wir hatten uns immer gesagt, dass wir nicht für eine Fernbeziehung gemacht waren. Also eine richtige Fernbeziehung, bei der man sich nicht wie in Almelo jedes Wochenende sieht. Sollte ich nach Italien ziehen, könnte ich unmöglich sagen, wann und wie oft ich mal nach Hause kommen würde. Vielleicht alle vier Wochen, vielleicht auch nur alle zwölf, vielleicht auch nur einmal pro Halbjahr. Uns war das Risiko bewusst, dass die Beziehung einen Umzug nach Italien vielleicht nicht überstehen würde. Wir redeten und diskutierten viel, stritten nie, waren aber manchmal echt am Ende, weil keiner wirklich wusste, wie es weitergehen würde. Wir hatten einfach Angst, dass es schiefging.

Rabea musste, wollte und sollte ihr Studium in Bochum fortsetzen, aber ich musste, wollte und sollte eigentlich auch an meine Karriere denken. Ich bekam die womöglich einmalige Chance, in die Serie A zu wechseln, Europa League zu spielen und Italienisch zu lernen. Natürlich wäre das ein Riesenschritt. Ich könnte nicht mehr eben über die Autobahn in anderthalb Stunden nach Hause fahren. Jetzt bräuchte ich für die Anreise einen halben Tag oder ein Flugzeug. Die freien Tage würde ich wahrscheinlich mit einem Italienischlehrer verbringen und nicht mit meinen Jungs in Elten. Doch irgendwann musste man für so was als Fußballprofi wohl einfach bereit sein. Und ich fühlte mich bereit. Die Saison war in den meisten Ligen zwar gerade erst vorbei, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich noch ein besseres Angebot als das von Atalanta erhalten würde. Ich musste das machen. Ich musste an mich denken.

Ich rief Gustav an und teilte ihm meine Entscheidung mit. Er sollte die Nachricht weiterleiten und letzte Details klären. Wenige Tage später trudelte mein Vertrag per Mail ein. In Papas Büro druckte ich ihn aus, unterschrieb ihn, scannte ihn ein und schickte ihn zurück. Robin Gosens war ab dem 1. Juli 2017 offiziell ein Spieler von Atalanta Bergamo.

Rabea konnte meine Entscheidung verstehen. Sie gab mir sofort das Gefühl, dass wir es schaffen würden. Keiner dachte auch nur eine Sekunde darüber nach, die Beziehung zu beenden. Ja, es würde schwierig werden, aber auf keinen Fall wollten wir von vornherein aufgeben. Jetzt war erst mal Urlaub angesagt. Gemeinsam flogen wir nach Miami, um von dort eine zweiwöchige Florida-Rundreise zu starten. Niemand sprach es laut aus, aber wir wussten natürlich, dass die Zeit der Zweisamkeit danach vorerst vorbei war. In sechs Wochen musste ich meine Koffer packen und die Saisonvorbereitung mit Atalanta beginnen.

Zurück in der Heimat, fuhr ich mit meinen Eltern und meiner Schwester Chantal für vier Tage mit dem Wohnwagen nach Sankt Peter-Ording. Zu der Zeit hatte ich längst angefangen, an Bergamo zu denken und mir aus dem Internet italienische Grammatiktabellen heruntergeladen. Im Urlaub setzte ich mich oft allein an den Strand und fing an, eine neue Sprache zu lernen. Mir blieben nur noch zwei Wochen, und ich wurde zunehmend nervöser. Der große Tag rückte immer näher. Kurz vor meiner Abreise lud ich meine Familie und die engsten Freunde zu einer großen Abschiedsparty ein. Ich wollte noch einmal richtig einen draufmachen. Wer weiß, wann ich die Jungs und Mädchen das nächste Mal sehen würde.

Und dann war es soweit. Am Freitag, den 30. Juni 2017, ging der Flieger nach Milan-Bergamo. Am Montag stand das erste Training auf dem Programm. Bis dahin wollte Papa, der von Amsterdam aus anreiste, mir bei der Eingewöhnung und vor allem der Wohnungssuche helfen.

Mama und Rabea begleiteten mich zum Flughafen nach Düsseldorf, womit auch klar war, dass kein Auge trocken bleiben würde. Zum ersten Mal verschwand ich für eine längere Zeit, ohne dass jemand wusste, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen. Wir versuchten uns zusammenzureißen und nicht zu emotional zu werden. Das klappte natürlich überhaupt nicht. Ich hatte mir vorher geschworen, mich nicht umzudrehen, sobald ich die Sicherheitskontrolle passiert hatte. Wir drückten uns und schluchzten, ich überstand den Sicherheitscheck, setzte meinen Rucksack auf und wollte gerade um die Ecke biegen. Aber es ging nicht anders. Ich drehte mich noch einmal um und sah, wie sich Rabea und Mama weinend in den Armen lagen. Mit diesem Bild im Kopf stieg ich in den Flieger und startete ein neues Kapitel in meinem Leben.

Papa empfing mich in Bergamo. Wir hatten uns für das Wochenende ein Hotel in der Stadt gebucht und wollten keine Zeit verschwenden – die Wohnungssuche ging sofort los. Atalanta hatte mir einen Immobilienmakler vermittelt, der den meistern Spielern die Unterkünfte in der Stadt besorgte. Er zeigte uns am Wochenende ein paar Wohnungen, aber die meisten gefielen mir nicht. Da wir mit dem Start der Vorbereitung am Montag direkt ins Trainingslager in die Berge nach Rovetta aufbrachen, musste die Wohnungssuche unterbrochen werden. Und Papa auch schon wieder los. Wieder ein Abschied. Das waren definitiv genug emotionale Momente für ein Wochenende.

Sechs Tage würden wir in Rovetta verbringen, am Sonntag zurückkehren und dann noch mal eine Woche wegfahren. Die ersten zwei Wochen brauchte ich also nicht mal zwingend eine Bleibe, für diese eine Nacht konnte ich gut im Hotel übernachten. Und vielleicht auch danach noch ein paar Tage, aber es würde natürlich bei der Eingewöhnung helfen, wenn ich möglichst zeitnah eine Wohnung fand.

Der Trainingsstart verlief übel. Und ich meine wirklich übel. Das war das härteste Training, das ich bisher erlebt hatte, nicht annähernd vergleichbar mit den Streicheleinheiten in Holland. Es blieb gar keine Zeit, sich den neuen Kollegen vorzustellen oder über die Familie und Rabea nachzudenken. Wenn nicht gerade ein Waldlauf anstand oder eine der anderen quälenden Einheiten bei 40 Grad in der prallen Sonne, musste ich mich irgendwie darum kümmern, dass mein Körper nicht in drei Teile zerbrach. Zusätzlich durften die Neuzugänge nach dem Abendessen noch schön Italienisch pauken. Andreas Cornelius, ein zwei Meter großer, blonder Stürmer aus Kopenhagen. Hans Hateboer, ein niederländischer Rechtsverteidiger, der im Winter zuvor aus Groningen gekommen war. Nicolas Haas, ein quirliger Mittelfeldspieler aus der Schweiz. Joao Schmidt, ein Brasilianer mit dem deutschesten Nachnamen aller Zeiten. Und Robin Gosens, ein Kerl mit viel zu engen Jeans, der seinen 23. Geburtstag im Trainingslager verbrachte und zu kaputt war, auf Glückwunschnachrichten zu antworten. Ich konnte froh sein, wenn die Augenlider noch bis 21 Uhr standhaft blieben. Rien ne va plus, nichts ging mehr.

Am letzten Tag des Trainingslagers stellte ich mich darauf ein, die morgige Nacht wieder im Hotel zu verbringen, als Rafael Toloi, unsere brasilianische Abwehrkante, mir anbot, bei ihm und seiner Familie zu wohnen, bis ich eine eigene Bleibe gefunden hatte. Der Mann kannte mich gar nicht, wir konnten uns nicht mal richtig verständigen. Und trotzdem fragte er einfach so, ob ich nicht bei ihm einziehen wollte. Das musste diese südamerikanische Offenheit sein, von der ich schon mal gehört hatte. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Ich lehnte sein Angebot höflich ab, schließlich bin ich ein Deutscher, und wir dürfen nun mal nicht zu fremden Leuten ins Auto steigen, richtig? Mit so viel Menschlichkeit konnte ich nicht umgehen und schlich zurück ins Hotel.

Das ist übrigens so eine andere Geschichte am Fußball: Man kann so viele unterschiedliche Kulturen kennenlernen und von jeder etwas mitnehmen. Angesichts der Gelassenheit und Offenheit der Südamerikaner komme ich mir vor wie der spießigste Mensch auf dem Planeten, obwohl ich von mir selbst immer dachte, ich wäre offen und gelassen.

Nach der zweiten Woche trainierten wir zwar weiterhin zweimal am Tag, dafür aber nur am Vereinszentrum, sodass ich abends noch ein bisschen herumfahren und Wohnungen anschauen konnte. Inzwischen hatte sich mein Körper etwas dem neuen Pensum angepasst, sodass ich auch nach der zweiten Einheit des Tages noch ansprechbar war. Drei Wochen nach meiner Ankunft fand ich endlich eine Wohnung, die mir einigermaßen gefiel. Um die 70 Quadratmeter, mitten in der Neustadt. Die monatliche Miete, sagte der Makler, lag bei 1800 Euro. Da ich inzwischen wirklich gutes Geld verdiente, bereitete mir die Summe keinen echten Schrecken. Ich war von zu Hause natürlich Mieten um die 300 Euro gewöhnt, aber das hier war ja Italien und eine Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern. Das passte schon. Die notwendigen Möbel, eine Couch und ein Bett, waren zum Glück schon vorhanden, eine Küche ebenso. Ich hätte wenig Lust gehabt, in der neuen Stadt ohne Sprachkenntnisse auch noch ein Umzugsunternehmen fürs Möbelschleppen zu engagieren.

Ein paar Wochen später unterhielt ich mich nach dem Training mit Leonardo Spinazzola, der bis dato etatmäßige Linksverteidiger und somit mein natürlicher Konkurrent. Wie sich herausstellte, hatte ich die Wohnung bezogen, in der er vorher gelebt hatte. „Ist ja ziemlich teuer“, sagte ich ihm, „1800 Euro, ganz schön happig.“ „Wieso 1800 Euro?“, fragte er, „ich habe 1300 bezahlt!“ Der Makler hatte sich allen Ernstes die Differenz in die eigene Tasche gesteckt, ohne dass der Vermieter irgendwas davon mitbekam. „Sorry“, sagte der Makler, als ich ihn drauf ansprach. „Keine Ahnung, wie mir das passieren konnte. Die Miete liegt natürlich bei 1300 Euro.“ Keine Ahnung, wie mir das passieren konnte. Klar.

Die ersten Wochen in Bergamo zogen ins Land und verliefen erwartungsgemäß nicht ganz einfach. Ich konnte kein Italienisch, doch der Trainer sprach mit uns im Training durchweg auf Italienisch, sodass ich natürlich kaum eine taktische Anweisung verstand. Hin und wieder half der Physiotherapeut als Übersetzer aus, aber für Nachfragen blieb keine Zeit. Ich konnte kaum meine Stärken zeigen, weil ich in jedem Training so fertig war, dass ich mich darauf konzentrieren musste zu atmen. Die Italiener und der Großteil der etatmäßigen Stammspieler von Atalanta bemühten sich nicht wirklich, die Neuzugänge zu integrieren, das fand ich sehr schade. Wir, also die neuen Jungs, gingen ab und an zusammen essen, um anzukommen, aber der Rest beachtete uns so gut wie gar nicht.

Ich hatte das große Glück, Nicolas Haas an meiner Seite zu wissen. Er war noch anderthalb Jahre jünger als ich, aber in der exakt gleichen Situation: Neu bei Atalanta, allein umgezogen und die Freundin am Studieren in der Heimat. Nicolas kam gebürtig aus der Nähe von Luzern und brauchte nur um die drei Stunden nach Bergamo. Trotzdem war er, genau wie ich, eher als Spieler für die Zukunft gekommen, der es am Anfang durchaus schwer haben würde. An vielen Tagen halfen wir uns gegenseitig aus der Patsche.

Der Trainer behandelte mich wie ein Ersatzspieler, ich durfte im Abschlussspiel eigentlich nie mit der ersten Elf auflaufen. Leonardo Spinazzola war die klare Nummer eins auf der linken Seite, an ihm würde ich mir wohl erst mal die Zähne ausbeißen. Der Trainer mochte ihn deutlich lieber, mit ihm konnte er sich ja auch verständigen. Eines Tages fiel Leonardo allerdings ein, dass er nicht mehr in Bergamo spielen wollte. Atalanta hatte ihn im Sommer 2016 eigentlich für zwei Jahre von Juventus ausgeliehen, nun bestand Leonardo darauf, die Leihe vorzeitig zu beenden und nach Turin zurückzukehren. Und wenn ich „bestehen“ sage, meine ich „rumzicken“. Er weigerte sich, am Training teilzunehmen, wollte keine weitere Minute das Atalanta-Vereinsemblem auf seiner Brust sehen. Er stellte sich krank, machte richtig Ärger und öffnete mir damit die Tür. Ich hätte in dieser Saison, das war zumindest der Plan, von Leonardo lernen, mich langsam herantasten und bereitstehen sollen, wenn er im Jahr darauf zurück zu Juve ging. Nun war der Trainer plötzlich gezwungen, mich in den Vorbereitungsspielen ins kalte Wasser zu werfen, obwohl er das nicht vorgehabt hatte. Doch es gab schlichtweg keine andere Alternative. Der Saisonstart am 20. August rückte immer näher, und Leonardo tauchte nicht auf. Beim abschließenden Testspiel gegen Valencia, der Generalprobe vor dem Auftakt gegen Rom, begann ich wieder auf der linken Seite im 3-5-2, und mir wurde auf einmal bewusst, dass ich als Stammspieler in die Saison gehen würde.

Es kümmerte mich nicht, ob dem Trainer das so gefiel oder nicht. Ich musste seine Nummer eins sein und freute mich wie der Junge auf dem Schulhof, der unentdeckt den Ball geklaut hat.

Die Tatsache, dass ich würde spielen können, änderte leider nichts daran, dass ich mich auf dem Platz kaum mit den Jungs verständigen und die meisten Laufwege einfach noch nicht richtig deuten konnte. Woher sollte ich wissen, ob Papu Gomez sich lieber fallen ließ oder in die tiefen Räume sprintete? War Josip Ilicic jemand, der aus der Distanz abschloss oder gerne den Doppelpass sucht? Und wie sah es mit den Innenverteidigern aus? Rückte da schon mal jemand vor, dass ich seinen Platz einnehmen und absichern musste? Viele Fragen, wenige Antworten. Und schon stand Spieltag eins vor der Tür, ein Heimspiel gegen die große AS Rom vor 20 000 leidenschaftlichen Fans, die in der Vorsaison mit dem vierten Platz verwöhnt worden waren. Man erwartete jetzt mehr von uns und erst recht vom deutschen Neuzugang.

Ich stelle mal eine steile These auf: Von diesen 20 000 Fans im Stadion hatte nicht ein Einziger in den vergangenen zwei Jahren ein Spiel von Heracles Almelo gesehen. Zehn hatten vielleicht mal einen kleinen Highlight-Schnipsel auf Youtube angeklickt, aber was sollten sie da schon sehen? Meine drei Tore oder eher die 300 Grätschen? Und würde ihnen auffallen, dass ich eher ein Linksverteidiger war, der primär verteidigte und nicht bei jedem Angriff mit nach vorne sprintete? Noch mehr Fragen und wieder keine Zeit für Antworten, die Roma wartete schon.

Ich hoffte vergeblich darauf, dass Gasperini vor dem Spiel das Vieraugengespräch mit mir suchte, um mir Mut zuzusprechen und mich auf die neuen Umstände vorzubereiten. Aus den Jahren in Dordrecht und Almelo war ich es gewohnt, ein Vertrauensverhältnis zum Trainer zu pflegen, ihn zu duzen und vielleicht sogar mal einen Gag auf seine Kosten zu machen. Das ging mit Gasperini nicht. Er machte auf mich den Eindruck eines Menschen, dem man im falschen Moment besser nicht ansprach. Also schwieg ich und hörte zu, wie er in der Kabine anfing zu reden. Ich sah Armbewegungen nach links und rechts und Blickkontakte mit Papu Gomez oder Rafael Toloi. Aber was brachte mir das schon? Ich verstand sowieso kein Wort und konzentrierte mich daher lieber darauf, meinen Puls runterzufahren.

Wir betraten den Platz zum Aufwärmen, die meisten Fans hatten bei strahlend blauem Himmel schon Platz genommen im Stadion. Es wurde geklatscht und gesungen, wir klatschten zurück und liefen ein paar Bahnen. Der unverhoffte Moment rückte näher und näher. Zurück in der Kabine, tauschte ich das blaue Aufwärmshirt gegen das blau und schwarz gestreifte Trikot mit dem ovalen Vereinswappen auf der Brust. Ein Trikot wiegt normalerweise vielleicht 200 Gramm, doch in diesem Moment fühlte es sich für mich wie 20 Kilo an. Nur war jetzt nicht die Zeit, um Schwäche zu zeigen.

Ich hatte das schließlich schon mal gemacht. Ein Debüt gegeben und vor 20 000 Zuschauern gespielt. Einen Ball am Fuß gehabt. Darum ging es doch hier, oder? Um Fußball. Also warum machte ich mir so einen Kopf? Vielleicht weil ich ein Mensch wie jeder andere bin und gelegentlich nervös werde.

Der Trainer gab die letzten Anweisungen, ich nickte. „Certamente, Mister. Si, si, si.“ Natürlich, Trainer. Was immer du sagst. Ich verstehe dich zwar nicht, aber ich gehe da jetzt raus und versuche zu zeigen, warum dein Sportdirektor mich unbedingt beim Dartsspielen nerven musste. Warum ich meine Beziehung aufs Spiel gesetzt habe, um hier zu sein.

Der Schiedsrichter pfiff an, und das Spiel lief. Ich konzentrierte mich auf die Abwehrarbeit, weil ich mich dort wohler fühlte. Hin und wieder vernahm ich einen Aufruf von der Tribüne. Vermutlich versuchte mir ein Fan zu sagen, dass in der gegnerischen Hälfte kein schwarzes Loch wartet und ich mich durchaus dorthin trauen könnte. Aber gemach.

Gasperini, solltet ihr wissen, legte seinen Fokus nicht wirklich auf die Abwehrarbeit. Seine Spielidee sah vor, den Gegner zu überfallen, ihn früh unter Druck zu setzen und mit Vollgas nach vorne zu preschen. Vielleicht fand er deshalb noch nicht den größten Gefallen an mir. Ich konnte zwar Laufen bis zum Umfallen, erst recht nach dieser Vorbereitung, aber in der Hälfte des Gegners fehlten mir zumeist die Ideen. Irgendeinen Grund wird es gegeben haben, dass ich letztlich Linksverteidiger wurde und nicht zentraler Mittelfeldspieler.

Nach einer halben Stunde gerieten wir in Rückstand. Aleksandar Kolarov hatte einen Freistoß aus 25 Metern kackfrech unter unserer Mauer durch ins Tor geschossen. Wir liefen an und bemühten uns, doch vergeblich. Bis auf einen Pfostenschuss von Josip Ilicic war kaum ein Durchkommen gegen die Roma. Und notfalls stand da noch Alisson im Tor, der genau ein Jahr später für über 60 Millionen Euro zum FC Liverpool wechseln sollte.

Ich war ans Limit gegangen und nicht unzufrieden mit meiner Leistung. Natürlich hätte ich lieber nicht verloren, aber für einen ersten Auftritt fand ich mein Spiel in Ordnung. Ob der Trainer das genauso sah? Ich weiß es bis heute nicht, er hat es mir nie verraten. Am Wochenende darauf flogen wir nach Neapel und verloren erneut. Wieder hatte ich durchspielen dürfen. Vier Tage später schloss das Transferfenster. Und hielt noch eine unschöne Überraschung für mich parat. Denn Leonardo Spinazzola hatte seinen Willen nicht bekommen. Er musste bei Atalanta bleiben und kam kleinlaut wieder angestiefelt. Den Trainer interessierte das vergangene Theater nicht. Er hatte seinen etatmäßigen Linksverteidiger zurück, der im Gegensatz zu mir schon Erfahrung in diesem System hatte und die Philosophie kannte. Ich ahnte, dass jetzt vermutlich schwere Monate auf mich zukommen würden, auch wenn ich im Prinzip nichts gegen einen gesunden Konkurrenzkampf habe – im Gegenteil, er macht dich sogar besser.

Weil Leonardo seinen Fitnessrückstand erst mal aufholen musste, stand ich auch am 3. Spieltag gegen Sassuolo in der Startelf. Beim Stand von 1:1 wechselte Gasperini mich nach 69 Minuten aus und brachte mit Hans Hateboer einen gelernten Rechtsverteidiger. Durch ein spätes Tor von Andrea Petagna holten wir unseren ersten Sieg. Ich wusste, was mir nun bevorstand. In Verona stellte Gasperini mit Timothy Castagne wieder einen Rechtsverteidiger auf „meine“ Position. Für ihn hatte Atalanta ein paar Wochen zuvor immerhin fast sieben Millionen Euro nach Genk überwiesen, aber vermutlich nicht dafür, dass er auf links spielte.

Zu meiner Überraschung durfte ich gegen Crotone wieder ran. Wir gewannen klar mit 5:1, und der Trainer hatte eigentlich keinen Grund, für das kommende Spiel in Florenz etwas zu ändern. Eigentlich. Denn tatsächlich kehrte Leonardo zurück in die Startelf. Und war von diesem Moment an wieder gesetzt. Ich sah keine Chance mehr auf einen Stammplatz. Natürlich war ich im Sommer nicht mit dieser Erwartungshaltung nach Bergamo gewechselt, aber es war doch nur logisch, dass ich nach den ersten soliden Wochen weiterspielen wollte. Dafür lief inzwischen aber zu viel gegen mich. Im Training hackte der Trainer nur auf mir rum und gab mir das Gefühl, der schlechteste Spieler im Kader zu sein. Sobald ich einen Fehlpass spielte, griff er wütend zur Pfeife und rastete aus. Man glaubt es kaum, aber das stärkte mein Selbstvertrauen nur bedingt. In diese triste Zeit passte das Auswärtsspiel beim CFC Genua am 12. Dezember. Ich saß wie üblich auf der Bank und machte mir keine Hoffnungen, eingewechselt zu werden. In Genua sind die Ersatzbänke in den Rasen eingelassen. Man sitzt auf Rasenhöhe. Es war ein trüber Dienstagabend, und nach nicht einmal vier Minuten lagen wir zurück, was Gasperini völlig auf die Palme brachte. Er trat in den Boden und versaute sich dabei seinen Schuh. Um ihn abzuwischen, griff er sich, ob bewusst oder unbewusst, ausgerechnet mein Trikot. Natürlich spielten wir an diesem Abend im weißen Auswärtsgewand, müßig zu erwähnen. Meines war jetzt braun gestreift. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Also noch tiefer, quasi unter den Rasen. Immerhin: Die Jungs drehten das Spiel noch und gewannen mit 2:1.

Abends lag ich auf der Couch und fragte mich, ob ich einen großen Fehler gemacht hatte. Ob ich besser nicht nach Bergamo gewechselt wäre. Ob ich so schlecht war, wie der Trainer das offensichtlich dachte.

Gemeinsan mit Nico hatte ich mir zwar einen Italienischlehrer besorgt, aber das Verständnis für die neue Sprache kam ja nicht von heute auf morgen. Es gab nur Nico, ansonsten war niemand da, mit dem ich mal reden konnte. Die fast täglichen Facetime-Gespräche mit Rabea lenkten mich vorübergehend ab, doch sobald wir aufgelegt hatten, merkte ich leider auch, dass ich allein in meiner Wohnung saß. Einsam, unsicher und unwichtig für die Mannschaft.

Immer, wenn Rabea mich besuchte, gingen wir fast daran kaputt, weil wir uns nach drei oder vier Tagen schon wieder verabschieden mussten und für wer weiß wie viele Wochen nicht wiedersehen würden. Einmal meinte sie, dass sie besser nicht mehr vorbeikäme, damit sie dann nicht wieder fahren musste. Bei manchen meiner angeblichen Freunde merkte ich, dass sie sich leider nur für den Fußballprofi Robin Gosens interessierten. Die echten Freunde kamen einfach mal so vorbei, um sich ein Spiel anzuschauen und mich aus der Einöde zu befreien. Und sonst blieb nur Nico, ohne den ich vermutlich frühzeitig das Handtuch geworfen hätte. Ich drohte an der Gesamtsituation zu zerbrechen.

Nach meinen vier Startelfeinsätzen zu Beginn der Saison durfte ich bis zum Jahreswechsel nur noch ein einziges Mal über 90 Minuten ran. In der Europa League dagegen gar nicht. Wir spielten eine überragende Gruppenphase gegen Everton, Lyon und Limassol, nur leider ohne mich. In der Europa League durfte man im Gegensatz zur Liga nur sieben Leute auf die Bank setzen, meistens lag also irgendwo auf der Tribüne ein Schild: „Reserviert für Robin Gosens“.

Beim Auswärtsspiel in Everton Ende November, einem typisch verregneten, englischen Abend, wurde ich nach 70 Minuten eingewechselt und schoss ein überragendes Tor per Volleyschuss aus 20 Metern zum zwischenzeitlichen 3:1, mein allererstes für Atalanta. Meine Aktien stiegen deshalb trotzdem nicht. Wann immer möglich, suchte Gasperini einen Sündenbock und fand ihn in mir.

Die Serie A hatte sich natürlich genau für dieses Jahr überlegt, auf eine Winterpause zu verzichten und einfach durchzuspielen. Ich konnte also nicht mal an Weihnachten nach Hause fliegen, weil ich am 23. Dezember in Mailand und am 30. Dezember gegen Cagliari 90 Minuten auf der Bank sitzen musste. Meine Eltern hatten offenbar gemerkt, dass ich langsam, aber sicher die Nerven verlor und daher die ganze Familie zusammengetrommelt, damit wir Weihnachten in meiner Wohnung in Bergamo feiern konnten. Wir hatten Heiligabend bis dato immer mit Oma, Opa und der Familie von Mamas Schwester gefeiert, jetzt flogen alle gemeinsam nach Italien. Ich hätte weinen können vor Freude. Und vor Traurigkeit. Denn natürlich mussten alle wieder zurück nach Deutschland – und ich auf die Bank. Erst Ende Januar war mal wieder rund eine halbe Stunde für mich drin. Gegen Neapel, den damaligen Tabellenführer. Wir kassierten unmittelbar nach meiner Einwechslung das entscheidende 0:1. Natürlich.

Ich wollte mich unbedingt zeigen, damit ich vielleicht wenigstens ein paar Minuten in der Europa League spielen durfte. Wir hatten es als Tabellenerster in die K.-o.-Phase geschafft und mit Borussia Dortmund das große Los gezogen. Zumindest aus meiner Sicht. Wie cool wäre das, wenn ich ausgerechnet gegen Dortmund reinkäme und das entscheidende Tor schießen würde? Gegen den Verein, der mich nicht wollte, den ich als Schalke-Fan sowieso nicht leiden konnte? Und dann auch noch vor über 60 000 Zuschauern, darunter Freunde und Familie? Größer ging es nicht. Doch mir war schon klar, dass ich ein mittelgroßes Wunder brauchte, um dabei zu sein. Gasperini war nicht der Trainer, den solche emotionalen Randnotizen interessierten. Er hatte vermutlich auch keine Ahnung, dass ich eine Vorgeschichte mit dem BVB hatte.

Am Abflugtag nach Dortmund durfte ich einen Koffer mitbringen, ich war also immerhin dabei und sicher auf der Bank. Ich sagte meinen Eltern und Freunden Bescheid, dass sie sich Tickets kaufen sollten. Wer weiß, vielleicht würden sie mich ja sogar spielen sehen. Ein paar Tausend Fans begleiten uns nach Dortmund in ein Stadion, das es in Italien so nicht gab. Die Atmosphäre erschlug mich fast, obwohl ich wie erwartet nur auf der Bank saß. Über diese „Gelbe Wand“, also die Dortmunder Südtribüne mit über 25 000 Stehplätzen, hatte ich natürlich schon viel gehört. So einen Vulkan hatte ich dann aber doch nicht erwartet.

Wir alle schienen uns am Anfang ein wenig von der Kulisse und vielleicht auch vom Gegner beeindrucken zu lassen. Bei Dortmund spielten schließlich Marco Reus oder André Schürrle, der 2014 zuvor im WM-Finale die entscheidende Vorlage auf Mario Götze gegeben hatte. Dieser Schürrle brachte Dortmund vor der Pause in Führung. Der Trainer änderte nichts, ich musste warten. Wir kamen zurück, Josip Ilicic drehte das Spiel mit einem Doppelpack binnen sechs Minuten. Der Atalanta-Block veranstaltete eine große Party, die restlichen 60 000 Zuschauer verstummten. Wir schnupperten an der Überraschung, und sie roch vorzüglich.

Michy Batshuayi glich das Spiel wieder aus, und nach etwas mehr als 70 Minuten sah ich vom Seitenrand, wo ich mich die letzten 20 Minuten warmgelaufen hatte, wie unser Co-Trainer das Trikot mit der Nummer 8 hochhielt. Tatsächlich, ich wurde eingewechselt. Das könnte mein ganz großer Abend werden. Gasperini nahm Papu Gomez für mich raus, die Anordnung wurde also etwas defensiver. Es war ja erst das Hinspiel, da wäre ein 2:2 in Dortmund eine gute Basis für das Rückspiel. Durch die im Europapokal geltende Auswärtstorregel würden wir uns im Rückspiel mit einem 0:0 oder 1:1 für die nächste Runde qualifizieren. So weit, so gut. Ich musste nur dafür sorgen, dass wir in der letzten Viertelstunde kein Gegentor mehr kassieren würden. Kurz vor mir war Mario Götze eingewechselt worden und spielte auf meiner Seite. Und tat das sehr, sehr gut. Meine Güte, konnte der Junge kicken! Sehr schade, dass viele Menschen das im Laufe der Jahre vergessen haben oder vergessen wollten.

Ich konnte die Anweisungen des Trainers nicht verstehen, weil er von der gegenüberliegenden Seite aus schrie. Wir bekamen Probleme auf unserer linken Seite mit der Zuteilung. In der Nachspielzeit grätschte Batshuayi den Ball zum 3:2-Siegtreffer für Dortmund über die Linie. Das Gegentor tat weh, trotzdem boten uns die beiden Auswärtstore immer noch eine gute Grundlage für das Rückspiel. Ich hatte keinen sonderlich guten Eindruck hinterlassen, war aber ganz sicher nicht der Hauptverantwortliche für die Niederlage. Dachte ich zumindest.

Die Kabine in Dortmund ist ein großes Rechteck. Dort saß bereits jeder an seinem Platz, als Gasperini reinkam. Er lief einmal an jedem vorbei, drehte noch eine Runde und blieb schließlich direkt vor mir stehen. Er beugte sich runter – und fing an zu schreien. Ließ seinen kompletten Frust raus und machte mich quasi alleine dafür verantwortlich, dass wir das Spiel verloren hatten. Mit jedem seiner Worte rutschte mein Herz ein Stück tiefer und landete am Ende irgendwo im Wäschekeller des Westfalenstadions. Gasperini hatte mich in zwei Teile gebrochen. Als er seine Tirade beendet hatte, konnte ich mich 20 Minuten lang nicht bewegen und bekam kein Wort raus. Ich war wie paralysiert. Die meisten Teamkollegen unterbrachen ihren Gang zur Dusche, um mir einen Kopf-hoch-Junge-Klaps zu geben oder mich mit diesem Das-wird-schon-wieder-Blick anzuschauen. Als wäre das nicht alles schon schlimm genug gewesen.

Das hatte mein Tag werden sollen mit einem Einsatz gegen Borussia Dortmund, vor den Augen meiner Familie und Freunde. Stattdessen drehte mich der Trainer durch den Reißwolf und klebte sich die übrig gebliebenen Papierfetzen wahrscheinlich zum Spaß an die Stoßstange seines Autos. Ich war fertig mit Gasperini, fertig mit Atalanta, fertig mit der Welt. Ich hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht. Im Bus schrieb ich Papa: „Im Sommer will ich weg, ich kann nicht mehr.“

Der hat vielleicht Probleme, mag man jetzt vielleicht denken. Lebt in Italien la dolce vita und jammert rum, weil er mal vom Trainer angeschrien wurde. Aber, Freunde, ich sage euch, es war eine echt schwierige Phase. Ich spielte keine große Rolle in der Mannschaf, hatte das Gefühl, für alles und jedes als Sündenbock herhalten zu müssen, und fand privat keinen Ausgleich. Aus psychologischer Sicht würde ich mir heute raten: Suche dir jemanden, mit dem du über deine Probleme sprechen kannst, fasse in Worte, was dich beschäftigt. Damals fraß ich den Frust in mich hinein, machte dicht, war nicht mehr frei im Kopf und spielte in der Folge eine noch größere Sülze zusammen. Ihr kennt das sicherlich: Wenn man erst mal zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Welt sich gegen einen verschworen hat und die Dinge gegen einen laufen, beginnt man an sich selbst zu zweifeln, auch wenn es dafür objektiv gar keinen Grund gibt.

Mein Vater musste mittlerweile auch als mein Berater herhalten, weil ich Gustav in hohem Bogen gefeuert hatte. Der hatte es tatsächlich geschafft, meinen vorherigen Berater wie einen Engel aussehen zu lassen. Bei meiner Unterschrift in Bergamo hatte sich Gustav eine Klausel in den Vertrag schreiben lassen, die ihm jährlich einen Teil meines Bruttogehalts einbrachte. Papa und ich waren damals zu naiv, um zu erkennen, dass wir ihn eigentlich gar nicht gebraucht hätten. Jedenfalls kam der Mann so an mein Geld. Außerdem präsentierte er mir eine „Idee“: Es sei wichtig, sich für die Zukunft abzusichern, ich solle Geld in ein „Projekt“ anlegen, mit der Aussicht auf Zinsen. Das hörte sich gut an, ich überwies ihm den Betrag auf sein Privatkonto, damit er es weiterleite. Einige Zeit später, ich hatte noch keinen Cent gesehen, fragte ich, was denn los sei. Es gebe Schwierigkeiten mit der Bank, vertröstete er mich. Blabla. Einmal bekam ich einen kleineren Betrag, der mich wohl beruhigen sollte. Gustav brauchte das Geld wohl, um irgendwelche Schulden zu begleichen. Ich glaubte ihm nicht mehr, dass er jemals vorhatte, mir etwas zurückzuzahlen, geschweige denn mit Zinsen.

Ich schmiss ihn sofort raus, war wütend auf ihn, aber mehr noch auf mich selbst. Ich war in die Falle getappt wie ein Depp, zahlte sehr viel Lehrgeld und bekam vor Augen geführt, dass man auch in unserem Geschäft nur den Allerwenigsten trauen kann. Ich will keinesfalls alle Berater über einen Kamm scheren, aber frage mich, warum fast jeder Mannschaftskollege eine Story darüber zu erzählen hat, wie er von einem Berater über den Tisch gezogen worden ist? Warum ist das so? Wieso kann man nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten? Berater verdienen doch dann viel Geld, wenn wir Spieler gut spielen und somit das Interesse anderer Vereine wecken. Zocke ich mir Grütze zusammen, nütze ich meinem Berater nichts. Ich sollte doch annehmen, dass mir ein Berater den Rücken stärkt, wenn ich Probleme habe, dafür sorgt, dass ich wieder frei im Kopf bin. Aber nein, dauernd hört man von Beratern, die krumme Dinger drehen und Spieler hinter das Licht führen. Kein Wunder, dass dieser Beruf ein so schlechtes Image hat. Das tut mir für diejenigen leid, die wirklich gute Arbeit leisten – denn auch die gibt es, definitiv. Ich finde, dass Berater mehr als gut entlohnt werden für ihre Arbeit. Als Spieler erwarte ich daher eine offene, ehrliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit, bei der zu jeder Zeit mit offenen Karten gespielt wird.

Wir schalteten Atalanta ein, um Gustavs Provision zurückzuhalten, aber es war nichts zu machen, der Vertrag war in diesem Punkt eindeutig. Weil ich auf die Schnelle keinen neuen Berater fand, musste Papa einspringen. Ich brauchte jemanden, der sich um mich und meine Belange kümmerte. Damals wusste ich ja noch nicht, wie ernst meine sportliche Situation wirklich wurde. Und damit zurück nach Dortmund.

Beim Namen Winston Churchill klingelt es, oder? Englischer Premierminister im Zweiten Weltkrieg, bedeutender Staatsmann und Zigarrenfreund. Dieser Churchill hat mal gesagt: „If you’re going through hell, keep going.“ Wenn du durch die Hölle gehst, geh einfach weiter. Zwar dachte ich nach dem Abend in Dortmund nicht an Winston Churchill, aber sein Spruch gefiel mir. Irgendwie musste es ja weitergehen.

Im Rückspiel schieden wir aus, ich wurde erneut ignoriert. In der Serie A lief es nicht viel besser. Die Form des Vorjahres war schwer zu halten, vor allem gegen die großen Namen der Liga ließen wir immer wieder Punkte liegen und kämpften um jeden Punkt, um wenigstens noch die Europa-League-Qualifikation zu erreichen. Wie es das Schicksal so wollte, erlitt Leonardo Spinazzola Ende März eine Knieverletzung und fiel für die letzten zehn Saisonspiele aus. Man wünscht ja niemandem etwas Schlechtes, erst recht nicht einem Teamkollegen, aber ich würde lügen, wenn ich in der Zwangspause meines Mitspielers nicht eine Chance für mich selbst sah, einen Ausweg, der mich zurück in die Startelf führte.

In neun der abschließenden zehn Saisonspiele stand ich dort und schoss im Heimspiel gegen den FC Turin am 34. Spieltag sogar das Siegtor zum 2:1. Ich konnte wieder hoffen und träumen. Die Presse beurteilte mich zwar hart und schrieb, ich sei kein gleichwertiger Ersatz für Spinazzola. Aber das war mir egal, solange ich einfach wieder Fußball spielen durfte. Am letzten Spieltag waren wir so gut wie sicher Siebter und damit in der Europa-League-Qualifikation dabei. Mit einem Punkt zum Abschluss in Cagliari wäre der Platz zementiert gewesen, mit einem Sieg und einem Ausrutscher von Milan gegen Florenz würden wir sogar Sechster werden und damit in der kommenden Saison eine Qualifikationsrunde weniger spielen müssen. Nun, mein Arbeitstag dauerte 25 Minuten, dann blieb ich im Rasen hängen und verdrehte mir das Knie. Irgendwas, das spürte ich sofort, war hier gerade ganz, ganz schiefgelaufen. Während wir das Spiel verloren und damit als Siebter über die Ziellinie gingen, wurde ich ins Krankenhaus gebracht. Die Diagnose folgte ziemlich schnell: Meniskusriss. Das war nicht nur schmerzhaft und bitter, da ich nicht wusste, wie lange ich nun ausfallen würde. Es verzögerte auch meine Rückkehr nach Hause. Eigentlich hatte ich unmittelbar nach dem Spiel in Cagliari meine Sachen packen und abfahren wollen, zu Rabea, zu Mama und Papa. Jetzt musste ich das Krankenhausbett hüten und Schmerztabletten schlucken.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Spinazzola musste nach der Saison zurück nach Turin. Aber hatte ich damit einen Stammplatz? Oder würde Gasperini einen neuen Mann verpflichten? Sollte ich bleiben oder wechseln? Aber eigentlich war klar, dass niemand einen Spieler verpflichten würde, der keine sonderlich gute Saison gespielt und sich darüber hinaus den Meniskus gerissen hat.

Papa, der mit Mama zum letzten Saisonspiel angereist war, blieb in Bergamo, um mich in der Woche darauf mit nach Hause zu nehmen. Auf dem Weg nach Deutschland leuchtete auf meinem Handy-Display eine unbekannte italienische Nummer auf. Ich nahm den Anruf entgegen.

„Ciao, Robin.“

Es war Gian Piero Gasperini.