25. November 2020
Alleine hier zu stehen. Diesen Rasen zu riechen. Die Stille zu spüren. All das, was ich als Kind mit Wachsmalstiften aufs Papier gekrickelt hatte, wurde nun real. Nur wesentlich schöner, als ich es je hätte zeichnen können.
Eigentlich wollten wir uns an einem Dienstag um 12.30 Uhr am Vereinsgelände treffen, von dort aus gemeinsam zum Flughafen fahren, um dann Richtung Liverpool abzuheben. Eigentlich, denn der Flieger war kaputt. Die Fluggesellschaft musste einen neuen schicken und wir unsere Pläne über den Haufen werfen.
Es war Ende November 2020, einen Tag vor dem vierten Gruppenspiel in der Champions League. Das Rückspiel in Liverpool, an einem der majestätischsten Fußballorte der Welt, der Anfield Road. Hier wollten wir uns für die Blamage drei Wochen zuvor revanchieren. Ich hatte verletzt gefehlt und mit ansehen müssen, wie die Jungs komplett überrollt wurden. 0:5. Aber die Ausgangslage blieb eigentlich unverändert. Wir rechneten damit, dass Liverpool diese Gruppe wohl gewinnen, Midtjylland Letzter werden würde und wir gemeinsam mit Ajax Amsterdam um den zweiten Platz streiten würden. Und genauso sah es nach den Hinspielen auch aus. Midtjylland hatten wir zum Auftakt in Dänemark von der Platte geputzt und gegen Ajax einen 0:2-Rückstand noch zu einem 2:2 umgebogen. Und gegen Liverpool … Wie gesagt. Während wir also nach England flogen beziehungsweise fliegen wollten, machte sich Ajax bereit, gegen Midtjylland auch das Rückspiel zu gewinnen. Der große Showdown würde am letzten Spieltag im direkten Duell zwischen uns und Ajax stattfinden. Siegen oder fliegen. Jetzt ging es erst mal darum, das Hinspiel gegen Liverpool vergessen zu machen und das Gesicht zu wahren. Wir konnten uns unmöglich noch mal so präsentieren wie beim Hinspiel.
Aber jetzt war ich ja auch wieder am Start …
Aus unserem Plan, am Nachmittag in Liverpool zu landen und abends an der Anfield Road zu trainieren, wurde nichts. Das sorgte in der Mannschaft für Unmut. Alle hatten sich so sehr darauf gefreut, diesen Fußballtempel bereits einen Tag vor dem Spiel zu betreten, ihn zu beschnuppern und zu fühlen. Nur der kleine Robin, der lachte sich ins Fäustchen. Vor Europapokal-Spielen wird zu den Pressekonferenzen neben dem Trainer immer auch ein Spieler gebeten, und in Liverpool fiel die Wahl auf mich. Große Lust hatte ich zwar nicht darauf, aber gleichzeitig bedeutete es, dass ich schon mal die Anfield Road abchecken konnte, und zwar ganz allein!
Mit reichlich Verspätung hoben wir am Flughafen Milan-Bergamo ab, und im Flugzeug war zu spüren, dass die Jungs absolut heiß waren. Ich habe wirklich ein Gespür dafür, die Stimmung innerhalb der Mannschaft zu deuten. Wir waren mit drei fulminanten Siegen in die Serie-A-Saison gestartet und hatten die Tabellenspitze erobert, dann aber ein wenig den Faden verloren. Es ist gar nicht so leicht, der Favoritenrolle gerecht zu werden. Das kleine Atalanta hatte zweimal in Folge die Champions League erreicht und in der Vorsaison alles kurz und klein geballert. Die Erwartungen waren jetzt sehr hoch, ein Platz unter den ersten Vier in der Liga fast schon fest eingeplant. Bei vielen Kollegen schien dieser Gedanke jetzt, mit etwas Verspätung, anzukommen, dadurch blieb der Spaß an unserem Spiel bisweilen etwas auf der Strecke. Jammern auf hohem Niveau, schließlich waren wir nach acht Spieltagen lediglich auf Platz sechs „abgerutscht“. Trotzdem waren der Trainer und wir selbst nicht glücklich über die jüngsten Auftritte. Ein Umschwung musste her. Warum nicht im Fußballtempel vom FC Liverpool? Die Jungs hatten Bock, das konnte ich spüren. Ich auch. „Morgen rappelt’s“, sagte mir eine innere Stimme. Ich hörte ihr gerne zu.
Wir waren sehr gut vorbereitet, hatten das Hinspiel genau analysiert und unsere Fehler aufgedeckt. Fehler, die man gegen Liverpool auf keinen Fall machen durfte. Wir mussten vermeiden, ihnen so große Räume anzubieten, und durften nicht so viele lange Bälle in die Schnittstellen zulassen. Damit ein Sprinter wie Mohamed Salah gar nicht erst loszulaufen brauchte. Wir durften uns vor allem nicht wehrlos präsentieren. Aber das würden wir nicht, da war ich mir sicher.
Nach der Landung ging es direkt zum Stadion, also für mich, den Trainer und den Pressesprecher. Der Rest des Teams fuhr mit dem Bus zum Hotel. Ätsch. Das Stadion in Anfield steht mitten in einer Wohnsiedlung, überragt aber alle umliegenden Häuser und ist bereits aus mehreren Kilometern Entfernung zu erkennen. Wie ein kleines Kind schaute ich aus dem Fenster des Minivans. Ein Security-Mann ließ uns passieren. Ich ging durch die Katakomben und die Treppenstufen hinab, unter der ikonischen „This is Anfield“-Tafel durch den Spielertunnel. Ich musste sie natürlich anfassen, das ging gar nicht anders. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Steven Gerrard dort 2015 runterging, mit einer Tochter im Arm, den anderen beiden an seiner Seite, und sich nach all den Jahren als Spieler von den Fans verabschiedete.
Und dann stand ich draußen. Der Anblick erschlug mich. Wenn Nostalgie ein Gesicht hätte, dann dieses Stadion. Die roten Sitzschalen, die Liverpool-Banner, The Kop! Die legendärste Tribüne der Welt. Hier waren schon Träume wahr geworden, als selbst mein Papa noch Quark im Schaufenster war. Und jetzt stand ich hier und sah diese Schönheit vor mir. Saugte sie auf, lauschte und schnupperte. Dieser Rasen war nicht irgendein Rasen. Ich hatte in meinem Leben vorher noch keinen Teppich gesehen, der so perfekt war wie dieser Fußballplatz. Das war fast unmöglich, vor allem zu dieser kalten und nassen Jahreszeit. Wo war der Haken? Genau das fragte ich den Greenkeeper, der mir den Zutritt auf den Platz gewährt hatte. „Für uns ist das ein Traum, hier jeden Tag arbeiten zu dürfen“, sagte er. „Wir machen alles, damit sich die Spieler wohlfühlen. Das hier ist der heilige Ort.“ Einen Haken gab es also offenbar nicht.
Auch Liverpools Pressesprecher, mit dem ich kurz plauderte, gab mir das Gefühl, dass es alles andere als selbstverständlich war, hier zu stehen. Das soll jetzt nicht zu pathetisch klingen, aber es fühlte sich einfach unglaublich an. Surreal. Ich musste daran denken, wie die Liverpooler Spieler im Mai 2019 Arm in Arm vor The Kop standen, mittendrin Jürgen Klopp, nachdem sie ein 0:3 im Hinspiel in Barcelona in ein 4:0 im Rückspiel gedreht hatten und damit ins Champions-League-Finale eingezogen waren. Und wie die Fans das lauteste „You‘ll never walk alone“ schmetterten, dass die Welt je gehört hatte. Ich bekam wieder Gänsehaut bei der Vorstellung, wie ich sie auch damals vorm Fernseher bekommen hatte. Hier wurden Helden geboren. Ich zog mein Handy aus der Tasche. Das musste ich filmen und fotografieren. Einrahmen für die Ewigkeit. Und außerdem musste ich es den Jungs schicken, damit sie sich schon mal freuen konnten auf diesen Tempel. Ich bekam lauter Flammen-Emojis und glühende Augen zurück. Mein Instinkt hatte mich also nicht im Stich gelassen. Alle waren richtig heiß auf dieses Spiel.
Auf der Pressekonferenz sprach mich ein italienischer Journalist darauf an, dass ich fast auf den Tag genau drei Jahre zuvor beim Europa-League-Spiel in Everton, also nicht mal eine Meile weiter nördlich, mein erstes Tor für Atalanta geschossen hatte. Ich antwortete, dass ich mir vorgenommen hatte, morgen wieder zu knipsen. Vor allem, weil mir am Wochenende zuvor ein wunderschönes Tor nachträglich aberkannt worden war, da Duvan Zapata, der den Ball verlängert hatte, zwei Zentimeter im Abseits gestanden hatte. Es waren diese kleinen Nadelstiche, die in mir zusätzlichen Ehrgeiz weckten.
Zurück am Hotel, übrigens ein schicker Schuppen im Vintage-Style, legte ich die Füße hoch und rief Rabea an. Ich war so voller neuer Eindrücke, dass ich ihr gleich beide Ohren abkauen konnte.
Der Tag des Spiels verlief routinemäßig: Frühstück, Anschwitzen, Mittagessen, Ausruhen, Abfahrt. Für das Anschwitzen hatten wir einmal quer durch Liverpool fahren müssen und dadurch sehen können, welche Rolle der Fußballklub in dieser, nun ja, nicht gerade wunderschönen Stadt spielt. Überall hingen Plakate von Jürgen Klopp, von Mohamed Salah oder irgendwelche Mannschaftsfotos. Kein Wunder, diese Jungs hatten der Stadt ein paar Monate zuvor den ersten Meistertitel nach 30 Jahren Wartezeit gebracht und 2019 die Champions League gewonnen. Und vor allem spielten sie seit Klopps Ankunft im Herbst 2015 einen begeisternden Vollgasfußball. Oder, wie es die Presse mal bezeichnete: Heavy-Metal-Fußball. Klopp geht es eigentlich nicht so sehr um Ballbesitz, eher um die Balleroberung und was danach passiert. Doch je dominanter Liverpool im Laufe der Jahre wurde, desto besser stellten sich die Gegner auch drauf ein. Aber Klopp meisterte auch diese Herausforderung. Liverpool war nicht mehr nur die reine Gegenpressing- und Umschaltmannschaft, sondern jetzt auch überzeugend im Ballbesitz. Und vor allem sehr, sehr erfolgreich. 2019 waren sie mit sage und schreibe 97 Punkten nur Vizemeister geworden, weil Manchester City unter Pep Guardiola noch das eine Prozent besser war und 98 Punkte holte. 2020 war es dann soweit und Liverpool am Ende mit 99 Punkten zum ersten Mal seit 1990 Meister. Wäre die Corona-Pandemie nicht gewesen, wäre am Ende der Jubelparaden vermutlich nur noch die Hälfte der Stadt übrig geblieben. Wir bekamen also zumindest ein gutes Gefühl dafür, wie dankbar die Menschen ihrem Team hier waren. Wir kannten das aus Bergamo eigentlich selbst ganz gut, wenn auch ohne Meistertitel und ohne Champions-League-Sieg.
Gasperini fand die richtigen Worte bei seiner Kabinenansprache. „Jungs“, sagte er, „vergesst bitte das Hinspiel. Wir haben Fehler gemacht, die Fehler analysiert und werden sie nicht wiederholen. Wir haben hier heute die Möglichkeit, ein weiteres großartiges Kapitel in der Geschichte von Atalanta Bergamo zu schreiben. Ich glaube nicht, dass ich euch irgendwie noch motivieren muss. Wir spielen hier an der Anfield Road gegen Liverpool, das vielleicht beste Team der Welt. Was soll ich da noch sagen? Für solche Spiele seid ihr Fußballer geworden!“ Wie recht er doch hatte. Das hier war einer dieser Momente, von denen ich ein paar Jahre zuvor noch überhaupt nicht zu träumen gewagt hatte. Und jetzt konnte es losgehen. „Avanti, avanti“, schrien wir uns an. Vorwärts jetzt, auf geht’s!
Die Mannschaften stellten sich in einer Reihe auf dem Feld auf, und die Champions-League-Hymne ertönte. An diese Strophen werde ich mich hoffentlich nie gewöhnen. „Die Beeesten…“ Gänsehaut. Anpfiff. Und Vollgas. Liverpool lief nicht in Bestbesetzung auf, das ging auch gar nicht. Virgil van Dijk, der Big Boss in der Abwehr, fehlte mit einer Kreuzbandverletzung, ebenso wie sein ebenfalls am Knie verletzter Nebenmann Joe Gomez. Roberto Firmino und Diogo Jota, der uns im Hinspiel drei Dinger eingeschenkt hatte, wurden geschont. Übrig blieb eine sehr junge und unerfahrene Viererkette in der Abwehr, ein routiniertes Mittelfeld – unter anderem mit Gini Wijnaldum und James Milner, aber ohne den verletzten Kapitän Jordan Henderson – und dazu eine offensive Dreierreihe mit Salah, Divock Origi und Sadio Mané, den ich mir vorab schon rausgepickt hatte. Nach dem Spiel würde ich ihn nach seinem Trikot fragen. Das rote Teil mit der Nummer 10 würde sich gut in meiner Sammlung neben Julian Draxler, Romelu Lukaku oder Dries Mertens machen. Liverpool lief also nicht mit dem Silberbesteck auf, aber auch nicht mit dem Holzlöffel. Die Jungs konnten schon immer noch gut kicken. Und wenn nicht, saßen Diogo Jota, Firmino oder Fabinho immerhin auf der Bank.
Wir kamen gut rein, es lief gleich viel über meine linke Seite. Schon nach zehn Minuten hätte ich das 1:0 machen können. Oder müssen? Cristian Romero spielte einen wunderbaren Flugball über die Abwehrkette, aber mir rutschte der Ball bei der Annahme leicht über den Schlappen, sodass ich einen Schritt nach außen gehen musste und der Winkel sich verkleinerte. In der Mitte war gerade keiner mitgelaufen, deshalb hielt ich aus 20 Metern halblinker Position einfach mal volle Kanne drauf. Alisson passte auf, reagierte überragend und lenkte den Ball zur Ecke. Pierluigi Gollini und Marco Sportiello, unsere beiden Keeper, sagten mir nach dem Spiel, dass neun von zehn Torhütern meinen Schuss allein wegen des Überraschungsfaktors nicht gehalten hätten. Aber Alisson war eben der eine. Und der nach Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen wohl beste Torwart der Welt.
Wir spielten gut, hatten überhaupt keine Angst und das Hinspiel schnell abgeschüttelt. Liverpool kam kaum rein und brachte nach vorne gar nichts zustande. Wenn, dann hatten wir die Chancen. Den Matchplan, kompakter zu stehen und über lange Bälle hinter Liverpools Abwehrkette zu kommen, setzten wir sehr gut um. Es lief alles nach Plan, nur das Tor fehlte noch. Das Gefühl, das mir die Stimme in meinem Kopf vor dem Spiel eingetrichtert hatte, wurde bestätigt. Hier ging was. Bei einer Ecke gab ich Berat Djimsiti eine Anweisung auf Deutsch und merkte erst dann, dass Joel Matip neben ihm stand und natürlich verstehen konnte, was ich schrie. „Oh, scheiße“, lachte ich. Matip, in Bochum geboren und lange bei Schalke aktiv, schaute mich verwundert an: „Wer kann denn hier noch Deutsch?“ Ich zeigte auf Djimi: „Der ist Schweizer.“ Das stimmte so zwar nicht ganz, denn er war nur dort geboren und eigentlich albanischer Staatsbürger. Aber ob Matip das in der Situation wirklich interessierte? Wir lachten beide und konzentrierten uns auf die Flanke.
In einer anderen Szene rannte ich einem Ball an der Außenlinie hinterher, konnte nicht mehr richtig bremsen und landete in den Armen von Jürgen Klopp. Er schaute mir aus zehn Zentimetern in die Augen und grinste mit seinen strahlend weißen Zähnen: „Alles gut?“ „Ja, klar“, antwortete ich erschrocken und joggte zurück aufs Feld.
In der Kabine sprachen wir uns Mut zu. Wir wollten genau so weitermachen, mit Diagonalbällen hinter die anfällige und hochstehende Kette. Und wir wollten aggressiv bleiben, gallig, gierig.
Das gelang uns auch, unser Selbstvertrauen stieg von Szene zu Szene. Da waren ja auch keine 50 000 Liverpool-Fans, die ihr Team pushen konnten. Es gab keinen Heimvorteil, eher noch einen Auswärtsvorteil, weil wir auf diesem heiligen Rasen vielleicht noch ein bisschen motivierter waren. Für uns war das Neuland, für die Liverpooler ganz normal. Wir kosteten jede Minute aus, und nach einer Stunde belohnten wir uns endlich. Genau wie sich der Trainer das gewünscht hatte. Papu Gomez schlug eine perfekte Flanke aus dem Halbfeld hinter die Kette auf den zweiten Pfosten. Dort stand Josip Ilicic und grätschte den Ball vorbei an Alisson ins Netz.
Klopp hatte offenbar die Schnauze voll und wechselte viermal auf einen Schlag. Und wie. Er brachte Andy Robertson für die linke Abwehrseite, Fabinho fürs Mittelfeld und Roberto Firmino und Diogo Jota für die Sturmspitze. Jetzt holte Klopp sein Silberbesteck aus der Schublade. Doch das war uns egal, wir machten einfach weiter. Weil es auch einfach Spaß machte, wieder Fußball zu spielen. Die Wochen zuvor hatte alles ein bisschen verkrampft gewirkt. Verspannt und erzwungen. Jetzt konnten wir wieder abtauchen in die Außenseiterrolle und einfach unseren Stiefel spielen. Die vier Neuen waren gerade erst auf dem Feld, da schepperte es erneut. Wieder war es Papu Gomez, der von links unbedrängt flanken durfte und am zweiten Pfosten Hans Hateboer fand. Der köpfte den Ball in die Mitte, wo ein gewisser Robin Gosens genau darauf spekuliert hatte und den Ball völlig freistehend volley über die Linie drückte. Und Abfahrt. Ekstase. Mehr ging nicht.
Ja, ich hatte ein Jahr zuvor in Donezk getroffen, und wir waren damals sensationell weitergekommen. Ja, ich durfte schon gegen Juventus, Inter, Neapel oder Lazio ein Tor bejubeln. Aber das hier … Das hier war der Höhepunkt. Ein Tor gegen den FC Liverpool, an der Anfield Road. Und dann auch noch zum 2:0, das womöglich zum Sieg reichte und uns das Weiterkommen ermöglichte. Ich wusste gar nicht wohin mit meinen Emotionen. Auf einen fast schon ungläubigen Stirnrunzler folgte der ausgestreckte Finger. Ich nahm Hans in den Arm und rannte mit ihm Richtung Seitenlinie. Von unserer Bank hörte ich die „Siii“-Rufe. Jaaa, Mann! Geiler konnte es nicht werden. Niemals werde ich diesen Moment vergessen.
Einen Wermutstropfen musste ich noch hinnehmen, weil ich bei einer Aktion wohl etwas unglücklich gelandet war und mit heftigen Knieschmerzen nicht mehr weitermachen konnte. Nach 75 Minuten signalisierte ich dem Trainer, dass er mich bitte auswechseln sollte. Und damit war mein Arbeitstag fürs Erste beendet.
Liverpool blieb auch nach dem 0:2 sehr unkreativ und ungefährlich, tatsächlich auch komplett ohne Torschuss. Unsere Jungs schaukelten das Ergebnis über die Zeit. Atalanta hatte beim FC Liverpool an der Anfield Road gewonnen. Wir mussten uns erst einmal verhauen lassen, um zu begreifen, dass wir verdammt noch mal jedes Team der Welt schlagen konnten. Einfach den Prinzipien treu bleiben und Fußball spielen. Natürlich fällt man immer mal wieder auf die Fresse, aber erst recht, wenn man sich von vornherein in die Hose macht.
Ich schaffte es, das schmerzende Knie bei all der Freude über das Tor und den Sieg auszublenden. Unser Pressechef bat mich nach dem Abpfiff, mich für Interviews zur Verfügung zu halten, weil ich als Spieler des Spiels ausgezeichnet worden war. Die Torte stand schon bereit, und jetzt wurde mir auch noch die Kirsche überreicht.
Schade war nur, dass ich nicht dazu kam, Sadio Mané auf dem Platz direkt anzuquatschen und nach seinem Trikot zu fragen. Dafür blieb wegen der Interviews keine Zeit. Ich beantwortete ein paar Fragen und bekam das Grinsen gar nicht aus den Mundwinkeln, während Jürgen Klopp ungefähr fünf Meter neben mir am Mikrofon der englischen Journalisten stand und das genaue Gegenteil verkörperte. Er wirkte ziemlich angepisst, und ich konnte es verstehen. Liverpool hatte hier völlig verdient verloren. Nachdem wir beide unsere Pflicht erfüllt hatten, stieß ich mit Klopp zusammen. Ich kann mich wegen all der Emotionen nicht mehr genau erinnern, aber sinngemäß sagte er: „Herzlichen Glückwunsch zum Tor. Ihr habt ein geiles Spiel gemacht und verdient gewonnen.“ Ich war etwas erstaunt, stotterte fast ein bisschen: „Danke, danke.“ Das war schließlich Jürgen Klopp, der da vor mir stand. Der Trainer schlechthin, der amtierende Welttrainer. Klopp genießt in England und sicher auch in Deutschland als Trainer eine vielleicht nie dagewesene Popularität. Wenn er spricht, hören alle zu. Ich fühlte mich in diesem Moment wie ein kleiner Fan, der nach einem Autogramm fragte. Vor dem Spiel hatte ich mir eigentlich auch vorgenommen, nach seiner Cap zu fragen, allerdings verließ mich dann im entscheidenden Moment der Mut – immerhin bekam ich eine Umarmung während der Partie. All die Jahre hatte ich zu Klopp aufgeschaut und mich immer mal wieder gefragt, wie es wohl wäre, unter ihm zu spielen. Wie er Spieler führte, sie coachte und für sie einstand … Das würde ich gerne mal erleben.
Er sagte: „Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft. Bleib am Ball, du hast es ja jetzt sogar in die Nationalmannschaft geschafft. Du kannst stolz auf dich sein. Geh deinen Weg weiter.“ Vielleicht übertreibe ich jetzt, aber für mich waren seine Aussagen eine Art Ritterschlag. Eine Bestätigung, dass ich in den vergangenen Jahren offenbar einiges richtiggemacht hatte. Ich war einfach stolz. Er umarmte mich und zog davon. Ich sah, dass Marten de Roon sich noch mit Gini Wijnaldum unterhielt, und da ich ja auch Niederländisch sprach, stellte ich mich dazu und lauschte einfach ein bisschen. In all dem Eifer vergaß ich völlig, mich noch um ein Trikot eines Liverpool-Spielers zu kümmern. Also schlich ich mich nach dem Duschen in Richtung Liverpool-Kabine und fragte dort ganz dreist, ob ich mir das Trikot von Mané schnappen könnte. Er selbst war schon gegangen, deshalb sagte mir ein Zeugwart, der die Wäsche zusammensuchte, Mané habe sein Trikot schon jemand anderem gegeben. Uff. Blöd. Zufällig traf ich Mané kurz vorm Ausgang und sprach ihn an. „Hast du vielleicht noch ein Trikot für mich?“, fragte ich wie ein nervöser Zehnjähriger. „Nein, sorry Bro“, sagte er und lächelte, wie er es immer tat. Ich kannte ihn zwar nicht persönlich, aber nach allem, was ich so mitbekommen hatte, musste er einer der nettesten Typen auf diesem Planeten sein. In seinem Heimatland Senegal hat er Schulen bauen lassen. Genau solche Menschen braucht diese Welt. Jedenfalls sagte er mir, dass er sein Trikot schon unserer Nummer 11 gegeben hatte. Remo Freuler, du kleiner Drecksack. Der wollte eigentlich nie irgendwelche Trikots haben, und jetzt schnappte er mir ausgerechnet das eine weg. Ich sprach Remo im Bus darauf an, und er entschuldigte sich lachend in seinem Schweizerdeutsch. „Ich kenne doch Xherdan ganz gut.“ Xherdan Shaqiri, spielte bei Liverpool und gemeinsam mit Remo in der Schweizer Nationalmannschaft. „Ich lasse dir eins zuschicken“, versprach Remo.
Und so bekam mein perfekter Tag an der Anfield Road am Ende noch eine große liverpool-rote Schleife verpasst. Ich sagte es ja: Träumen lohnt sich.