28. Mai 2019
Ich dachte nur: „Wenn dieser Transfer jetzt noch platzt …“ Aber genau das passierte dann.
Mein Wechsel nach Atalanta 2017 war ein unverhoffter Glücksfall gewesen und letztendlich ein Karrieresprung, keine Frage. 900 000 Euro hatte Bergamo damals für mich an Heracles Almelo überwiesen. Natürlich, ich war ein Nobody. Aber dennoch: Was sind heutzutage schon 900 000 Euro auf dem Transfermarkt? Die erste Saison, ich habe es bereits erwähnt, war dann sehr schwierig für mich. Ich beherrschte die Sprache nicht, bekam zunächst nur wenige Einsätze, und als ich mich im letzten Saisondrittel endlich in der Stammelf festgebissen hatte, bremste mich ein Meniskusriss aus.
Am Ende waren wir immerhin Siebter geworden und durften damit zum zweiten Mal in Folge in der Europa League antreten, ein großer Erfolg, auch wenn ich nicht sonderlich viel dazu beigetragen hatte, abgesehen von ein paar Einsätzen und zwei Scorerpunkten, darunter ein Tor gegen den FC Turin, den kleinen Nachbarn von Juventus.
Eben dieser FC Turin hätte mich nach der Spielzeit, meiner ersten in Italien, gerne verpflichtet. Die Turiner hatten die Saison mit nur sechs Punkten weniger als wir beendet, die Europa-League-Plätze damit knapp verpasst. Das Angebot schmeichelte mir, war aber keine Option. Die Schwierigkeiten mit der italienischen Sprache hätten weiter bestanden, und in Bergamo durfte ich mir langfristig eine Verbesserung meiner Position ausrechnen. Mein Konkurrent auf meiner Position Leandro Spinazzola wechselte nach einer Ausleihe wieder zurück zu Juventus, sodass ich von nun an wohl die Nummer eins auf der linken Seite sein würde.
Ich nahm mir vor, mich in Bergamo durchzubeißen, Italienisch zu lernen, auf die Leute zuzugehen, Freundschaften zu schließen. Italiener sind sehr nette Leute. Zumindest die meisten, die ich bis dato kennengelernt hatte. Und erst recht in dieser wunderschönen Gegend im Norden des Landes. Ich war hier noch nicht fertig.
Die zweite Saison begann – ihr erinnert euch – recht holprig, um es mal vorsichtig auszudrücken. Doch nach und nach kam der Stein ins Rollen, und der 5:1-Erfolg bei Chievo Verona am 9. Spieltag war so was wie die Initialzündung, für die Mannschaft und für mich. Ich steuerte ein Tor und eine Vorlage bei und war fortan im 3-5-2-System auf der linken Seite gesetzt. Wir gewannen sechs der nächsten acht Spiele und verloren in der gesamten Saison insgesamt nur noch fünfmal.
Am letzten Spieltag ging es in Sassuolo um alles. Wir waren Dritter mit 66 Punkten, Inter mit der gleichen Punktzahl Vierter, Milan mit nur einem Zähler weniger Fünfter und die Roma mit 63 Punkten Sechster. Mit einem Sieg würden wir in der kommenden Saison in der Champions League spielen. Das hatte es in der 112-jährigen Geschichte Atalantas noch nie gegeben. Nie zuvor war eine Mannschaft dieses Vereins so gut wie unsere Truppe in dieser Saison. Wir hatten Spieler aus Kroatien, Schweden, Gambia, Brasilien, Uruguay, Argentinien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland und sprachen doch alle die gleiche Sprache. Unser Zusammenhalt war einer der entscheidenden Faktoren für unseren Erfolg.
Wie in Deutschland finden in Italien am letzten Spieltag alle Partien parallel statt. Kurioserweise wurde unser Heimspiel gegen Sassuolo ausgerechnet ins zweieinhalb Stunden entfernte Sassuolo verlegt, denn unser Stadion befand sich im Umbau. Und offenbar hatten wir etwas zu oft über die Champions League nachgedacht. Jedenfalls gingen wir die Partie ziemlich nervös an. Sassuolo führte nach einem überragenden Angriff bereits nach 19 Minuten mit 1:0. Torschütze war Domenico Berardi, vor dem unser Trainer vor dem Spiel ausdrücklich gewarnt hatte. Im Grunde lief bei Sassuolo jeder Angriff über Berardi. Er war eigentlich viel zu gut für so ein Mittelfeldteam wie Sassuolo, aber trotz angeblicher Angebote aus Mailand und Turin immer dort geblieben. Eigentlich ganz romantisch.
Während wir also zurücklagen, stand es bei Inter gegen Empoli und Rom gegen Parma noch 0:0, dafür führte Milan durch ein Tor von Hakan Calhanoglu mit 1:0. Zum jetzigen Zeitpunkt waren wir nur Fünfter. War der Traum von der Königsklasse ausgeträumt?
Die kalte Dusche hatten wir offenbar gebraucht, denn so langsam kam unsere Offensive ins Rollen. In der 35. Minute erlöste uns Duván Zapata nach einer Ecke mit seinem 23. Saisontor und legte damit den Grundstein für ein unvergessliches Spiel. Wir fuhren einen Angriff nach dem anderen und belohnten uns direkt nach der Pause. Papu Gomez hatte bei einem Abschluss von Josip Ilicic den richtigen Riecher und staubte zum 2:1 ab. Jetzt konnten Milan und wie sie alle heißen so toll spielen, wie sie wollten. Uns reichte dieses Ergebnis, auch wenn wir uns nicht auf dem knappen Vorsprung ausruhen wollten. Das war nicht unser Stil.
Die Fans, die die 200 Kilometer lange Reise mit uns angetreten hatten, waren völlig aus dem Häuschen und schrien sich die Kehlen heiser. Mit so einem Saisonende hatten sie niemals rechnen können, und jetzt war der Wahnsinn greifbar.
Nur zwölf Minuten nach dem 2:1 dribbelte sich Papu an der linken Strafraumecke frei, chippte eine Flanke auf den zweiten Pfosten, und dort köpfte Mario Pasalic den Ball mit aller Wucht ins Tor. 3:1, aus! Das war‘s! Und das war‘s wirklich, Sassuolo hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Die letzten Minuten spielten wir die Zeit runter und konnten aus einer weit entfernten Ecke schon die Champions-League-Hymne hören („Sie sind die Beeeesten“).
Dass unsere Verfolger ebenfalls ihre Spiele für sich entscheiden konnten? Geschenkt, die drei Punkte sicherten uns Platz drei in der Abschlusstabelle. Champions League! Ich sage es gerne noch einmal: Champions League! Atalanta Bergamo in der Champions League. Das war in etwa so, als hätte der VfL Rhede in der ersten Pokalrunde Borussia Dortmund rausgeschmissen, eigentlich unfassbar.
Nach dem Abpfiff gab es kein Halten mehr. Es wurde gefeiert, auf dem Platz, in den Katakomben, in der Kabine, im Bus, überall. Und es wurde ausgiebig gefeiert, so wie man das beim größten Erfolg der Klubgeschichte eben macht. Als wir uns irgendwann auf den Heimweg begaben, waren die meisten im Bus, ich inklusive, ordentlich angetrunken. Die Musik ballerte aus den Boxen, die Party war noch immer in vollem Gange. Deshalb war ich auch nicht auf die Nachricht eingestellt, die auf meinem Handy auftauchte. „Hi Robin, wäre das Thema S04 für dich interessant? David Wagner würde sich am Montag bei deinem Berater melden. Frohes Feiern heute Abend! Glückauf, Michael Reschke.“
Moment mal. „Das Thema S04?“ Schalke, mein Lieblingsverein seit Kindertagen? Der Klub, in dessen Bettwäsche ich von einer glorreichen Zukunft auf den Fußballplätzen dieser Welt geträumt hatte? Was war denn hier los? Michael Reschke war gerade technischer Direktor auf Schalke geworden und als solcher mitverantwortlich für Transfers. Sowieso tat sich in Gelsenkirchen in diesem Sommer nach einer schlimmen Saison einiges, Schalke wäre als Tabellenvierzehnter beinahe abgestiegen und hatte mit David Wagner einen neuen Trainer in die Arena geholt.
Der Krise zum Trotz: Schalke ist Schalke, einer der größten Traditionsvereine in Deutschland. Siebenfacher Meister, mit einem traumhaften Stadion und einer unglaublichen Fankultur. Völlig egal, was da gerade bei denen abging, für mich besaß Schalke noch immer eine immense Anziehungskraft. Diese Nachricht musste ich erst einmal sacken lassen. Im Bus war die Hölle los, aber ich nahm um mich herum nichts mehr wahr. Es war fast wie auf dem Platz: Ich befand mich im Tunnel.
Nach kurzem Nachdenken schrieb ich meinem Berater Gianluca eine WhatsApp, vielleicht konnte er mir erklären, was da abging: „Ich habe eine Nachricht bekommen, die ich nicht wirklich glauben kann.“ Er schrieb umgehend zurück: „Die war bestimmt von dem Kerl, mit dem ich heute beim Spiel war, oder?“ Dazu ein Lachsmiley. „Das sind die Neuigkeiten, von denen ich dir noch berichten wollte.“ Was, verdammt noch mal, war hier los? Ich fragte ihn, ob er mich ganz sicher nicht auf den Arm nehme? „Nein, mein Freund“, schrieb Gianluca. Wie sich herausstellte, wusste Gianluca bereits länger vom Interesse der Schalker. „Die beobachten dich intensiv“, schrieb er. „Der neue Trainer ist der von Huddersfield. Er rief sogar an, als wir im Auto auf dem Weg zum Spiel waren.“ Wagner hatte sich in den vergangenen Jahren einen Namen in der Szene gemacht. Über die zweite Mannschaft von Borussia Dortmund war er 2015 zu Huddersfield Town gekommen und hatte dort 2017 das Unmögliche geschafft: Den Aufstieg in die Premier League nach 45 Jahren. Im darauffolgenden Jahr gelang dem krassen Außenseiter der Klassenerhalt. Erst als es in der Folgesaison nicht mehr so gut lief, musste Wagner den Klub verlassen. Jetzt sollte er Schalke zurück in die Erfolgsspur führen.
„Wenn das stimmt“, schrieb ich zurück, „ist das der beste Tag meines Lebens.“ Selbst Gianluca hatte keine Ahnung, was dieses Angebot für mich bedeutete.
Als kleiner Junge hatte ich, ehrlich gesagt, gar nicht so viel mit Fußball am Hut gehabt. Viele Kinder fangen ja heute schon mit drei oder vier Jahren an, im Verein zu kicken, aber in dieser Richtung hatte ich in dem Alter, so sagen es zumindest meine Eltern, keinerlei Ambitionen. Das kam erst später, und zwar so: Als ich sieben Jahre alt war, nahm mich mein Patenonkel mit zu einem Schalke-Spiel in die nagelneue Arena, und da erwischte es mich. Als ich die Treppen hochkraxelte und in das Stadion blickte, all die Menschen und unten den leuchtend grünen Rasen sah, war es um mich geschehen. Fußballfans wissen, was ich meine. Pure Magie.
Ich weiß nicht mehr, gegen wen Schalke damals spielte und wie die Partie endete, aber das Gefühl werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Was die Fans da abgerissen haben, irre! Am nächsten Tag sagte ich zu meinem Vater, ein glühender Fan des VfL Bochum, dass ich jetzt bitte auch Fußball spielen möchte. Papa fand das toll, musste aber erst mal damit klarkommen, dass ich plötzlich Schalker war und nicht Anhänger seines VfL. Wie es sich für einen guten Fußball-Vater gehört, machte er sich schwere Vorwürfe ob meiner Vereinswahl.
Schalke, muss man wissen, war in meiner Kindheit und Jugend einer der Top-Drei-Vereine in Deutschland. Da spielten Granaten wie Ebbe Sand oder Emile Mpenza, Kevin Kuranyi oder Manuel Neuer, Benedikt Höwedes oder, und das kann ich bis heute eigentlich nicht fassen: Raul! Ich weiß noch genau, wie ich an dem Tag, als Schalke 04 es im Juli 2010 tatsächlich schaffte, Raul, eine der größten Legenden von Real Madrid, nach Gelsenkirchen zu holen, im Autoradio davon erfuhr und erst mal lachen musste. Das konnte unmöglich wahr sein! War es aber. Was Raul in den zwei Jahren zeigte, bestätigte das, was auch ich immer gedacht hatte: Schalke war schon ziemlich geil.
Zurück in den Mannschaftsbus, zurück in die Nacht nach unserer Champions-League-Qualifikation. Ich war wie aufgedreht, dazu etwas angetrunken und höchst emotional. Fast hätte ich angefangen zu weinen. Das war in dieser Situation irgendwie alles zu viel für mich. Die Nacht verflog wie im Rausch, wir feierten bis sieben Uhr morgens. Dummerweise hatte ich am nächsten Vormittag einen Interviewtermin. Nach nicht mal drei Stunden Schlaf musste ich Rede und Antwort stehen. Nennen wir das Kind beim Namen: Ich war noch längst nicht wieder nüchtern.
Und mein Berater Gianluca wollte mit Michael Reschke am Mittag telefonieren. Ich sage das jetzt so cool, aber auch deswegen war ich total aufgeregt. Wenn Schalke, Verein meines Herzens, ein Angebot für mich abgeben würde! Scheiße, dachte ich, geht das jetzt echt so schnell? Champions League mit Atalanta war das eine, für Schalke spielen etwas ganz anderes. Diese Oldschool-Vereinsliebe gibt es ja heute nicht mehr so oft, glaube ich, aber für Schalke hätte ich tatsächlich alles stehen und liegen lassen. Zumal ich ja auch wieder nach Deutschland hätte ziehen können, ganz in die Nähe meiner Familie!
Bevor wir unseren Urlaub antraten, traf sich die komplette Mannschaft am Sonntagabend zu einem gemeinsamen Abschlussessen. Ich hatte mir vorgenommen, niemandem etwas zu erzählen, auch meinen engeren Kollegen nicht. Stattdessen versuchte ich, die Sache möglichst auszublenden und den Abend einfach zu genießen.
Aber Schalke meinte es ernst. Und was ich wollte, wusste ich genau. Mit einem Wechsel nach Schalke hätte sich nicht nur mein Traum von der Bundesliga erfüllt, ich hätte auch für meinen Herzensverein spielen und vor allem wieder in Deutschland leben können. Heißt: Keine Fernbeziehung mehr, nicht mehr nur sporadische Familienbesuche. Und wieder eine gescheite Mantaplatte! Seit dem größten Spiel meiner bisherigen Laufbahn waren erst zwei Tage vergangen. Alles lief ab wie in einer Traumsequenz, total surreal.
Ich fuhr also in Urlaub in der Hoffnung, bald Schalker zu sein.
Die nächsten Tage verbrachte ich bei meiner Familie in Elten, um anschließend mit Rabea nach Mauritius zu fliegen. Am Tag der Abreise, als wir gerade am Sicherheitscheck standen, rief mich mein Berater an. Der Vertrag mit Schalke sei ausgehandelt und alle Details seien geklärt. Zitat: „Ich habe das Beste für dich rausgeholt.“ Ich war unfassbar glücklich. Die Konditionen waren perfekt. Rabea und ich flogen in den Urlaub und direkt in den siebten Himmel. Wir waren überzeugt, dass sich jetzt alles ändern würde.
Leider änderte sich überhaupt nichts.
Während wir uns in der Sonne aalten, liefen die Verhandlungen nicht so, wie sich das die Beteiligten vorgestellt hatten. Atalanta wollte mich nämlich auf keinen Fall ziehen lassen.
Sportlich gesehen, da musste ich ihnen sogar recht geben, war ein Wechsel nach Schalke eigentlich auch kein logischer Schritt. Auf Schalke stand wieder mal ein mittelgroßer Umbruch bevor, in Bergamo würde ich mit der Champions League das Beste bekommen, was der Vereinsfußball zu bieten hat. Und dennoch wäre es mein Traum gewesen, für Schalke zu spielen – zu schön, um wahr zu sein!
Am Ende musste ich wohl das Beste aus der Situation machen. Ich ging mit einem ganz simplen Motto in die neue Saison: „Scheiß drauf. Ich habe mir zwei Jahre den Arsch aufgerissen, das soll jetzt nicht alles umsonst gewesen sein.“
Rückblickend, und darüber werde ich noch ausführlich berichten, war der geplatzte Wechsel natürlich das Beste, was mir passieren konnte. Aber so was kannst du im Vorfeld ja nicht wissen! Es hat mir wieder einmal bewusst gemacht, dass im Fußball eine falsche Entscheidung dazu führen kann, dass deine ganze Karriere auf die schiefe Bahn gerät.
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Niemals durchdrehen! Besonders im Fußball geht es manchmal so furchtbar schnell, da kannst du dir nie sicher sein. Ich wähnte mich als Spieler von Schalke 04, um am Ende doch in Bergamo zu bleiben. Deshalb, liebe Nachwuchsspieler: Freut euch erst, wenn der Vertrag in trockenen Tüchern ist. Und bis dahin: Gebt immer Vollgas. Denn wenn ich etwas gelernt habe, dann dass alles einen Grund hat und dass harte Arbeit immer belohnt wird.
An diese Lektion musste ich mich tatsächlich bereits ein Jahr später wieder erinnern.