4. Juni 2015
Eine Umzugsfirma brauchte ich nicht.
Sehr früh stand fest, dass Dordrecht absteigen würde. Also hatte ich nach und nach immer mal wieder Sachen mit nach Hause genommen. Ein Abschied auf Raten. Als die Saison beendet war, waren nur noch ein paar Klamotten in der Wohnung. Ich stopfte sie ins Auto und fuhr ab. Das Kapitel Dordrecht war damit für mich abgeschlossen.
Ich bereitete mich auf das nächste Treffen in Arnheim vor, um über meine Zukunft zu sprechen. Dieses Mal vertrat ich jedoch einen klaren Standpunkt: Ich wollte Vitesse verlassen. Diese ganze Kooperation mit Chelsea, die fehlende Kommunikation während der vergangenen anderthalb Jahre und meine unklare Position waren nichts für mich. Es war Zeit für das nächste Abenteuer. Ich hatte mir bewiesen, dass ich das Zeug für die erste Liga hatte und definitiv mithalten konnte. Zu einem Verein zu wechseln, bei dem ich kein Stammspieler gewesen wäre, hätte keinen Sinn ergeben. Ich wollte Fußball spielen.
Wie im Jahr zuvor fuhr ich unmittelbar nach Saisonende mit meinem Berater nach Arnheim, um mit Mo Allach zu sprechen. Allach bestätigte, dass sich an der Situation bei Vitesse und der Kooperation mit Chelsea nichts geändert habe. Ich machte es kurz: „Dann lass uns das hier beenden.“ Damit war er einverstanden, Vitesse verzichtete auf die Option, meinen Vertrag per Klausel zu verlängern. Ich konnte mir ablösefrei einen neuen Verein suchen. Ich sage das jetzt so nüchtern, aber die Situation machte mich schon ein bisschen traurig. Ich durfte für den Verein, der mich drei Jahre zuvor entdeckt hatte, keine einzige Minute in der ersten Mannschaft bestreiten. Trainer Peter Bosz hatte mir nie eine Chance gegeben. Auf der Geschäftsstelle von Vitesse gibt es eine Glaswand, auf der alle Spieler verewigt sind, die hier ihr Profidebüt gegeben haben. Ich hatte auch auf dieser Wand stehen wollen. Die Leute sollten mein Gesicht sehen, wenn sie da entlanglaufen. Aber das Leben ist ja bekanntlich kein Wunschkonzert.
Mein Berater präsentierte mir zwei Klubs, die sich bereits im vergangenen Sommer meinetwegen bei ihm gemeldet und jetzt erneut angefragt hätten. Cambuur wurde nach wie vor von Henk de Jong trainiert, der mir sehr gefiel, und ich bereute es, nicht im Vorjahr dorthin gewechselt zu sein. Seine Mannschaft hatte, während wir mit Dordrecht sang- und klanglos abgestiegen waren, immerhin eine ganze Zeit lang um die europäischen Plätze mitgespielt, wenn auch am Ende knapp verpasst. Außerdem signalisierte Heracles Almelo erneut Interesse. Der Verein, die Atmosphäre – ich hatte mit Dordrecht erlebt, wie unangenehm es war, in Almelo zu spielen. In diesem engen, lauten Stadion mit seinen 12 000 leidenschaftlichen Fans. In der Partie hatte ich zwar verletzt gefehlt, die Atmosphäre aber von der Tribüne aus aufgesogen. Almelo wäre der nächste Schritt in meiner Karriere. Erst der kleine Außenseiter aus Dordrecht, dann der größere Mittelfeldverein in Almelo, der vielleicht auch mal das Potenzial für etwas mehr hatte. Und wer weiß, irgendwann vielleicht der Verein, der um Titel mitspielt. Oder der Traum von der Bundesliga, von Schalke.
In Almelo traf ich mich mit Sportdirektor Nico-Jan Hoogma und Trainer John Stegeman. Beide machten einen sehr lässigen Eindruck. Dass John mit erst 39 Jahren bereits einen Erstligaklub trainierte, fand ich beeindruckend. Ihm gefiel, dass ich gleich auf mehreren Positionen einsetzbar war. „Ich weiß, dass du als linker Verteidiger und zentraler Mittelfeldspieler auflaufen kannst. Ich sehe dich auch auf beiden Positionen, aber du musst wissen, dass unser Kapitän Linksverteidiger ist.“ Er plante also mit mir als Mittelfeldspieler. Wer holt denn schon einen U21-Mann, der gerade mit seinem Verein abgestiegen ist, und setzt ihn dem Kapitän vor die Nase? Mit eben jenem Kapitän Mark-Jan Fledderus sollte ich noch Probleme bekommen. Ich hatte nichts dagegen, auf die Linksverteidigerposition zu verzichten. Mir machte es im Mittelfeld eh am meisten Spaß. Ob ich also zu Cambuur oder Heracles ging, spielte positionstechnisch keine Rolle. Beide wollten mich als Mittelfeldspieler verpflichten, als Achter im 4-3-3.
John Stegeman und Nico-Jan Hoogma zeigten mir das Klubgelände, das zwar etwas größer als das von Dordrecht war, aber nicht so modern wie in Arnheim. Das Stadion gefiel mir wie gesagt besonders gut. Es hatte eine richtig englische Atmosphäre, klein und eng, die Tribüne nah am Feld. Hier konnten dir die Fans quasi auf den Kopf spucken, wenn sie denn wollten.
Ausnahmsweise waren auch meine Eltern, die mit ihrem Wohnwagen in den Niederlanden unterwegs waren, mit von der Partie. Ich habe Mama und Papa immer in alles miteinbezogen, und da es so aussah, als ob Almelo mein neuer Arbeitgeber werden würde, kamen sie vorbei. Das Stadion und die Geschäftsstelle liegen direkt nebeneinander. Als wir uns gerade auf den Weg zum Stadion machten, fuhren sie mit dem Wohnwagen vor und hörten, was John und Nico-Jan zu sagen hatten.
Ich hatte ein sehr gutes Gefühl, und auch die Finanzen stimmten. Heracles wollte mir deutlich mehr zahlen als Cambuur. Mein Berater musste nur noch die letzten Details klären, ich flog währenddessen mit einem Kumpel in die Türkei. Ein paar Tage Urlaub hatte ich bitter nötig. Nachdem ich das finale Angebot erhalten und mein Berater es bestätigt hatte, sprach John Stegeman auf die Mailbox: „Herzlichen Glückwunsch, ich bin sehr glücklich, dass du zu uns kommst!“ Ich rief direkt zurück: „Ich freue mich auch und kann es gar nicht abwarten!“ Klingt recht abgedroschen? Aber was hätte ich sonst in dem Moment sagen sollen? „Oberaffenmegageil, du geile Sau! Nächste Saison nehmen wir alles auseinander, lass krachen!“ Naja, vielleicht beim nächsten Mal.
Am 4. Juni 2015 postete ich bei Instagram ein Bild von mir aus dem Urlaub, am Pool sitzend, mit dem Rücken zur Kamera und der Cap falschrum auf dem Kopf. Und im Hintergrund der blaue Himmel und Palmen. Extrem lässig eben. „Eine geile Zeit geht zu Ende“, schrieb ich dazu. „Die neue wartet schon. Auf in ein neues Abenteuer.“ Damit war mein Wechsel offiziell. Nach dem Urlaub setzte ich meine Unterschrift unter einen Dreijahresvertrag, der mir 100 000 Euro brutto im Jahr einbringen sollte. Das kleine Milchgesicht, das gerade noch für ein Azubigehalt in der U21 bei Vitesse und in Dordrecht gekickt hatte, verdiente plötzlich sehr gutes Geld. Mit diesem Gehalt lag ich auf Vereinsebene natürlich im unteren Bereich, aber das kümmerte mich wenig. Ich war angekommen im Business, auch finanziell. Jetzt konnte ich Geld ausgeben, das ich vorher nie gehabt hatte. Die ersten drei Monatsgehälter haute ich gleich mal auf den Kopf, um mir endlich den verdammten VW Scirocco zu kaufen, den ich so gern haben wollte. Natürlich in Weiß. Ein Scirocco musste weiß sein. Bis ich die Farbe leid war und ihn nach einem halben Jahr matt grau lackieren ließ. Ich fühlte mich wie ein König.
Als Nächstes ging die Wohnungssuche wieder los, aber dieses Mal unter anderen Vorzeichen. Ich war nicht mehr bloß ausgeliehen, Almelo war keine Zwischenstation mehr. Ich hatte für drei Jahre unterschrieben und wollte mich dementsprechend einrichten. Dieses Mal wollte ich es richtig machen, eine schöne Wohnung finden und sie nach meinem Geschmack einrichten. Ich würde alleine wohnen, soviel stand fest. Rabea hatte gerade ihr Physiotherapiestudium in Bochum begonnen und daher sowieso keine Zeit, mit mir irgendwo einzuziehen. Außer vielleicht, wenn ich zum VfL Bochum gewechselt wäre. Aber das war okay für uns. Wir hatten im vergangenen Jahr die Erfahrung gemacht, dass auch eine Fernbeziehung funktionieren kann. Sie wollte ihr Studium angehen und ich meine Karriere voranbringen.
In Almelo gab es im Gegensatz zu Dordrecht einen Teammanager, Edwin van Lenthe, der mich bei der Wohnungssuche unterstützte und mir in der Stadt ein paar Buden zeigte. Die waren leider alle schäbig und viel zu teuer. Damit ergab sich ein Problem. Wir hatten schon Ende Juni, und der Trainingsauftakt stand vor der Tür. Ich musste also erst mal pendeln, wenn ich in Almelo nichts Passendes fand. Dabei hatte ich kaum Zeit, mich zwischen den Trainingseinheiten und Heimfahrten intensiv darum zu kümmern. Immerhin wurde der Scirocco vernünftig eingefahren.
Daraus folgte gleich das nächste Problem: Der Verein verlangte, dass kein Spieler weiter als eine halbe Stunde vom Klubzentrum entfernt wohnen sollte. Wenn ich vorübergehend wieder bei Mama und Papa einzog, hatte ich 75 Minuten Fahrtzeit. Was also tun? Mein Mannschaftskollege Dario Vujicevic hatte eine Idee: „Warum ziehst du nicht einfach auf die deutsche Seite?“ Wie meinst du das? Ganz einfach: Von Almelo bis nach Gronau kurz hinter der deutschen Grenze brauchte man nur 25 Minuten, und in Gronau waren die Häuser zum einen schöner und außerdem erschwinglicher. Schon klar, ich verdiente jetzt gutes Geld, aber ich wollte wirklich nicht Unsummen für eine Wohnung bezahlen, die mir gar nicht gefiel. Also schaute ich mich in Gronau um und fand ein schönes Loft in Epe, dem letzten Dorf vor der Grenze nahe Enschede. Von da aus brauchte ich genau eine halbe Stunde bis zum Trainingsplatz von Heracles. Punktlandung. Die Vorbereitung auf die neue Spielzeit konnte beginnen.
John Stegeman hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich um meinen Platz in der Mannschaft zu kämpfen hatte. Aber das war okay für mich. Ich hatte den Klub keine Ablöse gekostet und dementsprechend auch nicht den ganz großen Druck, sofort abliefern zu müssen. Diesen Anspruch hatte ich eher an mich selbst. Mark-Jan Fledderus war als Kapitän auf der linken Abwehrseite gesetzt, für mich ging es um einen der zwei Plätze im zentralen Mittelfeld. John spielte wie eigentlich jeder Trainer in den Niederlanden mit einem 4-3-3-System, mit einem defensiven Mittelfeldspieler und zwei etwas offensiveren davor. Vielleicht darf man seinen Trainerschein in Holland nur machen, wenn man vorher einen Eid ablegt, niemals ein anderes System spielen zu lassen. Es würde mich jedenfalls nicht wundern.
Ich brauchte ein paar Wochen, um mich in der Mannschaft zurechtzufinden. Erst am achten Spieltag, Anfang Oktober, stand ich gegen Heerenveen zum ersten Mal in der Startelf, und das auch nur, weil sich unser Kapitän verletzt hatte. So durfte ich über 90 Minuten auf der linken Abwehrseite ran und trug meinen überschaubaren Teil dazu bei, dass wir 2:0 gewannen und nach der anschließenden Länderspielpause als Tabellendritter mit nur einem Punkt Rückstand ins absolute Topspiel zu Ajax Amsterdam fuhren.
Mark-Jan hatte seine Verletzung inzwischen auskuriert, sodass der Platz hinten links wieder vergeben war. Unser Trainer wurde erfinderisch und packte mich in die offensive Dreierreihe. Ajax, viermaliger Champions-League-Sieger und Rekordmeister, war ein bisschen zu gut für uns. Ich blieb als Linksaußen relativ blass und spielte zwei Wochen später schon wieder als Linksverteidiger, dann im linken Mittelfeld, danach im zentralen Mittelfeld. Und so weiter. Wer es noch nicht gemerkt hat: Ich hatte durchaus Schwierigkeiten, meinen Platz zu finden. Was eben auch hieß, dass John Stegeman noch nicht wirklich wusste, was er mit mir anfangen sollte. Ich machte mich deswegen nicht verrückt. Ich war gerade erst 21 und in einer Mannschaft gelandet, die mir vieles erleichterte.
Im Grunde konnte man die Situation aus dem Vorjahr nehmen und um 180 Grad drehen. In Dordrecht war ich auf der Linksverteidigerposition gesetzt gewesen und hatte in jedem Spiel auf dem Platz gestanden. Dafür hatte ich Probleme in meinem Privatleben gehabt, weil ich erstmals von zu Hause weg war und in der Mannschaft wenig Freunde fand. In Almelo wiederum suchten alle noch nach meiner besten Position, dafür war ich umgeben von einer überragenden Truppe. Ich habe hoffentlich noch ein paar Jahre im Fußballgeschäft vor mir, aber es wird für alle kommenden Mitspieler schwer, diesen Jungs das Wasser zu reichen. Es stimmte einfach im Team, alle waren locker drauf und hatten Spaß. Wir gingen zusammen ins Kino, zum Bowlen, was auch immer. Und zwischendurch war es auch mal ganz angenehm, alleine zu sein, mich in mein Loft zurückziehen zu können und dort Zeit für mich zu haben. Bei Heracles wurde eigentlich jeder Spieler und Mitarbeiter – außer vielleicht Mark-Jan – ein guter Freund von mir. Selbst die Köchin in der Kantine. In Dordrecht war ich nach jedem Training schnellstmöglich nach Hause gefahren, jetzt saßen wir teilweise noch zwei oder drei Stunden zusammen und redeten über Gott und die Welt. Und dieses Gemeinschaftsgefühl spiegelte sich auch auf dem Platz wider. Die Zeit in Almelo zeigte mir, dass Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft der wichtigste Erfolgsfaktor ist. Ist ja kein Hexenwerk, sollte man meinen – oh doch! Ich behaupte einfach mal, dass keine Mannschaft auch nur einen Blumentopf gewinnt, wenn die Chemie nicht stimmt. Jürgen, Pep oder Hansi, ihr könnt gerne Stellung beziehen, würde mich freuen. Da kannst du noch so gute Einzelspieler haben. Wenn du als Spieler nicht bereit bist, den Extrameter für einen Mannschaftskollegen zu machen oder auch mal die Drecksarbeit für ihn zu erledigen, ohne dafür Komplimente zu bekommen, wirst du früher oder später an deine Grenzen kommen. Es gibt in einer Truppe so unglaublich viele Strömungen und Einflüsse, die sich auf die Chemie auswirken. Sprache ist natürlich ein großes Thema. Aber es geht auch darum, wie die Spieler ticken, wie viele Alphamännchen es gibt, ob der Erfolg da ist und wie die einzelnen Eigenschaften zusammenpassen. Hier kommt der Trainer ins Spiel. Er muss dafür sorgen, dass aus all den Spielern eine Einheit wird und man sich für den gemeinsamen Erfolg zerreißen möchte. Aber auch ein Coach braucht das Quäntchen Glück, weil er nicht immer weiß, mit was für Typen er es zu tun hat. Nicht umsonst wählen Sportdirektoren heutzutage ihre Spieler nicht nur aufgrund ihrer Qualitäten auf dem Platz aus, sondern versuchen sich auch ein Bild davon zu machen, wie der Junge sich außerhalb verhält.
Zurück zum Thema: Die ersten beiden Tabellenplätze waren, wie eigentlich immer, an PSV Eindhoven und Ajax Amsterdam vergeben. Gegen die beiden war und ist in dieser Liga kein Kraut gewachsen, da gibt es nur selten Überraschungen. Aber wir standen nach 22 Spieltagen auf Platz drei und waren quasi der Anführer der restlichen Eredivisie. Heracles hatte es zuvor noch nie in einen europäischen Wettbewerb geschafft, wir konnten also Historisches erreichen. Der gute Lauf endete mit dem 3:6 gegen Alkmaar am 23. Spieltag. Ich hatte gelbgesperrt gefehlt, durfte mich aber in der Woche darauf bei Tabellenführer Eindhoven endlich mal wieder im zentralen Mittelfeld zeigen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, dass ich auf der Acht am besten aufgehoben war. Jetzt musste ich liefern und zeigen, dass John im zentralen Mittelfeld auch wirklich auf mich zählen konnte.
Doch ich wurde nach 51 Minuten ausgewechselt, wir verloren 0:2. Gegen Roda Kerkrade erhielt ich noch eine Bewährungsprobe. Und nutzte sie wieder nicht. Diesmal war zur Halbzeit Schluss, am Ende gingen wir 0:5 unter. Als wir eine Woche später auch in Nijmegen keinen Punkt holten, sprach plötzlich niemand mehr vom Europapokal. Nach vier Niederlagen in Folge waren wir von Platz drei auf Rang neun abgerutscht. Und daran hatte auch ich meinen Anteil. Die Chance, die mir John auf meiner Wunschposition geboten hatte, hatte ich nicht nutzen können. Vielleicht war es einfach nicht meine beste Position? Vielleicht musste ich einsehen, dass ich zwar laufstark, athletisch und zweikampfstark war, dass mir aber, wie Peter Bosz es vorhergesagt hatte, einfach die technischen Qualitäten für diese Position fehlten? Vielleicht war ich also doch ein Linksverteidiger? Und vielleicht brauchte es diesen letzten Spieltag, damit das endlich alle begriffen.
Ein Punkt fehlte uns noch, um sicher Sechster zu werden und in den anschließenden Play-offs um einen Qualifikationsplatz für die Europa League mitspielen zu können. Wir hatten dreimal in Folge nur unentschieden gespielt, und John stellte mich zum ersten Mal seit drei Monaten wieder links hinten auf. Wir verloren mit 1:2 in Groningen, wurden aber trotzdem Sechster. Und ich gab meinen Platz nie wieder her.
Im Play-off-Halbfinale erwartete uns wie schon am letzten Spieltag Groningen. Nach dem 1:2 im Hinspiel gab ich im Rückspiel in der zweiten Minute der Nachspielzeit die Vorlage zum 2:1 von Paul Gladon, das uns die Verlängerung sicherte. Wir schossen noch drei Tore, setzten uns anschließend in den zwei Finalspielen gegen Utrecht durch und hatten damit die Tür nach Europa weit aufgestoßen. Noch lagen drei Qualifikationsrunden vor uns. Trotzdem feierten wir dieses Saisonende wie eine Meisterschaft, fuhren mit einem Bus durch die Stadt und ließen uns von den Fans bejubeln. Was mir allerdings noch wichtiger war: John Stegeman hatte mir gesagt, ab jetzt würde ich die Nummer eins auf der Linksverteidigerposition sein. Mark-Jan Fledderus war zwar Kapitän, aber auch schon fast 34 Jahre alt. Akzeptieren wollte er die Entscheidung natürlich trotzdem nicht. Sein Pech. Bei mir lief es jetzt, aber richtig.
Rabea und ich flogen nach den Play-offs und der ganzen Feierei für zehn Tage nach Mexiko. Danach gönnte ich mir noch ein paar Tage Ibiza mit meinen besten Freunden Marco und Mike. Und dann ging es Ende Juni auch schon wieder in die Saisonvorbereitung. In einem Monat stand die erste Euro-League-Qualirunde gegen den FC Arouca an, einen portugiesischen Verein, den ich genauso gut kannte wie die Lieblingsmusik von Barack Obama. Außerdem schrieb ich mich am Institut für Lernsysteme für einen Grundkurs Psychologie ein. Wenn ich abends alleine im Loft saß, hatte ich begonnen, mich mit Psychologie zu beschäftigen. Der 14-monatige Grundkurs vermittelte die fachlichen Grundlagen. Danach wollte ich schauen, was ich aus diesem Wissen machen würde.
Es war natürlich nur ein erstes Qualifikationsspiel von sechs möglichen, aber die Anspannung rund um den Verein war deutlich spürbar. Das war Neuland für uns alle. Aber so traten wir nicht auf. Wir spielten Arouca schwindelig, vergaben allerdings eine Großchance nach der anderen und belohnten uns erst nach der Pause durch Paul Gladon. Wir hätten längst 5:0 oder auch 6:0 führen müssen, stattdessen kassierten wir in der Nachspielzeit mit Aroucas erster Torchance den Ausgleich – eine von mir dämlich abgefälschte, halbherzige Flanke, die an unserem Keeper Bram Castro vorbei ins Tor trudelte. Das 1:1 war natürlich viel zu wenig gegen diesen Gegner. Die waren schlecht, wirklich. Aber wir bekamen es auch im Rückspiel nicht gebacken, den Ball in das verdammte Tor zu schießen. Warum ist das manchmal so schwer? Das Spiel endete tatsächlich 0:0, und durch das Auswärtstor hatte sich das Thema Europa League auch schon wieder erledigt. Weil wir zu blöd waren, gegen einen Verein zu bestehen, der heute in der zweiten portugiesischen Liga spielt. Bei allem Respekt, aber das war so was von vermeidbar. Und als wäre das Ausscheiden nicht schon beschämend genug gewesen, drückte die Küche im Hotel uns noch zusätzlich einen rein.
Edwin van Lenthe, unser Teammanager, hatte freundlich darum gebeten, uns trotz der späten Uhrzeit, es war schon nach Mitternacht, noch Fish & Chips zu servieren. Zwei von diesen klassischen, silbernen Catering-Wärmebehältern wurden ins Hotel-Restaurant getragen, in dem wir frustriert gewartet hatten. Genervt, angefressen und einfach enttäuscht. Ich öffnete einen dieser Behälter und dachte sofort, dass man uns verarschen wollte. Da waren Chips drin, ganz normale Chips aus dem Supermarkt. Der Gedanke an ein paar Pommes hatte mich wenigstens daran gehindert, nicht das ganze Hotelfoyer auseinanderzunehmen, und dann stellten die uns da stinknormale Chips in diesen silbernen Dingern hin? Das musste ein schlechter Scherz sein. „Edwin“, schrie ich, „was ist das für eine Scheiße?“ Das lächerliche Ende eines lächerlichen Abends.
Es fiel uns schwer, den Frust dieser Spiele einfach so abzuschütteln. Dafür hatten wir uns zu viel vorgenommen. Wir gewannen gerade mal eins der ersten elf Ligaspielen, obendrein verpasste ich vier Wochen wegen einer Syndesmoseverletzung. Erst im Herbst ging es langsam wieder bergauf. Ich war auf der Linksverteidigerposition gesetzt und fühlte mich dort zunehmend wohler. Meinen Alltag bestimmte jedoch eine andere Geschichte. Ich hatte inzwischen ein bisschen Geld angespart und deshalb auch ein wenig Spielraum, um mir mal was anderes zu gönnen als einen Scirocco. Ich wollte meine Kohle vernünftig anlegen. Also kaufte ich eine Wohnung in einem Neubau in Elten und suchte nach Mietern. Eine schlaue Investition, wie ich dachte. Doch daraus wurde nichts. Ich fand keinen Mieter, und es ergab natürlich wenig Sinn, gleichzeitig für zwei Wohnungen zu zahlen und nur in einer zu wohnen. Marijn de Kler war im Sommer 2015 gemeinsam mit mir von Arnheim nach Dordrecht gewechselt und schnell mein bester Kumpel in der Truppe geworden. Er wohnte nach wie vor in der Nähe von Arnheim. Also überlegte ich: Wie wäre es, wenn ich das Loft in Epe wieder abgäbe und in meine eigene Wohnung nach Elten zöge? Ich könnte Mari unterwegs einsammeln, und wir würden eine Fahrgemeinschaft bilden. Guter Plan, machen wir so!
Ich packte also meinen Kram in Epe zusammen und schaffte alles in die nigelnagelneue Wohnung nach Elten. Ein paar Tage später kam ein Vereinsvertreter von Heracles auf mich zu und fragte: „Bist du umgezogen?“ Ich erfand eine kleine Notlüge: „Ja, ich musste leider aus der Wohnung in Epe raus und hab mir jetzt zu Hause in Elten eine eigene gekauft.“ Kurz darauf bat mich der Trainer in sein Büro. Da war mir schon klar, dass irgendwas nicht stimmte. John war normalerweise nicht der Coach, der zum Kaffeekränzchen einlud. „Robin“, begann er seine Standpauke, „das geht nicht. Du weißt, dass du nur eine halbe Stunde entfernt wohnen darfst.“ Von Elten nach Almelo braucht man gut doppelt so lange.
Ich hatte gerade alles fertiggemacht, alle Möbel besorgt und die Wohnung bezogen. John zu überreden, war allerdings aussichtlos, er machte keine Ausnahme für mich. „Du musst hier irgendwo in der Nähe von Almelo wohnen.“ Schöne Scheiße. Was sollte ich jetzt machen? Ich steckte tief im Schlamassel. Ich fuhr nach Hause, überlegte hin und her und kam auf die abstrusesten Ideen. Im Sommer hatte Heracles Robin Pröpper von De Graafschap verpflichtet. Der wohnte in Enschede, und wir verstanden uns gut. Ich rief ihn an: „Robin, wäre es okay für dich, wenn ich so tue, als würde ich bei dir einziehen?“ Und tatsächlich konnte ich ihn von dieser verrückten Idee überzeugen. Mit diesem Vorschlag marschierten wir zum Trainer: „John, wir würden gerne eine WG gründen.“ Damit war er einverstanden. Was er nicht wusste, war, dass Robin Pröpper weiterhin mit seiner Freundin zusammenwohnte und ich deshalb gar nicht einziehen konnte. Der Verein sollte glauben, dass ich in Enschede wohnte, damit ich ganz gemütlich jeden Tag nach Hause zu meiner eigenen Wohnung fahren und den matt grauen Scirocco bis an seine Belastungsgrenze bringen konnte. Ich hatte fast an alles gedacht und wurde nun noch ein bisschen dreister. Jeden Morgen fuhr ich los und sammelte Mari in Arnheim ein. So, wie wir das vorher geplant hatten. Damit der Schwindel aber nicht aufflog, warteten wir jeden Tag kurz vor dem Vereinsgelände auf Robin Pröpper, damit ich das Auto wechseln und bei Robin einsteigen konnte. Falls uns also jemand auf dem Parkplatz vorm Stadion sah, konnte er unmöglich Verdacht schöpfen. Genauso machten wir es auch nach dem Training. Richtig Gangsterfilmmäßig, oder? Gesagt werden muss allerdings auch, dass ich tatsächlich öfter bei Robin schlief und mich dort ab und zu einnistete. Einfach, weil wir ein super Verhältnis hatten und es auf Dauer deutlich angenehmer war, nur bis Enschede fahren zu müssen. Zum Glück hat in der ganzen Zeit niemand überprüft, wo ich angemeldet war, sonst wäre der Schwindel aufgeflogen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es sportlich zu der Zeit sehr gut lief und ich mittlerweile ein gestandener Spieler war, weswegen, auch wenn vielleicht der eine oder andere einen Verdacht hatte, zwei Augen zugedrückt wurden. Rückblickend betrachtet war die Aktion natürlich ziemlich dreist, aber ich war damals noch ziemlich jung und vor allem sehr naiv. Heute weiß ich natürlich, dass man sich sowas gegenüber seinem Arbeitgeber nicht erlauben und ihn nicht hintergehen darf.
John, Nico-Jan und alle, die ihr das jetzt vielleicht lest: Ich wollte euch wirklich nicht verarschen, sondern einfach nur zu Hause wohnen. An Mari und Robin: Danke, Jungs. Das war genial.
Mit Heracles waren wir leider nicht mehr so erfolgreich wie in der Vorsaison und wurden nur Zehnter. Dafür wusste ich nach diesem Jahr genau, wer Robin Gosens war. Ich hatte einen Ernährungsberatungskurs abgeschlossen, kannte meinen Körper und wurde kräftiger, robuster. Ich hatte angefangen, die Grundlagen der Psychologie zu erforschen und konnte gewisse Gedankengänge verstehen, über die ich vorher nicht nachgedacht hatte. Vor allem aber hatte ich auf keiner anderen Position als der des Linksverteidigers gespielt. Ich war kein zentraler Mittelfeldspieler mehr und kein Linksaußen. Ich hatte gelernt, zu verteidigen. Ich konnte die Linie rauf und runter rennen und ab und zu auch vor dem gegnerischen Tor gefährlich werden. Ich war nun definitiv ein Linksverteidiger. Und das hatte ein anderer Verein bereits 25-mal ganz genau beobachtet.