Kapitel 6


STUTTGART

3. September 2020

Ich musste anhalten und rechts ranfahren.

Soeben hatte ich einen Anruf erhalten, mit dem ich nie gerechnet, den ich aber schon immer herbeigesehnt hatte. Der wichtigste Anruf meines Lebens. Und ich hätte mir nie verzeihen können, wenn in diesem Moment plötzlich die Verbindung abgerissen wäre.

Aber lasst mich erzählen, wie es überhaupt zu diesem Anruf kam.

Es war Ende Juli 2020, noch eine Woche bis zum letzten Spieltag in der Serie A. Diese wegen der Corona-Pandemie so eigenartige und so lange Saison war für uns trotz aller Widrigkeiten in Bergamo nahezu perfekt verlaufen. „Nahezu“, weil wir ein paar Tage zuvor gegen Serienmeister Juventus Turin die eindeutig bessere Mannschaft gewesen waren und nur deshalb nicht gewonnen hatten, weil uns Cristiano Ronaldo in der letzten Minute noch einen Handelfmeter reingedrückt hatte. Durch das 2:2 waren unsere Chancen auf die Meisterschaft endgültig dahin gewesen.

Schon alleine über einen verpassten Titel zu schreiben, ist eigentlich absurd. Noch vor einem Jahr war es die Sensation schlechthin, dass wir, dieser bunt zusammengewürfelte Haufen, uns für die Champions League qualifiziert hatten. Auf einmal schien es fast schon normal, dass wir 17 Spiele in Folge nicht verloren und 98-mal das Tor trafen. 98! Fast drei Treffer pro Spiel. Und das in der Serie A, die schon immer für ihre Verteidigungskünstler berühmt war.

Es lief alles wie im Rausch. Schon im zweiten Spiel nach der mehrmonatigen Saisonunterbrechung waren wir mit Lazio Rom auf einen bis dahin sehr ernst zu nehmenden Meisterschaftskandidaten getroffen – und hatten ein 0:2 in ein 3:2 gedreht. Ich traf zum 1:2, es war mein achtes Saisontor. Ich hatte nicht das Gefühl, dass uns irgendwer würde schlagen können. Hin und wieder waren wir anfällig für ein oder zwei unnötige Gegentreffer, aber meistens schossen wir dann einfach ein oder zwei Tore mehr als der Gegner, wie zum Beispiel beim 7:2 in Lecce oder beim 6:2 gegen Brescia. Ehrlich, genauso war es. Wir waren so fit, so aggressiv, so eingespielt. So gut.

Dass wir es tatsächlich wieder in die Champions League schaffen würden, stand schon lange vor Saisonende fest. Die AS Rom war nach Wiederbeginn der Liga unser einziger Konkurrent um einen Tabellenplatz, der am Ende zur Champions-League-Qualifikation reichte, aber die Herren aus der Hauptstadt hatten überhaupt nicht mit uns mithalten können und viel zu viele Punkte abgegeben. Während wir Sieg an Sieg reihten, verlor die Roma dreimal in Folge und war weg vom Fenster. Eigentlich müsste ich ja schon bei dem Wort „Champions League“ vor Freude durchdrehen. Aber die Quali für die Königsklasse war aufgrund unserer Leistungen so eindeutig, dass mir dieser Erfolg beinahe schon normal vorkam.

Zurück zur Vorbereitung auf das letzte Spiel der Saison gegen Inter. Unter Trainer Antonio Conte hatte dieser traditionsreiche Klub mit Spielern wie Romelu Lukaku oder Alexis Sanchez zu alter Stärke zurückgefunden. In dieser Partie ging es für beide Teams immerhin noch um den zweiten Platz, der Sieger durfte sich Vizemeister nennen. Das ist ja auch was.

Kurz vor dem Spiel passierte jedoch etwas Eigenartiges. Auf dem Display meines Handys erschien eine niederländische Nummer, ich ging aber nicht dran. Kurz darauf erhielt ich vom selben Absender eine WhatsApp-Nachricht, auf Niederländisch: „Kann ich dich heute Abend anrufen? Wenn nicht, gerne morgen. Grüße, Ronald Koeman.“

Ronald Koeman, niederländischer Nationaltrainer und eine absolute Ikone. Ich war während seiner Glanzzeit als Verteidiger zwar noch nicht geboren, wusste aber, was für ein krasser Fußballer er gewesen war. Ende der 80er, Anfang der 90er war Koeman einer der besten Abwehrspieler der Welt, 1988 Europameister mit den Niederlanden und zweifacher Champions-League-Sieger mit Eindhoven und Barcelona. Unvergessen, wie er sich nach dem Halbfinal-Sieg gegen Deutschland bei der EM 88 mit dem Trikot von Olaf Thon demonstrativ den Hintern abgewischt hatte.

Doch an diesem Tag hatte ich keine Zeit für den Nationaltrainer der Niederlande. Schließlich waren meine Eltern zu Besuch in Bergamo, und zum Zeitpunkt der Nachricht saßen wir zusammen mit Rabea und ihrer Schwester im Restaurant. Ich schrieb ihm, dass er mich gerne am nächsten Tag erreichen könne. Wir verabredeten uns für 11.30 Uhr. Am Tisch herrschte für die nächsten Minuten kein anderes Gesprächsthema. Wir konnten uns natürlich vorstellen, warum Koeman mit mir sprechen wollte, aber wie sollte ich damit umgehen? Papa ließ gar keine Gedankenspiele zu, sondern sagte einfach: „Lasst uns jetzt mal anstoßen. Robin, das hast du dir verdient.“

Am nächsten Morgen fuhren Mama, Papa, Rabea, Rabeas Schwester Vanessa, ihr Sohn Til und ich, die komplette Familie, nach Villa d‘Alme am Fluss Brembo, nördlich von Bergamo gelegen. Die totale Alpenidylle mit rauschendem Wasser, Bergen und strahlend blauem Himmel. Leider gab es dort überhaupt kein Netz. Es dauerte, bis ich einen Platz gefunden hatte, an dem zumindest ein oder zwei Balken aufblinkten. Von dieser Stelle bewegte ich mich nicht einen Zentimeter weg, wäre ja auch peinlich gewesen, wenn ich Koeman schon wieder hätte vertrösten müssen. Ich saß bei 30 Grad eine halbe Stunde lang da, ohne mich zu rühren, und wartete, bis es endlich klingelte. Er rief erst um 12 Uhr an.

Es wurde ein angenehmes Gespräch. Nach ein bisschen Small-Talk sagte Koeman mir, dass er in der laufenden Saison drei oder vier Spiele von mir gesehen und mit Marten de Roon, meinem Teamkollegen, seines Zeichens niederländischer Nationalspieler, über mich gesprochen hätte. Er sei sicher, dass ich seiner Mannschaft helfen könne. Aus seiner Sicht gab es nur ein Problem. Ein Problem, das ich zu der Zeit überhaupt noch nicht greifen konnte. „Du hast schon öfter gesagt, dass du dich eher zu Deutschland hingezogen fühlst, das weiß ich“, meinte Koeman. „Aber ich möchte dich gerne von unserem Land und unserer Mannschaft überzeugen. Ich glaube, dass die linke Seite der Nationalmannschaft über die nächsten Jahre deine sein könnte.“

Er schmierte mir in den nächsten Minuten – ich weiß gar nicht mehr, wie viele es genau waren – extrem viel Honig um die Schnute und erklärte mir, wie gut ich in seine Mannschaft passen würde. Eine Mannschaft mit Weltstars wie Virgil van Dijk, Matthijs de Ligt oder Frenkie de Jong. Er stellte mir sein Projekt vor, in dem ich offensichtlich ein wichtiges Puzzleteil war. Damit ich nicht das Gefühl bekäme, er wolle mich lediglich davon abhalten, mich für Deutschland zu entscheiden.

Nur: Zu diesem Zeitpunkt war Koeman der einzige Nationaltrainer der Welt, der je mit mir Kontakt aufgenommen hatte. Mir war mittlerweile klar, dass vermutlich auch Joachim Löw wusste, wer ich bin. Schließlich hatte er inmitten der Pandemie erklärt, dass er eigentlich vorgehabt hatte, mich für die letztendlich abgesagten Länderspiele im März gegen Spanien und Italien zu nominieren. Doch schon damals hatte mein Vater die Euphorie gebremst. „Bevor ich das nicht schwarz auf weiß habe, glaube ich gar nichts.“ Und genauso sah ich das auch.

Natürlich ehrte mich Koemans Angebot, gar keine Frage. Nicht nur, dass ich einen niederländischen Vater habe, direkt an der deutsch-niederländischen Grenze aufgewachsen bin und auch die niederländische Staatsbürgerschaft besitze. Die Oranje-Auswahl gehört nun mal seit Jahrzehnten zu den besten der Welt. Wenn mir einer vor drei Jahren einen solchen Anruf prophezeit hätte, als ich noch das Trikot von Heracles Almelo trug, wäre ich vermutlich auf Händen zum nächsten Auswahltraining gelaufen.

Aber jetzt war alles anders. Und es wurde sogar noch verrückter.

Einen Tag nach Koemans Anruf waren wir wieder in unserer Wohnung. Dazu sollte man vielleicht wissen, dass in der Neustadt von Bergamo kein Zentimeter Platz verschenkt wird. Unser Dachgeschoss-Apartment im vierten Stock betritt man durch einen extrem schmalen Innenhof, in den wir jeden Tag versuchen, unser Auto unfallfrei reinzubekommen, um mit einem Fahrstuhl in eine Tiefgarage zu fahren, wo wir parken. Mama, Papa und Rabea waren gerade in der Küche beschäftigt, während ich auf der Couch lag und eine SMS bekam:

„Hallo Robin. Hier ist Joachim Löw.“

Ich musste laut lachen. Das konnte ich nicht glauben. Joachim Löw, Nationaltrainer seit 2006, Weltmeister 2014. Reicht als Gedankenstütze, oder?

„Kommt mal bitte eben her, ich muss euch was zeigen“, rief ich in die Küche. Ich las die Nachricht laut vor und reichte das Handy rum. „Hallo Robin. Hier ist Joachim Löw. Habe die Nummer von deinem Berater. Würde gerne die nächsten Tage mal mit dir telefonieren. Wann passt es am besten? Liebe Grüße.“

Keiner konnte glauben, was da stand. Für einen sehr kurzen, gefühlt aber ewig langen Zeitraum, war es komplett still in unserer Wohnung. Ich war offenbar der Einzige im Raum, der die Nachricht für einen Scherz hielt. Ich kenne meine Freunde, denen traute ich so was durchaus zu. „So schreibt doch Joachim Löw nicht“, war einer meiner ersten Gedanken.

Meine Mama stand nur wortlos da, mein Papa fasste sich an den Kopf. Vor nicht mal 48 Stunden hatten wir noch gemütlich im Restaurant bei Aperol und Pasta zusammengesessen, und jetzt durfte ich mir offenbar plötzlich aussuchen, ob ich deutscher oder niederländischer Nationalspieler werden wollte. Unmöglich hier annährend wiederzugeben, was für eine merkwürdige Stimmung in unserem Wohnzimmer herrschte.

Ich musste auf jeden Fall zurückschreiben, egal, ob mich am anderen Ende ein Kumpel auf den Arm nehmen wollte oder nicht. „Hallo Trainer“, antwortete ich, „Danke vielmals für die Nachricht. Wir haben Samstag das letzte Spiel, morgen Nachmittag Training und dann zwei Tage frei, bin aber eigentlich immer erreichbar. Ist also im Prinzip egal, wann. Liebe Grüße, Robin.“

Er schrieb sofort zurück: „Okay danke. Melde mich dann am Sonntag, nachmittags oder gegen Abend. Alles Gute am Wochenende noch. LG, JL.“

Wie viel geiler konnte es noch werden!? Wir saßen da und weinten vor Freude. Ich hatte schon vor einem Jahr in Interviews immer mal wieder geflachst, dass der Bundestrainer ja mal kommen und mich beobachten könnte. Aber ich hatte doch keine Ahnung, dass er das zu dem Zeitpunkt längst getan hatte! Und mir bedeutete das in diesem Augenblick die Welt.

Spätestens jetzt konnte ich mich leider kaum noch auf die anstehende Aufgabe gegen Inter Mailand konzentrieren. Irgendwo verständlich, oder? Wir verloren das Spiel mit 0:2 – unsere erste Niederlage seit Januar – und wurden Dritter. Nach dem Spiel packten Rabea und ich unsere Sachen und machten uns auf den Weg nach Südtirol. Ein Kurztrip, um runterzukommen und abzuschalten. Noch war die Saison ja nicht vorbei. In der Champions League wartete mindestens noch Paris Saint-Germain auf uns. Bis zu dieser Partie blieben elf Tage. Zeit, die wir zumindest ein bisschen für Erholung nutzen wollten.

Wir waren bei strahlendem Sonnenschein unterwegs in den Bergen, da kam der Anruf. Der Anruf, mit dem ich niemals im Leben gerechnet hatte. Als auf dem Auto-Display „Joachim Löw“ auftauchte, fuhr ich sofort auf den Seitenstreifen. Ich hatte Angst, dass der Kontakt in den Tunneln abreißen würde und war unendlich aufgeregt. Das hier hatte die Atmosphäre eines Bewerbungsgesprächs für den Traumjob. Nur dass ich in kurzer Hose im Auto saß und nicht im unbequemen Anzug zu schwitzen begann.

Das Gespräch mit Löw verlief ganz anders als das mit Koeman. Vor allem, weil es die meiste Zeit gar nicht so sehr um Fußball ging, sondern vielmehr um das Leben. Er wollte wissen, wie wir die schwierige Situation in Italien und Bergamo überstanden und erlebt hätten, inwiefern mich die Krise verändert habe. Er machte einen sehr empathischen Eindruck auf mich. Auch der sportliche Teil des Telefonats war anders. Natürlich lobte er mich für die gute Saison. Sonst hätte er ja auch nicht angerufen. Mit neun Toren und acht Vorlagen war ich in den Top-Fünf-Ligen Europas gemeinsam mit Trent-Alexander Arnold vom FC Liverpool der erfolgreichste Verteidiger. Vor Achraf Hakimi oder Andrew Robertson oder Sergio Ramos. Ein wenig Selbstbeweihräucherung sei mir verziehen.

Löw erklärte mir ausführlich, wie er spielen wollte, wie er generell seine Systeme sieht, und ob ich mir vorstellen könnte, in einer Viererkette in der Abwehr aufzulaufen. Die vergangenen drei Jahre in Bergamo hatte ich ausschließlich auf der linken Außenbahn in einem 3-5-2-System gespielt. Irgendwann wurde mir klar: Du telefonierst hier gerade wirklich mit dem Trainer der deutschen Nationalmannschaft! Und der sagt dir, dass du bei den kommenden Länderspielen dabei bist und dass du in letzter Zeit klasse gekickt hast. Vollkommen irre.

Löw machte mir im Gegensatz zu Koeman keine langfristigen Versprechungen, sondern sagte einfach: „Du hast dir das jetzt verdient. Komm vorbei, wir freuen uns. Und dann schauen wir mal, was passiert.“

Nachdem ich aufgelegt hatte, herrschte erst mal Stille im Auto. Dann, nach ein paar Sekunden, sahen Rabea und ich uns an – und fingen vor Freude an zu schreien. Die verbleibenden 45 Minuten zum Hotel wurden zu einer Mischung aus Hupkonzert im Tunnel und Musikanlage auf Anschlag. Was die Leute in den anderen Autos dachten, war mir in diesem Augenblick total egal. Mensch, Jogi Löw wollte, dass ich für die Nationalmannschaft spiele!

Doch noch stand meine endgültige Entscheidung aus. Deutschland oder die Niederlande? Ich sprach in diesen Tagen viel mit Rabea und meinen Eltern, bis letztendlich klar war, dass es nur eine richtige Wahl geben konnte. Es ging mir nie um Spielsysteme, oder um Schwarz-Weiß oder Orange. Meine emotionale Verbundenheit mit Deutschland war einfach größer. Mein Herz – kitschig, ich weiß – schlug ganz klar für Deutschland. Als Löw mir ein paar Tage später sagte, dass er gerade den Kader für die anstehenden Länderspiele gegen Spanien und die Schweiz finalisiert, fragte er, ob ich eine Entscheidung getroffen hätte und er mich nominieren konnte? Aber selbstverständlich, sagte ich. Ich bin dabei.

Nach dem so unglücklich verlaufenen Champions-League-Turnier in Lissabon – diese verdammten letzten Minuten gegen Paris – machten Rabea und ich noch eine Woche Urlaub, bevor ich am 31. August zur Nationalmannschaft reisen durfte. Die Nominierung war noch nicht öffentlich gemacht worden, aber ich wusste ja Bescheid.

Eine Sache muss ich übrigens noch über Ronald Koeman loswerden. Kurz nach seinem Anruf war bekannt geworden, dass er den Job als holländischer Nationaltrainer für den Posten beim FC Barcelona aufgeben würde. Und genau am Tag seines Wechsels, als er vermutlich allerlei anderen Kram zu erledigen hatte, nahm er sich noch die Zeit und rief mich im Urlaub auf Kreta an. „Ich wollte dir nur sagen, dass der ganze Stab noch voll hinter dir steht und dich wirklich gerne einladen würde. Ich bin zwar nicht mehr dabei, aber an der Entscheidung hat sich nichts geändert.“ Als ich ihm mitteilte, dass ich mich für Deutschland entscheiden würde, wünschte er mir alles erdenklich Gute. Das war ein ganz feiner Zug von ihm, das muss ich wirklich sagen. Ich verabschiedete mich und scherzte, dass wir uns hoffentlich bald mal in Barcelona sehen würden. Natürlich nur halb scherzend.

Der Urlaub tat uns gut. Einfach nur Pool, Strand, Bücher, Musik und zwei bis zwölf Aperol. Pro Tag. Ich scherze schon wieder. Oder doch nicht?

Nachdem auch die Öffentlichkeit endlich erfahren hatte, dass der torgefährlichste Verteidiger Europas – hüstel – erstmals zur deutschen Nationalmannschaft eingeladen worden war, ging das große Anruffestival vom DFB los. Organisationsteam, Pressestab, Athletiktrainer – alle wollten wissen, wie es mir ginge, erkundigten sich nach meinem Fitnesslevel und berieten mich, was ich zu meinem Debüt mitbringen sollte. Da wurde mir erst mal bewusst, was für eine andere Hausnummer das beim DFB doch war, im Vergleich zu Atalanta. Ich wartete nur noch auf die Frage, welches Toilettenpapier mir am liebsten sei. Am Tag der Anreise wurde ich morgens um halb sieben von zu Hause abgeholt. Auf dem Weg sammelten wir noch Jonathan Tah in Düsseldorf ein. Auf der Fahrt hatte ich wenigstens schon mal vier oder fünf Stunden Zeit, um mit jemandem zu reden, der Bescheid wusste und mir ein paar Sachen erklären konnte. Wie gewisse Dinge laufen, wen ich duze und wen lieber nicht. Beim DFB-Präsidenten, irgendwo logisch, bleibt es beim „Sie“, aber wie sieht es beim Bundestrainer aus? Ist er Herr Löw oder Joachim? Jona sagte, dass alle immer nur „Trainer“ sagen und der Umgangsform quasi ausweichen. Aber er beruhigte mich auch und meinte, dass die Atmosphäre eigentlich total locker sei und ich mir gar keinen Kopf machen bräuchte. Leichter gesagt als getan, aber er hatte recht.

Die Ankunft am Mannschaftshotel war schon aufregend, weil ich wirklich niemanden persönlich kannte. Florian Neuhaus von Borussia Mönchengladbach und Hoffenheims Torwart Oliver Baumann waren zwar auch zum ersten Mal dabei, die spielten aber in der Bundesliga und waren daher fast jedem ein Begriff. Ich war dieser neue Typ aus Italien, der noch nie zuvor in Deutschland gespielt hatte. Aber ich wurde total überrascht. Sehr viele kamen auf mich zu, um mir zu sagen, was für eine überragende Saison ich doch gespielt hätte. Ich hatte damit gerechnet, mich in großer Runde vorstellen zu müssen. Stattdessen kannte fast jeder meine Geschichte, begrüßte mich herzlich und gab mir das Gefühl, willkommen zu sein. Die einzige Umstellung durfte ich gleich beim ersten Meeting feststellen, weil ich für einen Augenblick vergessen hatte, dass ich wieder in Deutschland war. Aus Bergamo kannte ich es so, dass ein Meeting um 12:30 Uhr angesetzt war und die ersten um 12:32 Uhr erschienen. Die Südamerikaner dann so gegen 12:37 Uhr, während der Trainer geduldig seinen Espresso schlürft. Aber jetzt saßen wir hier in Stuttgart und alle anderen schon um 12:25 Uhr auf ihren Plätzen. Ich kam ein Minütchen zu spät und erntete sofort ein paar Blicke. Ich glaube, dem Neuling wurde das ausnahmsweise verziehen, aber das würde mir nicht noch mal passieren.

Vor dem Mittagessen musste ich im Trainerbüro antreten. Joachim Löw meinte, dass ich mich beruhigen und mich nicht verrückt machen solle. Doch das fiel mir immer noch nicht so leicht, wie auch? Ich konnte meine Nervosität nicht wirklich verbergen, diese Jungs kannte ich doch alle nur aus dem Fernsehen. Plötzlich war ich hier wieder der kleine Fanboy. Nach dem Essen sprach Toni Kroos mich an. „Na“, sagte er, „kommst du auch aus dem Urlaub? Also ich habe da ja nichts fürs Training gemacht.“ Da musste ich lachen. „Ich ganz sicher auch nicht“, antwortete ich, „ich hab’ stattdessen Aperol getrunken.“ Und wir lachten beide.

Toni Kroos, meine Güte. Weltmeister, viermaliger Champions-League-Sieger, einer der elegantesten Mittelfeldspieler der vergangenen Jahrzehnte. Und jetzt durfte er den torgefährlichsten Verteidiger Europas kennenlernen, was für ein Moment für ihn. Im Ernst: Bei dem Gespräch wurde aus mir wieder ein Balljunge, der im Spielertunnel zu seinem großen Idol aufschaut.

Man kennt das ja von einer Party, diese Salzstangenphase, wenn alle sich doof angucken und krampfhaft darauf warten, dass die Stimmung etwas lockerer wird. So in etwa hatte ich das Kennenlernen mit den anderen Nationalspielern erwartet, aber das war überhaupt nicht der Fall. So ein Eisbrecher wie der von Kroos tat auch deshalb so gut, weil er in dem Laden der absolute Chef ist. Wenn der dich kennt, weiß, wo du gespielt und was du geleistet hast, gibt dir das ein unglaublich entspanntes Gefühl. Und für das eigene Ego ist es sicherlich auch nicht von Nachteil.

Beim ersten Training wurde die Gruppe zweigeteilt, weil einige bereits voll im Saft standen und andere, wie Kroos, Ilkay Gündogan, Kai Havertz, Tah oder ich, direkt aus dem Urlaub gekommen waren. Natürlich hatte ich in den rund zwei Wochen Pause nicht meine gesamte Fitness verloren, aber im Gegensatz zur restlichen Truppe hatte ich schon konditionellen Nachholbedarf. Die Fitnessstudio-Besucher unter den Lesern verstehen vielleicht, was ich meine. Wenn man mal eine Woche nicht trainieren kann, muss direkt bei jeder Übung subtrahiert werden. So schnell geht das leider nun mal mit dem Körper.

Auch beim Training wurde ich wieder ein bisschen überrumpelt, weil das Niveau im Vergleich zu den Einheiten bei Atalanta noch mal ein ganz anderes war. Da sitzt jede Ballannahme, man hat keine Sekunde Zeit zu überlegen, wird permanent unter Druck gesetzt. Jeder will bei jeder Einheit glänzen, diese Mentalität finde ich überragend. Dementsprechend kam ich aber auch schnell wieder rein und hatte beim Abschlusstraining vor dem Spiel gegen Spanien eigentlich schon ein gutes Niveau erreicht.

Zwei Tage vor dem Spiel am 3. September trainierten wir das erste Mal taktisch und anschließend auch elf gegen elf. Da war klar, dass ich spielen würde, weil Löw mich ins Team der potenziellen Stammspieler eingeteilt hatte. Kurz nach der Einheit las ich von der Pressekonferenz, die schon vor der Einheit stattgefunden hatte. Dort hatte der Bundestrainer bereits bestätigt, dass ich gegen Spanien von Anfang an auf dem Platz stehen würde. Wow. Mein Debüt als Nationalspieler. Und dann auch noch gegen Spanien. Gegen den Weltmeister von 2010, den Europameister von 2008 und 2012. Gegen Sergio Ramos und Sergio Busquets, David de Gea und Thiago. Selbstverständlich war ich etwas angespannt, schließlich wollte ich die Sache nicht kleiner machen, als sie war.

Am Abend vor dem Spiel rief mich Löw abends um 22 Uhr noch mal aus meinem Zimmer, um mit mir unter vier Augen zu sprechen. In drei Jahren bei Atalanta hatte mich Coach Gian Piero Gasperini nicht ein einziges Mal zur Seite genommen. „Sollen wir mal draußen ein paar Schritte gehen?“, fragte er mich. Beim Spaziergang vor dem Hotel ergriff er direkt das Wort: „Robin, morgen erstes Länderspiel. Ich freue mich für dich. Genieß den Moment. Ich weiß, was du kannst, das hast du hier in den drei Tagen gezeigt. Du warst mutig und hast dich sofort bewiesen. Mir ist egal, ob du Fehler machst. Ich will sehen, dass du wie bei Atalanta mutig nach vorne spielst. Wir brauchen diese Power auf der linken Seite.“

Das half mir sehr, für einen Moment vergaß ich fast das Spiel. Ich erlebte, wie wichtig es ist, wenn dein Trainer dir so den Rücken stärkt und dir Mut zuspricht. Eigentlich hätte ich Löw niemals so emotional erwartet. Er hat zwar eine ruhige und sachliche Art, weiß aber genau, wie er die Mannschaft einstellen muss und pushen kann.

Die Anspannung verließ mich trotzdem nicht vollends. Mein erstes Länderspiel stand vor der Tür, und irgendwo kam, als ich mein Zimmer wieder erreicht hatte, der 17-jährige Robin um die Ecke und fragte, was aus dem angehenden Polizisten wurde. Der spielt morgen gegen Spanien, grinste ich. Spanien, verdammt noch mal. Kann man eigentlich noch einen geileren Debüttermin erwischen? Ich weckte meine Eltern und Rabea noch mal, weil ich so unter Strom stand, dass ich ihnen von dem Spaziergang mit dem Bundestrainer erzählen musste. Ich war total beeindruckt, dass Löw sich ausgerechnet für mich noch mal Zeit genommen hatte. Dabei hatte ich doch noch gar nichts geleistet, also für die Nationalmannschaft.

Die Telefonate beruhigten mich und brachten die Nachtruhe näher, weil auch meine Familie mich bestärkte, dass es keinen Grund gab, angespannt zu sein. Der Moment meines Lebens stand bevor, darauf durfte ich mich freuen. Ich schlief ein und träumte wahrscheinlich von Helmut Rahn, Fritz Walter und Franz Beckenbauer. Oder von Dinosauriern, wer weiß das schon so genau.

Eine feste Frühstückszeit gab es für den nächsten Morgen nicht, nur die genaue Zeit, wann man zum Anschwitzen bereitstehen musste. Dieses Anschwitzen fällt bei vielen Teams unterschiedlich aus, in der Nationalmannschaft wird Fußballtennis gespielt. Zweierteams in verschiedenen Gruppen, nicht zu ernst, aber immerhin etwas kompetitiv. Nach dem Mittagessen konnte sich jeder auf seine Weise ausruhen, ein Mittagsschläfchen machen oder Playstationspielen. Ich legte mich aufs Bett, ließ den Fernseher laufen und spielte am Handy. An schlafen war gar nicht zu denken, denn mit jeder Minute rückte dieses Spiel näher. Das Adrenalin wirkte stärker als jeder Espresso.

Wir schaufelten uns noch ein paar Nudeln und Bananen rein, ehe Jogi Löw uns in der letzten Sitzung vor dem Spiel die Aufstellung verriet. Und da stand wirklich mein Name. Die weiteren Aussagen des Trainers rauschten nur so an mir vorbei. In der Kabine im Stuttgarter Stadion angekommen, sah ich das Deutschland-Trikot mit der Nummer 3, das mit dem Rücken zum Eingang vor einem Schrank hing. „Gosens“ stand darauf, „Wahnsinn“ in meinem Gesicht. Und auf einmal zog ich mich neben diesen Größen um, band die Schuhe zu und machte mich mit ihnen warm. Alles lief wie im Film ab, ich weiß auch beim besten Willen nicht mehr, wer alles auf mich einredete oder was der Trainer vor dem Anpfiff noch mal sagte. Es war einfach so surreal. Wir klatschten uns ab, umarmten uns, und raus ging es ins leere Stadion.

Als wir in einer Reihe auf dem Feld standen und die Nationalhymne aus den Lautsprechern schallte, rang ich um meine Fassung. Ich erinnerte mich an jenes wunderbare Erlebnis im September 2019 in Zagreb, als ich das erste Mal live der Champions-League-Hymne lauschen durfte. Damals war ich sicher gewesen, dass das durch nichts getoppt werden könnte. Doch die Nationalhymne war noch einmal etwas ganz anderes. Mir wurde bewusst, dass ich hier gleich für mein Land spielen würde, dass ich so viele Menschen stolz machen könnte. Ich hätte weinen können, das war der größte Gänsehautmoment meiner bisherigen Karriere. Den würde mir niemals jemand wegnehmen können. Ich war bereit, mich zu zerreißen.

Die ersten Minuten waren ganz in Ordnung. Ich war angespannt, aber nicht nervös. Im 3-4-3 sollte ich wie in Bergamo die linke Seite unsicher machen, natürlich aber auch hinten meine Defensivaufgaben erledigen. Neben mir spielten Kroos und Gündogan im zentralen Mittelfeld, hinter uns in der Dreierkette Antonio Rüdiger, Niklas Süle und Emre Can. Vorne agierte Julian Draxler als eine Art hängende Spitze hinter Timo Werner und Leroy Sané. Zunächst lief viel über die rechte Seite von Thilo Kehrer, außer ein wenig Anlaufen hatte ich also gar nicht so viel zu tun. Das gab mir die Gelegenheit, mich auf mein Spiel zu konzentrieren und meinen Kopf auszuschalten. Im Prinzip so, wie es der Trainer von mir verlangt hatte.

Wir hatten uns im Vorfeld darauf verständigt, viel mit Diagonalbällen hinter die Kette zu arbeiten, weil wir wussten, dass die spanischen Außenverteidiger, namentlich Dani Carvajal und José Gaya, weit reinschieben. Und tatsächlich brauchte ich kurz nach der Pause einen überragenden Pass von Ilkay Gündogan nur noch runterzupflücken, zu verarbeiten und auf Timo Werner querzulegen, der das Ding zum 1:0 wegmachte. Erste Torbeteiligung im ersten Länderspiel, nicht schlecht. Und doch war ich vor allem froh, dass wir genau das umgesetzt hatten, was wir im Training einstudiert hatten und gegen Spanien in Führung gegangen waren.

Leider entschied sich der Schiedsrichter dafür, sechs Minuten nachspielen zu lassen. Und leider brachten wir das Ding nicht über die Zeit. Nach zwei, drei verlorenen Kopfballduellen im Mittelfeld musste ich eine Flanke verteidigen, rutschte mit meiner Grätsche allerdings ins Leere, lag im Aus und hob so das Abseits auf. Gaya brauchte den Ball nur über die Linie drücken. Ausgleich in letzter Sekunde.

Mir war tatsächlich nicht klar, dass ich, auch wenn ich im Aus liege, dennoch zum Spiel gehöre. Das habe ich so nach dem Spiel im Interview auch gesagt und dafür Hohn und Spott kassiert. „DFB-Neuling Gosens kennt die Abseitsregel nicht!“ Meine Güte. Ich wäre sowieso nicht mehr rechtzeitig aus dem Abseits gekommen. Und hätte ich im Interview lügen sollen? Vielleicht, aber das ist nicht meine Art. Ich kann Spieler nicht leiden, die nicht zu ihren Fehlern stehen und um den heißen Brei herumreden. Man sagt ja heutzutage, Fußballer seien langweilig geworden, aalglatt, hätten nichts mehr zu erzählen. Wen wundert es, dass kaum noch einer von uns ausspricht, was er wirklich denkt, wenn man so niedergemacht wird? Im Nachgang des Spiels wurde sich mehr auf diese Abseitsaussage konzentriert, statt zu erwähnen, dass ich eigentlich ein grundsolides Debüt abgeliefert hatte. Unsere Fehlerkultur in Deutschland ist meiner Meinung nach ziemlich schlecht. Fehler sind entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung, und jeder Mensch in jedem Business braucht die Freiheit, sie machen zu dürfen, um zu lernen und daran zu wachsen. Wichtig ist nur, dass man sie, nachdem sie einmal gemacht wurden, nicht wiederholt. Jedenfalls wollte ich mir von diesen Leuten nicht den sportlich gesehen schönsten Tag meines Lebens ruinieren lassen und versuchte, den Spott auszublenden. Manche fanden es halt auch ganz cool, dass ich im besagten Interview mein Herz auf der Zunge getragen hatte. „Du bist vielleicht ein Typ“, meinte der Pressesprecher Jens Grittner am nächsten Tag zu mir und berichtete, dass viele Fans sich positiv geäußert hätten. Viel wichtiger war mir aber, dass die Kollegen und der Bundestrainer mein Spiel gut fanden. Nur darauf kam es an.

Was für eine Woche! Vom Jungen auf dem Dorfbolzplatz in die deutsche Nationalmannschaft. Ganz sicher waren das die emotionalsten Tage meiner Karriere. Bis zu diesem Spiel gegen Spanien hatte ich die Nationalelf nur vor dem Fernseher verfolgt, jetzt gehörte ich dazu. Manchmal liege ich noch heute im Bett und denke zurück an diesen Tag. Robin Gosens in der deutschen Nationalmannschaft – wie soll ich das je verstehen?