22. Dezember 2019
Stell dir vor, du bist auf Mauritius, stehst bis zu den Knien im lagunenblauen, fast lauwarmen Wasser und siehst um dich herum nur den Strand, das Meer und deine Freundin. In der Hand hältst du dein Handy, auf dem du eine Mail deines Beraters öffnest. Er hat dir den Vertrag geschickt, auf den du immer gewartet hast. Der dein Leben für immer verändern wird.
Einen Monat später wachst du auf und läufst schweißgebadet durch die Wälder Norditaliens. Du kriegst kaum Luft und denkst, dass das vielleicht doch nur ein Traum war. Dass es diesen Vertrag, der dich zu einem Spieler des FC Schalke 04 gemacht hätte, nie gegeben hat. Wie konnte eine so schöne Sache nur so schlimm enden?
Dieser Flirt zwischen Schalke und mir war vermutlich schon etwas mehr als das. Eher das zweite Date. Nach dem dritten Date ging es allerdings nicht weiter. Bisher war alles so harmonisch verlaufen, inklusive Schmetterlingen im Bauch. Nur gab es jetzt jemanden, der nicht bereit war, den letzten Schritt zu gehen. Atalanta. Schalke konnte das nötige Geld nicht aufbringen, und Atalanta ließ mich nicht wechseln. Der fertige Vertrag zwischen Schalke und mir, den ich auf Mauritius eigentlich schon unterschrieben hatte, war hinfällig. Bereit für den Reißwolf.
Ich ging zurück nach Bergamo und war wahnsinnig enttäuscht und wütend, dass ich überhaupt an der Vorbereitung teilnehmen musste. Ich hätte gerade in Gelsenkirchen sein, mir in Düsseldorf oder wo auch immer eine Wohnung anschauen sollen. Stattdessen musste ich wieder mal nach Rovetta, den Wald rauf und runter. Dieses ungute und unvollendete Gefühl zog sich durch die gesamte Vorbereitung. Marten de Roon, Remo Freuler, Berat Djimsiti und Hans Hateboer, also meine engsten Freunde im Team, zogen mich nur zu gerne auf. Wenn wir morgens am Trainingszentrum zusammen frühstückten, fragten sie regelmäßig: „Robin, was machst du denn noch hier? Wolltest du nicht wechseln?“
Ich lachte mit, aber ganz ehrlich: Diese Sprüche taten weh. Ich ließ mir durchaus anmerken, dass ich nicht zufrieden war, dass ich keine Lust aufs Training hatte, dass mir die Situation einfach gegen den Strich ging. Das entging natürlich auch dem Trainer nicht. Wir waren aus dem Trainingslager in Rovetta zurückgekehrt und mitten in der Vorbereitung auf die neue Saison, als Gasperini mich in sein Büro rief. Er fackelte nicht lange: „Was ist los mit dir?“ Ich antwortete: „Ich denke, es ist relativ offensichtlich, was mit mir los ist. Ich will zu Schalke.“ Es war kein wütendes Gespräch, keine stickige Atmosphäre. Ganz sachlich, aber sehr ernst. Gasperini sagte: „Ich kann das verstehen, aber wenn die Vereine sich nicht einigen können, bist du Spieler von Atalanta. Und nächste Saison Stammspieler, ich plane mit dir und brauche dich bei 100 Prozent.“
Er hatte das so auch dem Präsidenten gesagt. Luca Percassi wiederholte immer wieder, dass ich einen gewissen Wert hätte und nicht für weniger Geld verkauft werden würde. Rückblickend kann ich ihn schon verstehen, er führt ein Wirtschaftsunternehmen und muss es am Laufen halten. In den Gesprächen damals war ich allerdings zu emotional, zu aufgeladen, um ihn verstehen zu können. Oder verstehen zu wollen. Dass ich Gasperini die Wahrheit sagte und meine Gefühle offenlegte, änderte leider nichts an meiner Stimmung. Er war ja auch nicht derjenige, der die finale Entscheidung fällte. Er hätte Percassi oder Giovanni Sartori zwar seinen Segen geben können. Nach dem Motto: „Kommt, das hat so keinen Sinn. Nehmt das Angebot an und verkauft Robin.“ Aber das hätte er niemals gemacht. Genauso wenig, wie ich jemals in den Streik getreten wäre. So einer bin ich nicht. Ich war sauer, ja. Enttäuscht und wütend. Aber ich hatte einen gültigen Vertrag, der noch eine Saison lief, und deshalb nicht das Recht, Atalanta an der Nase herumzuführen. So wie das zum Beispiel Ousmane Dembelé oder Pierre-Emerick Aubameyang mit Borussia Dortmund gemacht haben. Zwei ausgezeichnete Fußballer, mit wesentlich mehr Talent gesegnet als ich. Aber vielleicht auch mit etwas weniger Integrität. Leider brachten sie dem BVB in Summe fast 200 Millionen Euro ein, weshalb man dem Verein eigentlich keinen Vorwurf machen konnte. Wenn solche Typen sich weigern, am Training teilzunehmen und für die Mannschaft aufzulaufen, du auf der Gegenseite aber so viel Geld bekommst, dass du fast ein neues Stadion bauen kannst, dann musst du es wahrscheinlich machen.
Nur ging es bei mir nicht um hundert, sondern um zehn Millionen Euro. Und wenn ich mich geweigert hätte zu trainieren, hätten Marten und die Jungs mich wahrscheinlich noch mehr ausgelacht. Recht hätten sie gehabt, denn Atalanta war der Verein, dem ich alles zu verdanken hatte und der mir überhaupt erst die Chance gab, mich auf dieser Plattform zu präsentieren. Wenn das gerade jemand liest, der auf der Suche nach einem Job ist und sich fragt, was ich für ein Mensch bin, der es nicht ertragen konnte, Fußballprofi für Atalanta Bergamo zu sein und in Italien zu leben und Champions League zu spielen, dem möchte ich sagen: Ich war damals immer noch ein kleiner Junge mit einem großen Traum.
Ich kann nicht oft genug betonen, dass das nicht irgendein Angebot war. Das war mein Verein. Auf Schalke war ich als Siebenjähriger zum ersten Mal ins Stadion gegangen. Für Schalke bin ich vom Sofa gesprungen, als Manuel Neuer im März 2008 in Porto zwei Elfmeter hielt. Auf Schalke wollte ich mir meinen Kindheitstraum erfüllen und Bundesligaprofi werden. Es hätte alles gepasst. Alles. Konjunktiv, da sind wir wieder.
Selbst der Großteil der Atalanta-Fans wünschte mir den Wechsel. Viele sagten mir während der Vorbereitung auf Fanveranstaltungen oder via Instagram, dass sie mir die Daumen drückten und es verstehen würden, wenn ich wieder nach Deutschland ging. „Es wäre so schade, aber wir gönnen es dir von Herzen“, schrieb einer. Sie hatten mich, das vermute ich zumindest, wegen meiner Spielweise und meiner Einstellung früh ins Herz geschlossen. Denn wer sein Herz für Atalanta auf dem Platz lässt, hat 20 000 Herzen auf der Tribüne sicher. Alles, was diese Fans sehen wollen, sind Spieler, die bis zum Ende kämpfen. Selbst eine Niederlage können sie durchaus anerkennen, wenn man alles gegeben hat. Und so ein Spieler war ich von Anfang an, so eine Mannschaft waren wir.
Schalke meldete sich ab Mitte August nicht mehr, sodass vor dem ersten Saisonspiel in Ferrara ziemlich klar war, dass ich nicht mehr wechseln würde. Aus der Traum von der Bundesliga, aus der Traum von Schalke 04. Fürs Erste auf jeden Fall. Ich startete mit einer riesigen Wut im Bauch in die Saison, mir war alles egal. Die vergangen zwei Jahre hatte ich es dem Trainer recht machen wollen, der Mannschaft, den Fans. Ich hatte mich selbst so sehr unter Druck gesetzt, dass meine Leistungen oft darunter gelitten hatten. Jetzt nicht mehr. Jetzt musste ich niemandem mehr etwas beweisen. Ich wollte für niemanden spielen außer für mich. Ich war frei im Kopf und spielte so Fußball, wie ich es eigentlich auch konnte. Das begann am 25. August in Ferrara und hörte nicht mehr auf.
Atalanta hatte mich zwar nicht abgegeben, dafür aber kräftig eingekauft. Luis Muriel kam für 20 Millionen Euro aus Sevilla. Ein kolumbianischer Stürmer, der seinen wuchtigen Landsmann Duvan Zapata durch eine eher technische Komponente ergänzen sollte. Hinzu kam Ruslan Malinovskyi, den vorher keiner kannte, der aber einer unser besten Fußballer werden sollte. Der totale Gegensatz zu dem, was ich von einem ukrainischen Mittelfeldspieler erwartet hätte. Filigran, überragend am Ball und mit einer genialen Schusstechnik ausgestattet.
Wir hatten die Champions League erreicht und daher eine extrem aufreibende Saison vor uns. Da konnten wir jeden Neuzugang gebrauchen. Erst recht solche Kaliber. Der erste Spieltag führte uns an einem Sonntagabend in die Emilia-Romagna, zwischen Bologna und Venedig im Nordosten des Landes. Es war einer dieser typischen Spätsommertage in Italien. Sehr warm und sehr drückend. Das Spiel verlief dann auch sehr schleppend. Wir lagen schnell 0:2 zurück. Ich spielte von Anfang an, so wie es der Trainer in seinem Büro gesagt hatte, und ging davon aus, das auch im nächsten Spiel zu tun. Und im Spiel danach. Und danach. Und so weiter.
Die Karten waren neu gemischt worden. Mein drittes Jahr in Bergamo brach an, ich hatte mich längst bewiesen und keinen Konkurrenten mehr auf meiner linken Seite. Das war jetzt meine Seite, vollkommen egal, wer da geholt oder nicht geholt wurde. Mit diesem Selbstverständnis spielte es sich wesentlich leichter. Nach etwas mehr als 30 Minuten lief ich von der Mittellinie los, sprang mit voller Wucht in eine maßgenaue Flanke von Hans und köpfte den Ball mit ungefähr 400 Kilometern pro Stunde zum Anschlusstreffer ins Tor. Das Tor war erste Sahne, sage ich euch ganz ehrlich. Schaut es euch bei Gelegenheit auf Youtube an und achtet auf meinen Gesichtsausdruck und meine Gestik nach dem Tor. Das waren Zorn und Trotz wegen des geplatzten Wechsels. Luis Muriel traf in der zweiten Hälfte bei seinem Debüt doppelt und drehte das Spiel zu unseren Gunsten. Der Auftaktsieg war eingetütet und wie ein Startschuss für eine Saison, die unvergesslich werden sollte. In guter, wie in schlechter Hinsicht.
Am 31. August schloss das Transferfenster. Damit war der gescheiterte Wechsel dann auch offiziell. Ich teilte meiner Familie mit, was sie ohnehin schon längst wusste. Ja, ich bleibe erst mal in Italien. Nein, ihr könnt jetzt leider doch nicht jedes Spiel von mir im Stadion sehen. Ja, ich finde es auch scheiße. Nein, ich komme schon klar. Ja, wir sehen uns dann bald in Bergamo. Atalanta tröstete mich mit einem neuen Dreijahresvertrag. Die Klauseln, die es Atalanta ermöglicht hätten, mein altes Arbeitspapier automatisch um zwei Jahre zu verlängern, wurden gestrichen. Mein Gehalt stattdessen erhöht. Ich unterschrieb bis 2022 und war zumindest finanziell schon mal abgesichert.
Das hieß natürlich nicht, dass ich nun auch bis 2022 in Bergamo bleiben würde. Machen wir uns nichts vor: Kaum ein Fußballer unterschreibt einen Vertrag, um ihn dann auch bis zum Ende zu erfüllen. Ein längerer Vertrag ist für zwei von drei Seiten eigentlich immer eine Win-Win-Situation. Wenn Schalke sich zum Beispiel im Sommer 2020 wieder gemeldet hätte, hätte Atalanta auf meinen noch zwei Jahre gültigen Vertrag verweisen und eine höhere Ablöse fordern können. Ich wiederum hätte mehr Kohle als vorher bekommen.
Der neue Vertrag war nur ein kleines Schmankerl, viel wichtiger war, dass Rabea im September endlich bei mir einzog. Sie hatte ihr Physiotherapiestudium in Bochum bereits sieben Monate zuvor beendet, und wir wussten damals schon, dass die Fernbeziehung langsam enden musste. Im Februar 2019 hatten wir uns gefragt, ob sie sofort zu mir ziehen, oder ob sie zu Hause erste Berufserfahrungen sammeln und im Sommer nachkommen sollte. Die Serie-A-Saison dauerte zu dem Zeitpunkt noch drei Monate, und ich war mir nicht sicher, ob ich danach weiter in Bergamo spielen würde. Ein guter Instinkt, wie sich im Mai zeigte. Deshalb einigten wir uns darauf, im Sommer zusammenzuziehen. Egal, wo ich da spielen sollte. Rabea fing stattdessen als Physiotherapeutin bei Salvea in Kleve an, wo sie ihre Ausbildung und ich die Reha nach meiner Meniskusoperation gemacht hatte. Als klar war, dass ich vorerst in Bergamo bleiben würde, kündigte Rabea ihren Job und zog zu mir. „Mehr als ein Jahr sind wir sowieso nicht hier“, sagte ich, um sie vor diesem entscheidenden Schritt etwas zu beruhigen.
Ich muss an dieser Stelle mal etwas loswerden zum absolut unpassenden Klischee der Spielerfrau. Rabea hatte einen festen Job, ihre Familie und alle Freunde in Deutschland. Sie hatte – und hat – aber auch einen Freund, der Fußballprofi in Italien und maximal unflexibel ist. Der ihr nicht entgegenkommen konnte. Der Kompromiss sah so aus, dass sich für Rabea alles änderte und für mich nichts. Sie musste in ein fremdes Land ziehen, dessen Sprache sie nicht beherrschte. Sie musste ihren Job aufgeben, ohne zu wissen, ob sie in Italien einen neuen finden würde. Sie nahm das alles einfach in Kauf, packte ihre Sachen und kam zu mir. Ich mag es deshalb nicht, wenn Leute mit dem Finger auf Rabea zeigen und behaupten, dass sie es ja ach so einfach hat und sowieso nur meine Kreditkarte benötigt, um durch den Tag zu kommen. Dass sie jeden Tag shoppen geht und sich sonst nur in die Sonne legt. Die wenigsten wissen, dass „Spielerfrauen“ – ätzende Bezeichnung übrigens – oft ihr komplettes Leben umkrempeln und sich komplett abhängig machen von ihrem Freund oder Mann. Nur damit der nicht mehr allein ist. Dafür stehe ich für immer in ihrer Schuld. Rabea gab mir weiteren Antrieb. Jetzt musste ich es allen beweisen, damit sie und ich ein Jahr später in die Bundesliga wechseln und wieder nach Deutschland ziehen konnten. Ich spielte für sie.
Und, meine Güte, wie ich spielte!
Im Laufe der ersten Wochen der neuen Spielzeit setzte ich mich sehr oft mit unserem dänischen Co-Trainer Jens Bangsbo zusammen, der mir anhand des Videomaterials zeigte, wie ich bessere Entscheidungen treffen und torgefährlicher werden konnte. Ich war zwar inzwischen ein sehr guter Verteidiger und Zweikämpfer geworden, hatte aber im vorderen Drittel des Feldes noch Luft nach oben. In den vergangenen beiden Jahren hatte ich oft den falschen Pass gespielt, zu früh abgeschlossen oder eine Flanke ins Nichts geschlagen. Oftmals hatte ich auch einfach den Mann im Zwischenraum übersehen, beispielsweise, wenn sich Papu Gomez freigemacht hatte. An solchen Dingen arbeiteten wir in diesen Sitzungen, damit es sich auch auszahlte, wenn ich schon 20-mal im Spiel nach vorne stürmte.
Ich hatte keine Ahnung von Atalanta gehabt, als ich nach Italien wechselte. Der Grund, warum sich das änderte, heißt Gian Piero Gasperini. Der Mann war zwar knallhart, aber auch verdammt genial. Er hatte diesem Klub neues Leben eingehaucht, jetzt galten wir im ganzen Land tatsächlich schon als Kandidat für einen europäischen Startplatz. Und in meinem dritten Jahr in Bergamo verstand ich auch persönlich, warum unser Mister so genial ist. Ich weiß, dass der Mann in den vorherigen Kapiteln menschlich nicht immer sehr gut wegkommt. Aber sportlich gesehen: Gasperini war und ist ein Trainer, bei dem die Resultate stimmen. Was der mit uns, mit mir in den letzten Jahren gemacht hat, ist unglaublich. Das Training ist hart, jeden Tag. Wenn du nicht mitziehst, dann zitiert er dich zu einem Gespräch, um dir mitzuteilen, dass er nicht zufrieden ist. Die einzige Warnung, die du bekommst. Ziehst du dann noch mal nicht mit, bist du weg vom Fenster, ganz einfach. Ich bin froh, dass ich durchgehalten und Tiefschläge weggesteckt habe. Letztlich hat mich das mental gestärkt und dann auch, was viel wichtiger ist, zu einem besseren Fußballspieler gemacht. Er hat einen ganz, ganz großen Anteil daran, dass ich jetzt Nationalspieler bin. Dafür bin ich ihm auf ewig dankbar. Ich kann mir vorstellen, dass dem Mister teilweise gar nicht klar gewesen ist, wie mich manche Dinge in der Anfangszeit getroffen haben, oder anders: vielleicht ist auch gerade das eines seiner Erfolgsgeheimnisse.
Zurück zum Saisonstart. Atalanta war also ein Champions-League-Aspirant. Logisch, mochte man nach der vorherigen Saison vermuten. Für unsere Fans war das jedoch alles andere als selbstverständlich. Sie ließen uns in jedem Spiel ihre Dankbarkeit spüren. Wir hatten ihnen so viel Freude bereitet – und machten jetzt einfach damit weiter. Was wir spielten, war ein reiner Genuss. Vollgas, immer offensiv, immer mutig, nie ehrfürchtig und maximal unterhaltsam. Der Schwung aus der Vorsaison trug uns von Platz zu Platz, von Mailand nach Sizilien, von Turin nach Neapel. Und spätestens in dieser Saison war ich ganz entscheidend an unserem Erfolg beteiligt.
Der Ärger über den geplatzten Wechsel verflog bald, auch wenn Schalke unter David Wagner überragend in die Saison startete. Wir waren ja selbst sehr gut unterwegs und vor dem siebten Spieltag schon Dritter. Nach Siegen über die Roma und Sassuolo – mit einem Tor von mir – wurde beim Heimspiel gegen Lecce am 6. Oktober die neue Nordkurve im Stadion eingeweiht. Also die Tribüne, auf der unsere Hardcore-Fans in jeder Partie 90 Minuten lang so aufopferungsvoll sangen, wie wir spielten. Wie auch auf Schalke ist die Nordkurve das Herzstück unseres Stadions. In der ersten Hälfte spielten wir in Richtung Südkurve und führten zur Pause mit 2:0. Lecce war uns nicht gewachsen. Wir waren eine mit wenigen Ausnahmen seit drei Jahren eingespielte Mannschaft, ein harmonierendes Orchester. Das lief fast wie von selbst, der Trainer hätte während der Partie eigentlich auch einen gemütlichen Sofatag einlegen können.
Nach dem Seitenwechsel ging es das allererste Mal auf die neue Nordkurve. Zum ersten Mal auf diese geschlossene, viele Meter hohe Front, vollgepackt mit leidenschaftlichen Bergamasken, deren Lebensglück zu einem wesentlichen Teil vom Ausgang unserer Spiele abhing. Wenige Minuten nach Wiederanpfiff bekam ich den Ball auf der linken Seite, bog in Richtung Zentrum ab und ließ zwei Gegenspieler stehen. Mit dem Außenrist fand ich Josip Ilicic und sprintete durch, damit er mich wieder anspielen konnte. An der Strafraumkante bekam ich den Ball zurück, zog wieder mit dem Außenrist ab und ließ dem Keeper keine Chance. Vor meinen Augen flogen Tausende Fäuste in die Luft, Leute sprangen sich in die Arme und jubelten, als hätten wir schon wieder das Pokalfinale erreicht. Ausgerechnet ich war also derjenige, der die heilige neue Curva Nord mit einem Tor einweihen durfte. Ein magischer Moment. Da ging mir echt einer ab. In den Tagen darauf gratulierten mir einige Ultras, die sich dort hauptsächlich bewegten, und meinten, dass ich mich in den Geschichtsbüchern von Atalanta verewigt hätte. Diese Nachrichten lösten Gänsehaut bei mir aus. Stellt euch nur mal vor, wie Opa Giuseppe in 50 Jahren in seinem Sessel hockt und Enkelkind Flavio erzählt, wie das damals war, als Robin Gosens die neue Tribüne zum ersten Mal so richtig ins Wanken gebracht hat.
Unsere erste kleine Durststrecke im November, als wir fast einen Monat ohne Sieg blieben, nutzten Rabea und ich für einen unerwarteten Moment. Wir bekamen Zuwachs. Kein Baby, locker bleiben. Sondern einen Hund. Wir waren beide mit einem Hund aufgewachsen und uns einig, dass wir früher oder später wieder einen haben wollten. Es sollte ein Australian Shepherd Blue Merle sein, also ein normalgroßer Hund mit grauweißem Fell, weißen Pfoten und kristallklaren, blauen Augen. Wie es der Zufall so wollte, hatte die Züchterin, bei der auch Rabeas Eltern mal fündig geworden waren, im November einen neuen Wurf bekommen und sogar zwei von genau dem Typ mit der Fleckung, den wir haben wollten. Die Dame schickte uns Fotos, und da war sofort klar, dass wir nicht Nein sagen konnten. Rabea flog nach Deutschland, sammelte den Hund ein und setzte sich mit ihm in den Zug bis nach Freiburg. Ich fuhr den beiden mit dem Auto aus Bergamo entgegen und sammelte sie in Freiburg ein. Auf einmal waren wir zu dritt: Rabea, Robin und Malou.
Ein sehr außergewöhnliches Jahr mit Champions League, Schalke und was nicht alles näherte sich dem Ende. Bevor wir über die Feiertage in den wohlverdienten Urlaub nach Deutschland fuhren, stand am 22. Dezember das Heimspiel gegen Milan auf dem Programm. Eine der größten Adressen im Weltfußball, die ihren Glanz in den vergangenen Jahren allerdings ziemlich verloren hatte. Die Maldinis oder Nestas hatten ihre Karrieren längst beendet, der Verein aber nicht annähernd würdige Erben gefunden. Das änderte allerdings nichts am Selbstverständnis und der Arroganz der Verantwortlichen. Milan kroch wieder mal im Mittelfeld der Liga rum, sodass wir an diesem wunderschönen Sonntagmittag als Favorit ins Spiel gingen. Das hätten die natürlich nie so zugegeben. Wir waren ja nur der kleine Nachbar aus Bergamo. Was dann folgte, hatte jedoch niemand so vorhergesehen.
Wir spielten Milan schwindelig, von oben nach unten und von links nach rechts. Die Sonne lachte und Atalanta gleich mit. 1:0, 2:0, 3:0, 4:0, 5:0. Mama, Papa und Rabea saßen auf der Tribüne und kamen aus dem Strahlen gar nicht mehr heraus. Ich hatte eine Vorlage gegeben und wurde nach 89 Minuten für Hans Hateboer ausgewechselt. Ich genoss den Applaus von den Rängen ausgiebig. 5:0 gegen Milan, Tabellenplatz fünf und ein paar Tage Urlaub vor Augen. Was konnte mir da schon die Laune verhageln? Einen Tag später flogen Mama und Papa zurück. Rabea, Malou und ich fuhren mit dem Auto hinterher, um die Weihnachtstage in Elten und Praest zu verbringen und der Familie Malou vorzustellen. Das endete allerdings beinahe im ganz großen Drama.
Irgendwas stimmte mit Malou nicht. Sie aß und trank nichts und lag am zweiten Weihnachtstag wie ein Häufchen Elend in der Ecke. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Am 27. Dezember fuhren wir mit ihr zum Tierarzt, der uns direkt an eine Tierklinik weiterleitete. Dort sagte uns der Arzt, dass es sich um Parvovirose handelte, gegen die sie im Vorfeld bereits geimpft wurde. Eine ziemlich akut verlaufende Infektionskrankheit bei Hunden, die vor allem bei Welpen in vielen Fällen zum Tod führt. Malou musste auf der Straße oder im Park was Falsches gefressen haben. Sie sollte in der Klinik bleiben und beobachtet werden. Viel Hoffnung wurde uns nicht gemacht, dafür war die Krankheit zu heftig.
Natürlich war Malou erst vier oder fünf Wochen zuvor zu uns gestoßen, aber trotzdem schon wie eine Tochter für uns. Das mag sich übertrieben anhören, aber Hundebesitzer wissen, wovon ich spreche. Am 28. Dezember musste ich zurück nach Bergamo, weil der Ligabetrieb am 6. Januar gegen Parma schon weiterging. Rabea blieb zu Hause, weil Malou noch nicht entlassen werden konnte. Es ging ihr etwas besser, aber nicht gut genug. Auf mich wartete eine Art Minivorbereitung, um die Weihnachtskilos schnell wieder abzulaufen und in Form zu bleiben. Über Neujahr gab der Trainer zwei Tage frei, weshalb ich mich nach der Silvestereinheit direkt wieder in den Flieger nach Düsseldorf setzte. Malou hatte sich zum Glück erholt. Am Silvesterabend durften wir sie mit nach Hause nehmen und ganz besinnlich den Jahreswechsel nach 2020 feiern. Zwei Tage später fuhren wir zu dritt mit dem Auto wieder nach Italien. Unser Familienzuwachs hatte das Schlimmste überstanden.
Gegen Parma machten wir da weiter, wo wir 2019 aufgehört hatten. Mit einem 5:0-Heimsieg. Ich traf zum 3:0, bereite das 4:0 von Josip Ilicic vor und fühlte mich so gut wie noch nie. Es passte alles zusammen. Rabea will das wahrscheinlich nicht hören, aber ich sage es ihr immer wieder: Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich nicht so gut gespielt. Unser Zusammenleben war unfassbar wichtig für mich. Jahrelang hatte ich keine Routine gehabt, nicht gewusst, wohin mit meinen Emotionen. Jetzt kam ich nach dem Training oder einem Spiel nach Hause, und da wartete jemand auf mich, mit dem ich reden, kochen, mich ablenken konnte. Dem ich erzählen konnte, wie sehr mich der Trainer wieder zur Weißglut getrieben hatte. Ich hatte jemanden, mit dem ich einfach mal zum See fahren oder in den Park gehen konnte. Dieses Zwischenmenschliche hatte mir in den zwei Jahren davor komplett gefehlt.
Zur Primetime ging es nach dem Spiel gegen Parma in Mailand weiter, an einem Samstagabend um 20.45 Uhr vor 70 000 Zuschauern bei Tabellenführer Inter. Die italienische Presse rieb sich die Hände, weil sich nach etlichen Jahren der Dominanz von Juventus mal wieder ein spannender Titelkampf in der Serie A abzeichnete. Juve und Cristiano Ronaldo lagen punktgleich mit Inter auf Rang zwei, wir konnten ihnen also auch noch helfen. Im Schatten des Titelkampfes hatten wir uns außerdem wieder an die Champions-League-Plätze gerobbt und ich hatte durch meine ziemlich irre Saison viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Rechtzeitig vor dem Spiel im San Siro verbreiteten sich Gerüchte, dass ich von Inter beobachtet und als Neuzugang für die kommende Saison gehandelt wurde. Bei Instagram schrieben mir Inter-Fans, dass sie sich freuen würden, wenn ich im Sommer einer von ihnen werden würde. Natürlich antwortete ich nicht, obwohl ich die Vorstellung schon ganz aufregend fand. Ich bei Inter, an der Seite von Romelu Lukaku oder Lautaro Martinez. Für einen der größten Vereine Italiens. Das hätte schon was. Solche Gedankengänge waren vor diesem Spiel natürlich total unpassend, aber ich bin eben auch nur ein Mensch. Wenn ich diese „Ich konzentriere mich nur aufs nächste Spiel“-Sätze von manchen Spielern höre, wird mir echt schlecht. Das sind keine Phrasen, sondern Lügen. Also bitte schön, sollte Inter mich ruhig beobachten. Dann würde ich ihnen halt zeigen, was sie von mir bekämen.
Der Start ging in die Hose. Nach 30 Sekunden traf Lukaku das erste Mal den Pfosten und stachelte die Zuschauer an. Drei Minuten später traf Lautaro, aber leider nicht nur den Pfosten. So fühlte es sich also an, wenn man überrannt wurde. Das hatten wir im Laufe der Saison schon fast vergessen. Mit dem Rückstand ging es in die Kabine, in der Gasperini ganz sachlich blieb. Wir waren ausnahmsweise mal wieder der Außenseiter und hatten nicht viel zu verlieren. Außer ein paar Punkte für die Endabrechnung.
In der Schlussphase wurden wir besser, drückender, sicherer. Josip Ilicic dribbelte über die rechte Seite, sein Abschluss wurde jedoch abgefälscht und landete so am Elfmeterpunkt auf dem Kopf von Malinovyski, der seine Birne einfach mal reinhielt und den Ball verlängerte. Ich hatte hinter ihm spekuliert, dass der Ball vielleicht durchrutschen würde. Und das tat er. Im Fallen gab ich irgendwie noch einen Schuss ab und brachte das Ei im langen Eck unter. Und von ganz oben im Stadion hallte es „Siiiii“ aus dem Atalanta-Block. „Da habt ihr es, Inter-Fans“, dachte ich, als ich zum Jubeln auf Knien rutschte, „gar nicht mal so schlecht, oder?“ Und es hätte noch viel schöner werden können, wenn Luis Muriel zwei Minuten vor Schluss seinen Elfmeter versenkt hätte. Immerhin: Der Punkt reichte uns, um auf Platz vier zu springen. Inter wiederum musste die Tabellenführung an Juventus abgeben. Gern geschehen, Cristiano.
In der Kabine las ich auf meinem Handy Hunderte neuer Instagram-Nachrichten von Inter-Fans. Tenor: „Robin, du musst unbedingt kommen. Wir brauchen dich nächstes Jahr!“ Ganz ruhig, Freunde, dachte ich. Mal abwarten, was so passiert. Aus Deutschland häuften sich die Interviewanfragen. Ich bekam einen neuen Spitznamen: „Goalsens“. Und einige Medien fragten sich, warum ich denn noch kein Länderspiel absolviert hatte. Sechs Tore, vier Vorlagen und Champions-League-Erfahrung. „Was braucht Joachim Löw denn noch von einem Linksverteidiger?“ Die Antwort kannte ich nicht und blieb deshalb ganz locker. Ich war unglaublich gut drauf, aber deshalb würde ich nicht mal eben Nationalspieler werden, oder? Das klang für mich nach Utopie.
Unnötigerweise verloren wir eine Woche später gegen den Tabellenletzten SPAL Ferrara zu Hause und rutschten deshalb wieder hinter die Roma auf Platz fünf. Wir schüttelten uns kurz, wachten auf und schenkten dem FC Turin in dessen Stadion sieben Tore ein. Josip erzielte drei Tore, eins von der Mittelinie. Ich traf nach einer Ecke traumhaft per Volley. Atalanta war wieder da.
Im Champions-League-Achtelfinale wartete Valencia auf uns.
Und das Virus.