Kapitel 15


LEICESTER

26. August 2020

Ich hätte mich um so viele andere Sachen sorgen sollen. Hätte nur mal aus dem Fenster in die Innenhöfe Bergamos schauen müssen. Aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Stattdessen versuchte ich mich abzulenken. Mit Fußball und mit meiner Karriere.

Die Corona-Pandemie war erst vor wenigen Wochen richtig ausgebrochen, da hatte sie in Bergamo schon fast alles zerstört. Ich machte mir Gedanken, wie es mit mir weiterging. Und vor allem: wann und wo. Nicht nur mit dem Leben, auch mit Atalanta.

Als die Saison Anfang März unterbrochen worden war, hatte ich alleine in der Liga sieben Tore und fünf Vorlagen beigesteuert, hinzu kam der Treffer beim entscheidenden Champions-League-Spiel in Donezk. Überragende Werte für einen Linksverteidiger. Ich wusste zum Zeitpunkt der Unterbrechung nicht, ob die Saison fortgesetzt werden würde oder nicht.

Fast zehn Monate, nachdem mir der Wechsel zu Schalke 04 verwehrt worden war, ging es auch um meine Zukunft. Ich konnte mir vorstellen, zu wechseln, Atalanta zu verlassen. So überragend die drei Jahre auch gewesen waren, so sehr fühlte es sich für mich danach an, als wäre ich bereit für eine neue Aufgabe. Völlig unabhängig davon, wie es in der Liga und der Champions League weitergehen würde. Wenn es denn überhaupt weiterging. Atalanta hatte mir alles gegeben. Mich gelehrt, wie man in schwierigen Zeiten Kraft gewinnt. Mir gezeigt, dass jeder in der Hierarchie mal ganz unten startet, der Traum deshalb aber nicht sterben darf. Atalanta – und besonders Gian Piero Gasperini – hatte mich zum aktuell torgefährlichsten Außenverteidiger Europas geformt. Ich hatte die beste Saison meiner Karriere gespielt.

Also: Was nun?

Völlig unabhängig von einer Pandemie fangen Manager, Sportdirektoren oder Trainer natürlich nicht erst mit ihren Personalplanungen an, wenn das Transferfenster am 1. Juli bzw. 1. Januar öffnet. Das beginnt schon Monate, in vielen Fällen sogar Jahre vorher. Dass Joachim Löw dem kicker erzählte, er habe mich für die letztlich ausgefallenen Länderspiele gegen Spanien und Italien für die deutsche Nationalmannschaft nominieren wollen, ließ die Aktie Robin Gosens auf dem Markt weiter steigen. Plötzlich war ich in aller Munde. Immer wieder bekam ich von Freunden und Fans Statistiken mit den offensivgefährlichsten Außenverteidigern Europas zugeschickt. Und da stand mein Name vor Trent Alexander-Arnold, der drauf und dran war, mit Liverpool zum ersten Mal nach 30 Jahren englischer Meister zu werden. Vor solchen Granaten wie Joshua Kimmich oder Alphonso Davies. Irgendwer, da war ich mir fast sicher, würde es sicher versuchen, mich von Atalanta wegzulotsen. 

Ich sagte meinem Berater Gianluca, dass er mal bei Luca Percassi nachfragen sollte, was er für mich forderte. Im Sommer zuvor waren es noch zehn Millionen Euro gewesen. Percassis Antwort: das Doppelte. 20 Millionen Euro für Robin Gosens, einen Linksverteidiger. Wir brauchen nicht darüber zu reden, was das für eine viel zu hohe und total absurde Summe ist, aber ich bestimme nicht den Markt. Es war schließlich nicht meine Schuld, dass der Transfermarkt in den vergangenen Jahren so aus den Fugen geraten ist. Sei‘s drum.

Weder Gianluca, noch Atalanta, noch meine Wenigkeit wussten, was das Coronavirus für Auswirkungen auf den Transfermarkt haben würde. Klar war, dass bei einer Fortsetzung der Saison keine Zuschauer in die Stadien gelassen werden würden. Und dass das womöglich noch für lange Zeit so bleiben würde. Für fast alle Klubs bedeutete das den Verlust von vielen Millionen Euro. Davor musste sichergestellt werden, dass der Spielbetrieb überhaupt fortgesetzt werden konnte. Sonst hätte ich mich mit einem Wechsel überhaupt nicht zu beschäftigen brauchen. Dann wären viele Vereine, wahrscheinlich sogar Schalke, einfach von der Bildfläche verschwunden. Pleite, tschüss, aus die Maus.

Gianluca stimmte mich trotzdem positiv. Er sagte mir, dass ich mich darauf einstellen solle, in diesem Sommer den Verein zu wechseln. Und tatsächlich meldete sich bald der erste Interessent. Mitte März meinte Gianluca, dass er eine Anfrage von Brighton & Hove Albion erhalten habe und man mich gerne kennenlernen würde. Brighton, so viel verriet das Internet, hatte sich zwar in der Premier League etabliert, dort aber regelmäßig mit dem Klassenerhalt zu kämpfen. Aber immerhin: Premier League. Das wollte ich mir gerne anhören, was hatte ich schon zu verlieren? Ich saß doch sowieso nur Däumchen drehend in der Wohnung fest, wenn wir nicht gerade unsere Runden im Innenhof abspulten. Eine Entscheidung würde ich jetzt ohnehin nicht treffen. 

Gianluca arrangierte ein Zoom-Meeting, zu dem neben uns beiden Paul Winstanley, der „Head of Recruitment“ von Brighton, zugeschaltet war, ein sympathischer Kerl Ende 40. Ich ging das Gespräch ganz locker an. Sollte der gute Paul mal erzählen, warum ich von einem Champions-League-Teilnehmer zu einem Abstiegskandidaten wechseln sollte. Er legte los und sagte, dass mich die Scouts seit drei Jahren beobachten würden und jetzt das Gefühl hätten, dass ich bereit wäre für den Schritt in die Premier League. Körperlich hätte ich die Voraussetzungen immer mitgebracht, jetzt aber auch die technischen und taktischen Fertigkeiten. Er sagte mir, dass Trainer Graham Potter mich für die linke Seite einplante. Was für eine Überraschung. Brighton spielte wie Atalanta in einem 3-5-2- bzw. 5-3-2-System. Meine Rolle würde sich also nicht großartig ändern, auch wenn Potter seine Mannschaft wohl kaum so offensiv spielen ließ wie Gasperini. Im Idealfall, führte Mister Winstanley aus, würde ich mich innerhalb von zwei Jahren noch mal ein bisschen verbessern und dann an einen der Top-Fünf-Klubs in England verkauft werden: „Junge, wir würden dich gerne holen. Spiel bitte zwei Jahre gut, und dann machen wir noch mal richtig Asche mit dir. Einverstanden?“ Klar, Boss!

Er sagte auch, dass ihm sehr wohl bewusst sei, dass ich mit Brighton wohl niemals in der Champions League spielen würde. „Aber wir bieten dir hier die Plattform, dich in der besten Liga der Welt noch mal weiterzuentwickeln, um dann zu einem der ganz großen Klubs zu wechseln.“

War das wirklich das, was ich wollte? Mein 26. Geburtstag stand kurz bevor, in dem Alter erreicht ein Fußballer in der Regel jene Phase, in der Körper und Geist perfekt aufeinander abgestimmt sind. Wenn du reif genug und gleichzeitig weit genug bist. Wenn man viele Jahre Erfahrung auf dem Buckel hat und weiß, wie der Hase läuft. Brauchte ich da noch mal zwei Jahre Entwicklung bei einem Verein, mit dem ich garantiert nicht international spielen würde? Ich war mir unsicher, obwohl das Gespräch eigentlich echt angenehm verlief. Über Zahlen und Verträge wurde noch nicht geredet. „Überleg dir das einfach mal“, sagte er, bevor er sich verabschiedete. Er wollte mir gleich danach noch ein Video senden, eine Art Image-Film, damit ich den Klub besser kennenlernen konnte. Das Video dauerte zweieinhalb Minuten und zeigte in aller Kürze, was ich wissen musste: Bodenständiger Verein, überragendes Vereinsgelände, coole Stadt direkt am Meer und leidenschaftliche Fans. Alles in allem ein sehr guter erster Eindruck. Dabei blieb es aber auch erst mal.

Anfang April rief Gianluca wieder an und erzählte mir, dass er gerade mit dem Sportdirektor von Atletico Madrid gesprochen hatte. Andrea Berta, ausgerechnet ein Italiener. Auch Atletico, sagte Gianluca, hatte angeblich starkes Interesse und angefragt, wie teuer ich denn wäre und ob ich überhaupt Lust hätte. Was für eine Frage. Natürlich hatte ich Bock auf einen Wechsel nach Madrid, zu einer der größten Adressen Europas mit dem vermutlich verrücktesten Trainer von allen. Diego Simeone ist eine Attraktion für sich, wie er da regelmäßig an der Seitenlinie rumhampelt und das Reklamieren einfach perfektioniert hat. Atletico spielte regelmäßig ganz vorne in der Champions League und der nationalen Meisterschaft mit. Alleine die Namen: Simeone, Diego Costa, Koke, Joao Felix. Was für Zocker. Also ja, Interesse war da. Gianluca bremste meine Euphorie ein wenig und wollte mir nicht zu viel versprechen, sondern einfach von dem Anruf berichten. Nicht mehr und nicht weniger.

Und dann plätscherten die Tage wieder dahin. Brettspiele, studieren, joggen im Innenhof, kochen, essen, warten. Im Mai stand fest, dass die Saison im Juni fortgesetzt werden konnte. Also konzentrierte ich mich erst mal wieder aufs Hier und Jetzt mit Atalanta. Hieß: mindestens Vierter werden und nächstes Jahr wieder Champions League spielen. Auch falls es ohne mich wäre, aber das wollte ich trotzdem schaffen.

In allen Topligen Europas – außer in Frankreich – stiegen die Mannschaften wieder ins Training ein. Wie befürchtet, ging es ohne Zuschauer weiter. Die Geschäftsführer und Sportdirektoren waren deshalb primär damit beschäftigt, die Scherben aufzusammeln und zu gucken, was diese Heimspiele vor leeren Rängen für finanzielle Folgen haben würden. So Pi mal Daumen hätte ich es ihnen auch verraten können: verheerende. Bedeutete auch, dass die Vereine vorerst andere Sorgen hatten als zukünftige Transfers. Rund um den Re-Start wurde es also relativ ruhig, was den Kontakt zwischen mir und Gianluca betraf. Ich versuchte, das Positive aus der Angelegenheit zu ziehen, und sagte mir, dass ich ab jetzt eben noch besser spielen musste, damit ein paar Vereine gar keine andere Wahl hatten, als ihr Geld in mich zu investieren. „Wenn in diesem Sommer ein Linksverteidiger den Verein wechselt“, dachte ich, „dann bin ich das.“

Und ich machte meine Arbeit gut, sammelte vier Assists und traf sowohl gegen Lazio als auch gegen Neapel, also zwei der ganz großen Namen. Wie zuvor in der Saison schon gegen Inter und Juventus. Erst am letzten Spieltag mussten wir gegen Inter die erste Niederlage seit Ende Januar hinnehmen, zu dem Zeitpunkt war aber schon längst klar, dass wir auch in der kommenden Saison Champions-League-Fußball spielen würden. Hinter diese Mission konnte ich einen Haken setzen. Wie auch hinter meine Statistiken. Kein Außenverteidiger in Europa war besser, dabei blieb es bis zum Schluss. Zehn Tore und acht Vorlagen. Schon nicht ganz so verkehrt, oder? Ich war mir sicher, dass es in diesem Sommer mit einem Wechsel klappen würde. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Weil ich meinen Marktwert mindestens verdoppelt hatte, war ich für die Berateragentur natürlich auf einmal heißeste Ware. Gianlucas Vorgesetzter führte ein ziemlich ekliges Gespräch mit mir: „Du bist jetzt der wichtigste Spieler, bla bla. Wir machen richtig Cash mit dir diesen Sommer, bla bla. Du wirst auf jeden Fall zu einem Topverein wechseln, bla bla.“ Die funkelnden Eurozeichen in seinen Augen konnte ich selbst durchs Telefon sehen. Selbstredend ging es ihm nur ums Geld. Hauptsache, ich kostete möglichst viel Ablöse, damit auch eine entsprechende Provision dabei raussprang. Immerhin gab er mir die Sicherheit, dass es was werden würde mit einem Wechsel. Selbst Luca Percassi nahm mich nach dem Champions-League-Turnier in Lissabon noch mal zur Seite und versicherte mir, dass ich verkauft werden würde, sofern das passende Angebot reinflatterte. Ich sei der Spieler, „der am meisten Gewinn einbringen wird“. Das war völlig okay für mich, denn so lief das Business nun mal.

In den Medien las ich fast jeden Tag Gerüchte über mich. Inter? Juventus? Oder doch Chelsea? Wenn solche Namen fallen, vergisst du Brighton & Hove Albion natürlich schnell. In den sozialen Medien bombardierten mich Fans mit „Come to XY“-Nachrichten. Ich kam kaum zur Ruhe. Der Transfermarkt fuhr Karussell in meinem Kopf.

Und dann passierte: gar nichts. Gianluca sagte, dass all die im Internet genannten Vereine bei ihm angerufen hätten. Aber mehr halt nicht. Immer wieder hieß es: „Wie sieht’s aus? Ja okay, ja, ja, wir müssen schauen. Corona und so.“ Juventus, Inter, Chelsea, Hertha BSC oder Atletico. Sie alle erzählten ihm das gleiche. Das konnte ich natürlich nachvollziehen, aber es war doch ziemlich zermürbend, gedanklich schon nach London oder Madrid oder Mailand zu wechseln, und dann doch wieder nichts in der Hand zu haben.

In den letzten Augusttagen passierten zwei entscheidende Dinge direkt hintereinander. Am 25. August gab Joachim Löw öffentlich bekannt, dass ich jetzt auch wirklich erstmals bei der deutschen Nationalmannschaft dabei sein würde. Das, war ich mir sicher, musste meine Aktie an der Börse erneut steigen lassen. Außerdem wechselte am 26. August Ben Chilwell für 50 Millionen Euro von Leicester City zum FC Chelsea. Zumindest ein Klub hatte also seinen Linksverteidiger gefunden und damit Geld für zwei Robin Gosens in die Hand genommen. London konnte ich zwar streichen, aber vielleicht würde das Karussell ja jetzt endlich Fahrt aufnehmen. Nicht nur in meinem Kopf.

Wie es der Zufall wollte, machte sich Leicester City mit dem frischen Geld auf nach Italien und klopfte bei Luca Percassi an die Tür. „Pass auf“, ließen sie ausrichten, „wir haben 50 Millionen Euro und würden dafür gerne Robin Gosens und Timothy Castagne kaufen.“ Damit lag das erste konkrete Angebot auf dem Tisch. Jetzt wurde Tacheles geredet.

Der Logik nach fiel die Rechnung ganz simpel aus: 20 Millionen Euro für mich und vermutlich ein bisschen weniger für Castagne. Er war den Großteil der Saison entweder mein Backup gewesen oder hatte sich auf der rechten Seite mit Hans Hateboer abgewechselt. Also vielleicht 15 Millionen Euro. 20+15=35. So blieben Leicester, zumindest laut meiner Rechnung, sogar noch 15 Millionen Euro über, um Timothy und mir vielleicht ein schönes Haus zu kaufen. Mit Schleife drum. Wie ich schnell feststellen sollte, rechneten Atalanta und Leicester ganz anders als ich. Auf einmal hatten beide Vereine schon einen Deal für Castagne eingefädelt. Er sollte 25 Millionen Euro kosten, warum auch immer. Das hieß dummerweise auch, dass Atalanta, wenn Castagne denn schon so teuer war, natürlich noch mal mehr für mich verlangte. Castagne war zwar zwei Jahre jünger als ich und vielleicht ein bisschen flexibler, was die Position betraf. Er konnte schließlich sowohl rechts als auch links spielen. Aber wenn ich seine Werte mit meinen verglich, dann war Atalantas Schlussfolgerung leider richtig. „Leider“, weil aus ursprünglich 20 Millionen Euro jetzt 35 wurden. Und 25 für Castagne plus 35 für Gosens ergeben 60, also zehn Millionen Euro zu viel. So viel wollte Leicester dann doch nicht zahlen. Für mich ein Schlag ins Gesicht. Nicht nur, weil ich mir Leicester abschminken konnte. Einen Verein, der in der Premier League nur knapp die Top Vier verpasst hatte. Atalanta hatte meinen Marktwert zugleich um 15 Millionen Euro angehoben. Das würde ganz sicher auch für andere Verhandlungen nichts Gutes bedeuten. Wer zahlte denn in Zeiten von Corona 35 Millionen Euro für einen Linksverteidiger? Chelsea mal ausgenommen. Mir fielen nicht sehr viele Kandidaten ein.

Ich hatte mir geschworen, dass es nach dem Schalke-Desaster im Vorjahr nicht mehr vorkommen würde, und doch hatte ich mich wieder komplett in dieses Transfertheater reingesteigert. Und langsam begriff ich, dass es offenbar auch in diesem Jahr schwierig werden würde. Obwohl nicht nur Gianluca, sondern auch Luca Percassi das Gegenteil behauptet hatten. Ein bitteres Déjà-vu, auch weil ich wieder das Gespräch mit Percassi suchte. „Luca, worüber reden wir hier?“, fragte ich fast resigniert, „35 Millionen Euro sind doch unfassbar.“ Seine Antwort: „Wie soll ich das jetzt rechtfertigen, wenn ich dich für 20 Millionen Euro ziehen lasse würde?“

Was sollte ich dazu sagen? Auf perfide Art und Weise hatte er ja recht. Auch er konnte nichts für diesen gestörten Transfermarkt. Aber es war nun mal jetzt der Zeitpunkt für mich gekommen, Atalanta zu verlassen. Da wollte ich keiner Logik folgen. Mir war klar, dass es ganz schwierig werden würde, eine solche Saison mit solchen Zahlen zu wiederholen. Jetzt war der perfekte Moment gekommen, jetzt musste ich zu einem größeren Klub. Und würde da, auch das gehört zur Wahrheit, so viel Geld verdienen, dass auch meine Enkelkinder noch etwas davon hätten. Chelsea hatte sich also erledigt, Brighton sowieso. Und jetzt auch Leicester. Rabea wäre ohnehin nur sehr ungern nach England gezogen, vielleicht war es also auch einfach ein Wink des Schicksals.

Als Nächstes klopfte Inter Mailand an. Und zwar sehr fest. Ich hatte gerade mein Debüt für die Nationalmannschaft gefeiert, als die Mailänder den nächsten Gang einlegten. Das Problem: Es gab halt schon wieder ein Problem. Ich wollte nichts mehr von Problemen hören. Inters Problem sah so aus, dass sie schon vier schwere Geldkoffer mit jeweils zehn Millionen Euro nach Madrid geschickt hatten, um Achraf Hakimi für die rechte Seite zu holen. Hakimi hatte die vergangenen zwei Jahre als Leihspieler bei Borussia Dortmund ein ziemlich krasses Level erreicht, zumindest offensiv. Über seine Abwehrarbeit durfte man durchaus noch streiten. Vielleicht ließ Real Madrid ihn deshalb ziehen, oder sie brauchten das Geld. Wie auch immer, jedenfalls sagte Inter klipp und klar, dass sie nicht noch mal so viel Geld in einen Außenverteidiger investieren konnten und würden. Sie boten Atalanta ein Tauschgeschäft an: Wenn ich zu Inter ging, bekam Atalanta im Gegenzug Dalbert, also einen neuen Linksverteidiger, und dazu ein paar Millionen oben drauf.

Ich war bereit dazu, wollte unbedingt zu Inter wechseln. Ich konnte in Norditalien bleiben, in Mailand, noch ein kleines Stück näher an der Heimat. Und bei einem Klub, der aber mal richtig Dampf machte, um zum ersten Mal seit 2010 wieder italienischer Meister zu werden. Hakimi rechts, Gosens links, im Zentrum Nicolo Barella oder Christian Eriksen und vorne Romelu Lukaku und Lautaro Martinez. Das war einfach noch mal eine andere Hausnummer als Atalanta. Den Erfolg, den ich in Bergamo hatte, würde ich in Mailand am ehesten wiederholen können. Und noch dazu vielleicht Meister werden. Bei Inter wäre ich in der Elite angekommen, der perfekte nächste Schritt.

Neue Woche, gleicher Scheiß: Es klappte nicht. Atalanta wollte diesen Dalbert nicht haben. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Meine Frustration wuchs ins Unermessliche. Warum musste das alles immer so kompliziert sein? Warum konnte es nicht einfach wie bei Castagne laufen? „Hier, 25 Millionen Euro, bitte schön und tschüss. Schönes Leben noch.“ Nein, bei mir musste immer irgendwas dazwischenkommen. So wie in Spanien, wo Atletico erst Geld einnehmen musste, bevor sie etwas ausgeben konnten.

Was blieb noch übrig? Nichts mehr, dachte ich. Rabea und ich hatten zwischendurch sogar überlegt, schon mal ein paar Kartons zu packen, damit der Umzug, wenn es dann so weit war, nicht so lange dauerte. Wir hatten beide mit der Ungewissheit zu kämpfen. Würden wir nach Spanien ziehen? Zurück nach Deutschland? Oder doch in Bergamo bleiben? Rabea ist ein Mensch, der eine gewisse Planungssicherheit braucht, für sie war diese Phase alles andere als einfach.

Ein Angebot kam noch, und zwar erneut aus England. Ende September schickte mir Gianluca immer wieder Screenshots von einem Chatverlauf mit David Moyes. Den Namen hatte ich noch nie gehört. Das konnte ein britischer, genauso gut aber auch ein spanischer Name sein. Wie sich herausstellte, war er der Trainer von West Ham United und einst auch mal der auserwählte Nachfolger von Sir Alex Ferguson bei Manchester United gewesen. Jedenfalls war dieser David Moyes ganz erpicht darauf, mich kennenzulernen. Nicht nur das: West Ham, das dem Abstieg aus der Premier League wieder mal nur knapp entgangen war, hatte Gianluca bereits einen Vertragsentwurf geschickt. Und als ich da reinschaute, wäre mir fast die Kinnlade runtergefallen. Man soll ja nicht über Geld sprechen, deswegen verrate ich mal nur so viel: Mit diesem Vertrag hätte ich mir einen neuen Scirocco und dazu noch sieben Autohäuser kaufen können. Wenn ein Abstiegskandidat aus der Premier League mir so viel Geld zahlen konnte, brauchte ich mich auch nicht mehr wundern, warum jeder halbwegs gestandene Profi inzwischen nach England wechselte. West Ham also. War es wirklich das, was ich wollte? Auf einen Schlag hätte ich finanziell ausgesorgt, aber sportlich würde ich mindestens vier Schritte zurückgehen. So reizvoll die Premier League auch war. Im schlechtesten Fall würde ich mit West Ham absteigen und in der Versenkung verschwinden. Was nützte es mir da, stinkreich zu sein? Ich war ja all die Jahre nicht aus Spaß die Wälder in Rovetta heulend rauf und runter gelaufen, damit Gasperini mir endlich sein Vertrauen schenkte. Ich hatte mich doch nicht in Dortmund vor versammelter Truppe erniedrigen lassen, um jetzt dem verführerischen Duft des Geldes zu folgen. Das war es wirklich nicht wert, dafür konnte ich die Champions League nicht sausen lassen. Denn, und das war schon immer so, Geld war und ist nie mein Antrieb gewesen. Ich will aus meiner Karriere sportlich das Maximale herausholen, will so weit kommen, wie es geht, so viel gewinnen, wie nur möglich, und zeigen, dass man eine überragende Karriere auch auf krummen Wegen hinlegen kann. Ich möchte mir nach meiner aktiven Laufbahn nicht vorwerfen müssen, nicht alles in meiner Macht Stehende getan zu haben, um maximal erfolgreich zu sein. Mich für das Geld und gegen den sportlichen Erfolg entschieden zu haben. Im besten Fall passen natürlich auch die finanziellen Bedingungen, aber das Sportliche steht für mich immer an erster Stelle. Für mich. Das heißt nicht, dass ich mit dem Finger auf andere zeige. Ich sage nichts gegen Spieler, die nach Katar wechseln, um sich die Taschen zu füllen. Jeder setzt andere Prioritäten. Und wenn jemand so viel wie möglich verdienen möchte, um sich danach ein Babo-Leben zu ermöglichen, dann ist das völlig okay und seine eigene Entscheidung. Nur bitte stell dich dann nicht vor die Presse und sag, dass du dich wegen des tollen sportlichen Projekts für den Verein auf der Sandbank entschieden hast. Das glaubt dir doch sowieso kein Mensch!

Zurück nach London. Selbst Joachim Löw warnte mich: „Wir nähern uns dem EM-Jahr. Es wäre sehr wichtig für dich, weiter auf internationalem Topniveau zu spielen.“ Und wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel Pause.

West Ham hatte sich die Jahre zuvor einen solchen Schrott zusammengekickt, dass es für Atalanta-Fans eine Beleidigung gewesen wäre. Das konnte ich auch ihnen nicht zumuten. West Ham war letztlich der einzige Transfer, der vielleicht sogar zustande gekommen wäre. Aber diesmal war ich derjenige, der ablehnte. So eilig hatte ich es dann doch nicht. Und damit blieb von einigen Optionen keine einzige mehr übrig. Wieder mal blieb ich in Bergamo. Wieder nicht ganz freiwillig. Wäre das Coronavirus nicht gewesen, würde ich heute nicht mehr in Bergamo leben, da bin ich mir sicher.

Und damit sind wir wieder beim Anfang. Während ich verbissen darum gekämpft hatte, zu einem größeren Verein zu wechseln, verloren andere Menschen ihre Jobs, ihre Liebsten, ihre Existenzen. Ich weiß sehr wohl, dass ich ein sehr privilegierter Mensch bin, dessen Jammerei hier für viele wahrscheinlich kaum auszuhalten ist. Aber in diesem Buch steht nun mal meine Geschichte, und da muss ich ja erzählen dürfen, wie es mir ging. Ich hatte die beste Saison meiner Karriere gespielt, aber aufgrund der Pandemie kam ein Wechsel nicht zustande. Das war beschissen, aber ich musste und konnte es aufgrund dieser Umstände akzeptieren. Atalanta hatte zwar viel zu viel Geld für mich gefordert, aber letztlich wollte es das Schicksal wohl einfach so. Und was bei dieser ganzen Heulerei vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen ist: Ich spielte ja mittlerweile auch sehr gerne für den Verein. Ich genoss das Vertrauen des Trainers und der Verantwortlichen, hatte meinen Platz in der Mannschaft gefunden und wurde von den Fans geschätzt oder sogar ein bisschen geliebt. All diese für einen Fußballer essenziellen Faktoren wären bei einem neuen Verein erst mal weggefallen. Da würde alles bei null beginnen. Vielleicht nicht schlimm, es gehört dazu. Andererseits: Ich musste mir überlegen, ob ich das, was ich mir in den letzten Jahren erarbeitet hatte, leichtfertig wegwerfen wollte, um einen Wechsel, den ich mir in den Kopf gesetzt hatte, mit aller Macht zu erzwingen.

Ich war gerade Nationalspieler geworden, hatte in der Champions League beinahe Paris Saint-Germain und Neymar rausgekegelt und würde in der nächsten Saison vielleicht wieder die Chance dazu bekommen. Mein Leben hätte schon wesentlich schlechter laufen können.