Kapitel 7


ARNHEIM

28. Mai 2012

Ich wollte immer Polizist werden. Das war mein Traum. Der Traum.

So wie andere Kinder Feuerwehrleute oder Fußballer cool fanden, bewunderte ich meinen Opa Klaus. Er war Polizist und nahm mich oft in seinem Streifenwagen mit, so einem großen Van, im klassischen Polizeigrün. Immer, wenn ich bei Opa in Hüthum zu Besuch war, fragte ich ihn: „Opa, darf ich im Polizeiauto mitfahren?“ Ich war gerade mal sechs Jahre alt. Opa setzte mir seine Mütze auf und machte sogar die Sirene an. Für mich war ganz klar, dass ich mal Polizist werden würde. Einfach, weil Opa auch Polizist war und ich so sein wollte wie er. Ich hatte damals natürlich keinen Schimmer, was der Beruf überhaupt bedeutet und was man da wirklich macht.

Richtig damit auseinandergesetzt habe ich mich zwei Jahre vor meinem Abitur, als es auf dem Berufskolleg in Richtung Endspurt ging. „Bald habe ich Abi“, dachte ich, „was passiert dann?“ Profifußball war zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Thema. Ich kam gerade beim VfL Rhede in die A-Jugend und war von professionellem Fußball so weit entfernt wie Elten von Berlin. Also mindestens 600 Kilometer. Auch Jahre nach den Kutschfahrten mit Opa war Polizist der Beruf, der mich am meisten ansprach. Ich meine, ich hatte immer schon ein großes Verantwortungsbewusstsein, war stets da für meine Jungs und kümmerte mich darum, dass es allen gut ging. Auch deshalb konnte ich mich mit diesem Beruf stark identifizieren.

Mein Plan sah so aus: Grundausbildung, Hundertschaft und dann Kripo. Im Abiturjahr gingen die Bewerbungen raus, an die Polizei in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Rheinland-Pfalz. In NRW wurde ich gar nicht erst zum Test eingeladen, offiziell „wegen Ihrer Beinlängen-Differenz“. Mein rechtes Bein ist neun Millimeter länger als das linke. Ich glaube aber, dass der eigentliche Grund ein anderer war. Als Jugendlicher hatte ich mir für mein Playstation-Konto eine spaßige Mail-Adresse eingerichtet. Da war ich sicherlich nicht der Einzige. In den frühen 2000er-Jahren gab es in der Bundesliga einen Spieler namens Robson Ponte. Der spielte sechs Jahre für Bayer Leverkusen und zwei für Wolfsburg. Ich fand den extrem cool. Ein typischer Brasilianer mit Dreitagebart und dunklen Haaren. Meine Freunde nannten mich deswegen oft Robson, und ich wollte mir gerne mit diesem Namen ein Playstation-Konto erstellen. Gab es aber schon. Also fiel die Wahl auf „Robinson Patete“, klang ja ungefähr gleich. Diese Mail-Adresse nutzte ich jahrelang. Als ich später die Bewerbungen verschickte, kam beim Empfänger keine Mail von Robin Gosens an, sondern von Robinson Patete. Bis heute glaube ich, dass das den Beamten womöglich nicht seriös genug war – und der eigentliche Hauptgrund, warum sie mich in NRW nicht zum Polizisten machen wollten.

In Rheinland-Pfalz wurde ich zum Einstellungstest eingeladen und fuhr da auch hin. Dieser Test besteht zunächst aus Theorie mit Mathematik und dem ganzen Stoff, allerlei anderem Kram und einer medizinischen Untersuchung. Das war alles kein Problem für mich, ich hätte aber noch einen psychologischen Test absolvieren müssen. Ob ich stressresistent bin und dergleichen, ob ich mit gewissen Situationen klarkomme. Soweit kam es aber nicht mehr. Erinnert ihr euch an das A-Jugend-Spiel in Kleve, als mich der Scout von Vitesse Arnheim ansprach? Gut, da knüpfen wir nämlich jetzt an. Der Scout schrieb mir am Tag nach dem Spiel eine Nachricht und informierte mich über den Termin fürs Probetraining. Ich sagte sofort zu. Ich hatte zwar gerade erst die traumatische Erfahrung in Dortmund hinter mir, aber was hatte ich schon zu verlieren? Probieren konnte ich es ja noch mal. Zumal es auch nur ein Katzensprung von meinem Elternhaus entfernt war. An einem guten Tag brauchst du von Elten nach Arnheim nur 20 Minuten mit dem Auto.

Ich erinnere mich noch gut an die erste Fahrt nach Arnheim. Opa fuhr mich, weil ich erst 17 war. Auf der A12 hatte ich einen Puls von 180. Mit meinem Opa kann ich normalerweise über Gott und die Welt reden. An diesem Tag blieb ich still. Ich war viel zu nervös, um über das Wetter oder die letzte Schalke-Niederlage zu reden. Erst verfuhren wir uns, und als wir den Zielort erreicht hatten, wusste ich immer noch nicht, wo ich hinmusste. In einem der Container traf ich einen Kerl in Vereinskluft, dem ich in meinem gebrochenen Holländisch zu erklären versuchte, wer ich war. Ich hatte, um mir die Getränke am Wochenende zu verdienen, ein paar Jahre lang bei einer Tankstelle an der Grenze gearbeitet und dort die meisten Sprachkenntnisse gesammelt.

Ich wusste nicht, wo ich meine Trainingskleidung herbekam, war total planlos. Und doch klappte alles irgendwie auf den letzten Drücker, sodass ich Sekunden vor Trainingsbeginn auf den Platz sprintete und gerade noch rechtzeitig dabei war.

Was ich dann ablieferte, war wirklich verrückt. Kein Scheiß. Ich spielte die Jungs in Grund und Boden. Vielleicht hatten die alle keinen Bock mehr, weil die Saison schon fast vorbei war, oder ich hatte einfach nur einen sehr guten Tag erwischt. Es war das komplette Kontrastprogramm zum Desaster in Dortmund ein Jahr zuvor, obwohl es genau gleich begann.

Trainer Marino Pusic nahm mich anschließend zur Seite: „Robin, ich möchte dich in meinem Team haben. Wir müssen das unbedingt hinbekommen.“ Ich nahm das erst mal gar nicht so ernst und fuhr mit Opa nach Hause. Für mich war die Sache damit erledigt. Vitesse war schon einer der interessanteren Vereine in den Niederlanden, mit einer guten Jugendarbeit und einem nagelneuen Komplex für den Nachwuchs. Aber das bekam ich in dem Moment noch nicht in meinen Kopf. Für mich war das alles noch nicht wirklich real.

Am nächsten Tag rief Marino an: „Wie sieht‘s aus? Was willst du machen?“ Erst da wurde mir bewusst, dass der Mann das wirklich ernst meinte und mich nach Arnheim lotsen wollte. In die A-Jugend eines niederländischen Erstligisten. Es war ein simples Angebot, ohne Vertrag und große Zukunftsversprechen. Ich sollte mein letztes A-Jugend-Jahr in Arnheim spielen und dann schauen, was passierte. Fünfmal in der Woche Training, Samstag Spiel und Sonntag frei. Das wohl gemerkt in meinem Abiturjahr.

Gleichzeitig erfuhr ich, dass die A-Jugendlichen von Vitesse offenbar Gefallen an mir gefunden hatten. Einer erzählte mir später, was er nach dem Training zu Marino gesagt hatte: „Ey, Trainer, den brauchen wir!“ Ich sagte ja, dass ich krass war. Jetzt könnt ihr mir das auch glauben.

Marino rief immer wieder an. Und jedes Mal sagte ich ihm, dass er mit meinem Vater sprechen solle. Ich wollte damit nichts zu tun haben, ich konnte diese Entscheidung nicht treffen. Irgendwas hatte dieses Angebot in mir ausgelöst, dass mich einfach ungenießbar werden ließ. Wirklich, ich war nicht zu ertragen, ganz anstrengend. Sobald mir bewusst geworden war, dass sie dieses Angebot ernst meinten, schaltete ich aus irgendeinem Grund ab und schob die Entscheidung vor mir her. Nach jedem Telefonat mit Marino kam mein Vater zur mir. „Robin, wir brauchen eine Entscheidung. Willst du das machen oder nicht?“ Ich schrie ihn jedes Mal an: „Geh mir nicht auf den Sack! Ich will diese Entscheidung nicht treffen!“ Das Verhältnis zu meinen Eltern wurde schwierig. Ich war 17, unsicher und hatte absolut keine Ahnung, was ich machen sollte und was das alles zu bedeuten hatte.

Wenn ich heute zurückblicke, kann ich natürlich darüber lachen. Aber damals hat mich dieses Angebot einfach überfordert. Es sollte doch eine gute Sache sein, bei so einem Verein spielen zu dürfen, sich zeigen zu können und eines Tages vielleicht sogar Profi zu werden. Warum also machte es mich so fertig? Marino machte seinen Standpunkt immer wieder deutlich: „Ich brauche eine Entscheidung. Ich habe einen Platz im Kader frei und den soll unbedingt Robin bekommen. Wenn er das aber nicht machen möchte, sehe ich mich anderweitig um.“ Irgendwann hatte ich die Schnauze voll, anders kann man das nicht sagen. „Nervt mich nicht mehr, dann mache ich es halt!“ Es hatte nichts mit meiner Überzeugung zu tun, ich wollte nur endlich in Ruhe gelassen werden.

Papa teilte Marino meinen Entschluss mit. Und damit wurde es erst richtig kompliziert. Fortuna Elten, FC Bocholt und VfL Rhede, meine drei Ex-Vereine, hatten alle das Anrecht auf eine Ausbildungsentschädigung. Fragt mich nicht, wie so etwas läuft. Es war einfach so. Vitesse wollte die auf keinen Fall zahlen. Na toll. Da machte ich wochenlang so ein Theater mit, schlief nicht mehr, stritt mich jeden Tag mit meinen Eltern, und jetzt war das alles für die Katz gewesen?

Papa und ich mussten mit den Vereinen reden. Bocholt hatte von dieser Entschädigung zum Glück nie etwas gehört, das konnten wir also schon mal abhaken. Papa einigte sich mit dem damals Verantwortlichen: „Sagen wir Summe X.“ „Passt.“ Elten war mein Heimatverein, die wollten mir keine Steine in den Weg legen. Blieb noch Rhede, die leider ganz genau Bescheid wussten. Papa und ich fuhren mit einer Art Vermittler von Vitesse dorthin, um die Sache zu klären. „Wir bestehen auf die uns zustehende Summe“, hieß es. Und: „Wenn wir die nicht bekommen, bleibt Robin hier.“ Uff. Es war ein ziemlich kurzer Besuch. Ich verließ Rhede mit dem Gefühl, dass der Wechsel zu Vitesse wohl nicht klappen würde. Und das machte mich fertig. Warum zerrten alle so an mir rum?

Papa fuhr anschließend noch mal alleine hin. „Mal ganz ehrlich, ihr wollt dem Jungen doch jetzt nicht wirklich diese Chance verbauen?“ Er war wohl ziemlich überzeugend, denn sie einigten sich schließlich, und endlich war der Wechsel perfekt. Nachdem dieses ganze Theater vorbei war, fuhr ich zu Marino, weil er in Ruhe mit mir über die nächste Saison reden wollte. Wie er mit mir plante, wie seine Mannschaft spielte und was er vorhatte. Ein klassisches Trainer-Spieler-Gespräch mit Taktiktafel und wilden Gesten. Er sprach ein bisschen Deutsch, ich ein bisschen Niederländisch. Das reichte, wir verstanden uns auf Anhieb. Jeder Spieler braucht in seiner Karriere einen Förderer, jemanden, der etwas in einem sieht und ihm vielleicht auch mal das eine oder andere durchgehen lässt, weil er der Meinung ist, dass es sich lohnt. Mein Förderer war ganz klar Marino. Wäre er nicht so hartnäckig gewesen, und hätte er nicht jeden Tag meinen Vater genervt, wäre dieser Transfer wohl niemals zustande gekommen. Dieses eine Probetraining hatte Marino gereicht, um an mich zu glauben. Er ging das Risiko ein, einen Spieler zu holen, der bis dato rein gar nichts mit professionellem Fußball an der Mütze hatte. Das hörte da aber nicht auf. Während unserer gesamten Zusammenarbeit gab er mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und schenkte mir sein uneingeschränktes Vertrauen. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Noch heute stehen wir in engem Kontakt. Immer, wenn er mir eine Nachricht schreibt, beginnt meine Antwort mit: „Hey Trainer, wie geht’s dir?“ Bei manchen Aktionen im Training oder im Spiel habe ich immer noch seine Stimme im Kopf, die mir sagt, was zu tun ist – ohne Scheiß. Deswegen ist er irgendwie auch jetzt noch mein Coach.

Der Schritt nach Arnheim hatte schnell auch üble Folgen: Ich musste den Bulgarien-Urlaub mit meinen Jungs absagen, weil Anfang Juli schon das Trainingslager begann. Medizinbälle schleppen statt Wodka-Lemon trinken, Steigerungsläufe statt Goldstrand. Es war das erste Mal in meinem Fußballerleben, dass ich nicht das machen konnte, worauf ich Lust hatte. „Scheiße“, dachte ich, „ab jetzt läuft der Hase ganz anders.“ Mein Alltag würde sich drastisch verändern.

Ich hatte Mama versprochen, Schule und Fußball unter einen Hut zu bekommen. Außer den Jungs beim Fußball wurden meine sozialen Kontakte ziemlich eingeschränkt. Trinkerei war nur noch ab und zu am Samstagabend nach den Spielen drin. Nach meinem guten Auftritt im Probetraining dachte ich natürlich, dass ich zum Start der Vorbereitung einfach so weitermachen würde. Doch dieser Eindruck wurde bei der ersten und zweiten und dritten Einheit nicht unbedingt bestätigt. Die anderen Spieler hatten scheinbar wieder ihr Normalniveau erreicht und ließen mich spüren, dass ich ihnen vor allem technisch und taktisch unterlegen war. Auf einmal ging es um horizontales und vertikales Verschieben, um Laufwege nach links, rechts, vorne und hinten, um den ganzen Prozess der Entscheidungsfindung.

Das war Neuland für mich, ich konnte aber viel durch meine Athletik, meine Physis und meine Mentalität wettmachen. Mit diesem typisch deutschen Ansatz, immer alles reinzuwerfen. Das wiederum hatten die Jungs bei Vitesse so nicht. Ich brachte ganz andere Attribute in die Mannschaft, musste aber trotzdem extrem hart arbeiten, um das richtige taktische Verständnis zu entwickeln und technisch ansatzweise mithalten zu können. Ich rannte einfach immer kreuz und quer überall hin. Marino musste mir dauernd zubrüllen, dass ich meine Position halten solle. Natürlich spielten wir im 4-3-3-System, ich sollte darin den linken Achter besetzen. Das versuche ich mal zu erklären: Hinten spielen vier Abwehrleute, davor drei Mittelfeldspieler und davor drei Stürmer. Im Mittelfeld muss man sich die drei Spieler wie ein umgekehrtes Dreieck vorstellen. Es gibt den einen etwas Defensiveren, den Sechser, der meistens die Abwehr beschützt. Und vor ihm laufen zwei Achter auf, der eine links, der andere rechts. Ich als Linksfuß übernahm den linken Part. Soweit klar?

Ich verdiente mir den Respekt meiner Mitspieler, weil ich jeden Weg machte und 90 Minuten nicht aufhörte, zu rennen. Anpassungsprobleme gab es sowieso kaum, weil Niederländer sehr zuvorkommende und offene Menschen sind. Ich fühlte mich umgehend wohl. Zum ersten Meisterschaftsspiel bei Willem II reiste mein Vater extra nach Tilburg an, das sind von Elten immerhin 115 Kilometer. Er sah ein Eigentor seines Sohnes. Großes Kino war das. Im ersten Spiel köpfte ich eine Ecke ins eigene Tor, ganz unglückliches Ding. Trotzdem ging es danach Stück für Stück bergauf. Die krasse Technik hatte ich nie und habe ich auch heute nicht, war dafür aber immer gefährlich und machte meine Tore. Nach einem halben Jahr kam Marino auf mich zu: „Pass auf, die U21 ist interessiert. Die würden dich gerne ab und zu beim Training sehen.“ Das klang sehr gut. Die U21 war die Vertretung der Profimannschaft, also wieder ein Schritt näher nach ganz oben. Zu diesem Zeitpunkt hatte für mich sowieso schon festgestanden, dass ich alles auf die Karte Profifußball setzen wollte.

Und genau deshalb nahm ich an dem psychologischen Auswahlverfahren bei der Polizei in Rheinland-Pfalz auch nicht mehr teil. Keine Sorge: Opa verstand das.

Es gab nur ein Problem. In Arnheim war es so wie in den deutschen Internaten. Da richtet sich die Schule nach den Spielern. Wenn ein Schüler also an einem Dienstag mal vormittags Training hatte, wurde der Unterricht auf den Nachmittag verlegt. Ich ging aber nicht dort zur Schule. Und die U21 trainierte immer morgens. Ich sprach mit Papa: „Ich will dahin!“ Ich habe die Diskussion, die mein Vater und ich mit dem Schuldirektor in Wesel und meinem Klassenlehrer hatten, im Kapitel „Emmerich“ bereits kurz angerissen. Dazu gehörte aber noch etwas mehr. Der Schuldirektor sagte ganz trocken: „Das ist keine gute Idee, Robin. Wir hatten hier mal einen Eishockeyspieler, der sich bei den Profis durchschlagen wollte, aber machen wir uns nichts vor: Dass du es zu den Profis schaffst, ist mehr als unwahrscheinlich. Du bist in deinem Abiturjahr, konzentrier dich lieber auf die Schule.“ Sehr ermutigend. Danke noch mal. Mir war seine Argumentation natürlich herzlich egal, ich wollte das trotzdem machen. Also schlossen wir einen Kompromiss, dass ich den Stoff nachholte und morgens zum Training durfte. „Sobald deine Noten schlechter werden, brechen wir dieses Experiment ab“, sagte der Schuldirektor. An dieser Stelle liebe Grüße an die gesamte FTG 104 (meine damalige Klasse) – außer an Florian, den faulen Hund. Du hattest nicht so einen Stress wie ich und wolltest trotzdem immer mit abschreiben, statt mir Hausaufgaben zum Abschreiben vorzubereiten.

Meine Noten wurden tatsächlich noch besser. Offenbar hatte ich diese Du-schaffst-es-sowieso-nicht-Motivation gebraucht. Als das erste Jahr in Arnheim zu Ende ging, hatte ich das Abitur in der Tasche und einen Zweijahresvertrag für die U21 vorliegen. Das hieß also, dass ich jetzt alles auf die Karte Fußball setzen konnte. Ich war 18 Jahre jung und sollte 17500 Euro im Jahr verdienen. Das war der Standardvertrag für die Jungs, die aus der A-Jugend hochkamen und mehr als eine normale Ausbildungsvergütung, also erst mal völlig in Ordnung. Der Weg nach Arnheim erlaubte es mir, weiterhin bei Mama und Papa zu wohnen, Mietkosten fielen also weg. Natürlich war das nicht viel Geld für den Aufwand, aber das kümmerte mich nicht. Ich hatte die reale Chance, Fußballprofi zu werden!

Ich sollte zunächst in der U21 eingesetzt werden, mit der Option, jederzeit in die erste Mannschaft hochgezogen zu werden. Jetzt ging es wirklich los. Ich wollte arbeiten, mich für höhere Aufgaben empfehlen und war so verbissen, dass ich auch zu Fuß zum Training gegangen wäre. Ich wollte es schaffen. Und es ging gut los, weil Peter Bosz mir den Abiball versaute. Er war damals gerade Trainer der ersten Mannschaft geworden und landete ein paar Jahre später über Ajax Amsterdam und Borussia Dortmund bei Bayer Leverkusen.

Bosz stand, wie die meisten niederländischen Trainer, für unterhaltsamen Offensivfußball. Also ideal für mich. Kurz vor meinem Abiball lud er mich ein, mit den Profis ins Trainingslager zu fahren, obwohl schon klar war, dass das erst mal nur ein Schnupperkurs werden würde. Nach dem Motto: Zeig mal, was du draufhast, dreh aber nicht gleich durch. Neben mir waren noch drei andere U21-Spieler dabei, wir sollten für die gute A-Jugend-Saison belohnt werden. Es war auch kein schickes Trainingslager an der türkischen Riviera oder auf Hawaii – wir blieben eine Woche in der Nähe von Arnheim. Bosz gab uns anschließend drei Tage frei, was für mich Gold wert war. Ich hatte schon die Abiturfeier verpasst und eigentlich auch die Abschlussfahrt nach Lloret de Mar. Jetzt war dieses unerwartete Zeitfenster aufgegangen. Ich rief meinen Vater an: „Meine ganze Klasse ist in Lloret, darf ich mir ein Ticket kaufen?“ Es war kurz vor meinem 19. Geburtstag, deshalb schlug ich vor: „Ihr könnt mir den Trip doch zum Geburtstag schenken.“ Was meine Eltern dann auch taten. Und weg war ich. Drei Tage lang tanzte ich mit Wodka-Red-Bull und schalem Bier im Londoner und Tropics ab. Wie sehr ich diese Urlaube liebte! Wie geil war eigentlich meine Klasse damals? Ich meine: Frau meines Lebens gefunden, Freundschaften fürs Leben geschlossen (Mathis, Flo – ihr wisst Bescheid) und die beste Zeit überhaupt gehabt. Ich gebe euch jetzt mal einen Rat, zumindest denen, die noch zur Schule gehen: Genießt die Zeit in vollen Zügen, danach wird alles komplizierter. Sorry, aber ist so.

Danach wurde es auch schon wieder ernst. Der Jugendkoordinator und der U21-Trainer von Vitesse baten zum Gespräch. Ich bekam kurz Panik: „Verdammt, was ist denn jetzt los? Haben die was mitbekommen?“ Es sollte eigentlich niemand vom Verein wissen, dass ich direkt nach dem Trainingslager in die Partyhochburg an der Costa Brava gefahren war. Zum Glück lag ich total daneben. Sie sagten: „Wir haben mit Peter Bosz gesprochen. Der hat dich im Trainingslager auf mehreren Positionen getestet und glaubt, dass du eine große Zukunft als linker Verteidiger hast. Wenn du nichts dagegen hast, würden wir dich auch in der U21 als linken Verteidiger aufbauen.“ 13 Jahre lang hatte ich nur vorne oder im offensiveren Mittelfeld gespielt, und jetzt sollte ich auf einmal Abwehrspieler werden. Ich hatte nur eine Frage: „Vergrößert das meine Chancen, in die erste Mannschaft zu kommen?“ „Ja.“ „Dann los!“ Mir war eigentlich vollkommen egal, wo ich spielte. Ich wollte einfach nur in die erste Mannschaft. Also wurde ich von da an zum Linksverteidiger umgeschult. Nach dem Training legte ich Extraschichten ein, trainierte Flanken und rannte die linke Seite auf und ab.

Im Dezember hatten wir ein Spiel gegen den FC Dordrecht. Der Sportdirektor, Marco Boogers, und der Trainer der ersten Mannschaft, Harry van den Ham, waren auf der Tribüne und sahen ein gutes Spiel von mir auf der linken Abwehrseite. Die erste Mannschaft von Dordrecht war damals Erster in der zweiten Liga und wollte logischerweise unbedingt aufsteigen. Sie brauchten aber noch einen Linksverteidiger. Kurze Zeit später kamen sie auf mich zu.

Nach Weihnachten durfte ich wieder mit den Profis ins Trainingslager, dieses Mal nach Abu Dhabi. Schön, 30 Grad im Schatten mitten im Winter. Dort rief mich mein Berater an.

Seit der A-Jugend bei Vitesse hatte ich diesen ersten Berater. Als das bei mir so langsam losgegangen war mit U21 und dem ersten Profivertrag, war mir ans Herz gelegt worden, mir einen solchen zu suchen. Ich hatte mich bis dahin noch nie damit auseinandergesetzt und auch überhaupt keine Ahnung, was ein Berater eigentlich macht. Nach einem Spiel kam besagter Berater auf mich zu und wollte wissen, ob ich nicht mal Lust hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Marino hatte mir schon gesagt, dass das ein „guter Kerl“ sei, dem ich vertrauen konnte. „Den brauchst du spätestens, wenn es um einen Profivertrag geht.“ Ich erfuhr erst ein paar Jahre später, dass er doch nicht so ein „guter Kerl“ war, aber dazu kommen wir noch.

Es ist schon krass, was dieses ganze Berater-Business eigentlich anrichtet. Ich finde es grenzwertig, dass Berater mittlerweile bei C-Jugend-Spielen rumhängen und versuchen, 13-Jährige abzuwerben. Lasst die Jungs doch bitte erst mal in Ruhe Fußball spielen, Erfahrungen sammeln und Fehler machen. In dem Alter brauchst du keinen Berater, da brauchst du deine Eltern.

Dieser Berater rief mich also an, während wir in Abu Dhabi waren, und sagte: „Ich glaube, Dordrecht will dich haben.“ Wir waren gerade mal einen Tag zurück in Arnheim, da machte er schon Druck: „Willst du das machen oder nicht?“ Warum eigentlich nicht? Ich konnte beim Ersten der zweiten Liga spielen, vielleicht aufsteigen und gegen echte Kerle antreten, nicht mehr nur gegen die Jungs aus der U21. Das nächste Level sozusagen.

Marco Boogers und Harry van den Ham riefen mich beide an: „Du bist der geborene linke Verteidiger, der Typ, den wir brauchen. Wir wollen dich haben!“ Ich sagte ihnen natürlich nicht, dass ich erst ein einziges Spiel auf dieser Position absolviert hatte. Aber es war ein gutes Angebot, da waren sich alle einig. Bei Vitesse gab es nämlich ein Problem: Der Verein war 2010 eine Kooperation mit dem FC Chelsea eingegangen, die vorsah, dass etliche Chelsea-Talente, die noch nicht gut genug waren für die Premier League, in Arnheim geparkt wurden und in der Eredivisie spielen sollten. Das wiederum war leider ein verheerendes Signal an die Jugendspieler. Du konntest als Linksverteidiger noch so gut sein, wenn Chelsea meinte, irgendwen nach Arnheim schicken zu müssen, um auf dieser Position zu spielen, hatte das so umgesetzt zu werden. Man musste schon außergewöhnlich gut sein, um bei Vitesse mal eine echte Chance zu bekommen. Das war echt scheiße.

Das Angebot aus Dordrecht stand. Und ich traf eine Entscheidung.