Was mir wichtig ist


MENSCHLICHKEIT IM FUSSBALL

17. November 2020

Ich lag auf dem Sofa und sah wie viele andere Millionen Fans, was da gerade in Sevilla passierte. Es hätte nie so weit kommen dürfen, aber manchmal läuft eben alles gegen dich, und dann stehst du am Ende da wie der größte Vollidiot.

Die Wade hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, was eigentlich auch zu erwarten gewesen war. Es hatte mich schon überrascht, dass Joachim Löw mich trotz der Verletzung für die Nationalmannschaft nominiert hatte. In Crotone, gegen Inter und ausgerechnet gegen Liverpool musste ich passen, wobei das im Nachhinein vielleicht gar nicht so schlimm war angesichts dessen, was Diogo Jota, Mohamed Salah und Sadio Mané dort mit uns veranstalteten. Ich musste (oder durfte?) von der Tribüne aus ansehen, wie die mit ihrem wirklich irren Tempo an uns vorbeirauschten und uns eine Lehrstunde für lau gaben. Fünf Dinger schenkten sie uns ein, und vielleicht war es deshalb gar nicht so schlimm, ausnahmsweise mal nicht spielen zu können. Aber so was darf man als Fußballer ja nie sagen. Ups.

Jedenfalls, meine Wadenverletzung machte mir ganz schön zu schaffen. Vor allem, weil mir niemand sagen konnte, was eigentlich genau das Problem war. Alle Tests waren negativ ausgefallen, Risse oder Brüche waren ausgeschlossen worden. Trotzdem wurde es drei Wochen lang nicht besser. Sobald ich das Pensum im individuellen Training ein bisschen steigerte, spürte ich wieder einen stechenden Schmerz. Dennoch riefen die Ärzte und Trainer vom DFB mich vor der Länderspielphase im November 2020 an und erkundigten sich nach meinem Befinden. Ich sagte ihnen, dass es nicht so rosig aussehen würde und rechnete deshalb nicht mit einer Nominierung. Erst recht nicht, als alles noch mal schlimmer wurde, nachdem ich zu früh wieder hatte loslegen wollen. Es machte mich fertig, wegen so einer blöden Sache die Chance auf einen Einsatz zu verpassen. Das war mein Traum. Und genauso ist es jedes Mal, wenn ich in den DFB-Trainingsanzug schlüpfe: Dann bin ich ein kleiner Junge, der sein Glück gar nicht fassen kann. Jede Nominierung für die deutsche Nationalmannschaft ist für mich so, wie wenn ich als Kind ein neues Trikot geschenkt bekam. Ein unbeschreibliches Hochgefühl.

Der DFB lud mich trotz meiner Verletzung ein, man wollte sich vor Ort selbst ein Bild machen. Sollte es nicht besser werden, würde ich eben wieder abreisen. Atalanta gefiel das gar nicht. Man machte sich Sorgen, dass ich bei der Nationalmannschaft verheizt würde. Mir war das egal, solange ich nur dabei sein konnte. Zum dritten Mal.

Auf dem Programm standen ein Freundschaftsspiel gegen Tschechien und zwei Nations-League-Partien gegen die Ukraine und Spanien. Tolle Erfindung übrigens, diese Nations League. Als hätten wir nicht schon genug Spiele zu absolvieren. Aber gut. Mit etwas Glück würde ich vielleicht für die letzte Begegnung fit genug sein. Ich flog nach Leipzig, checkte im Hotel ein und begab mich direkt zu den ersten Untersuchungen, wieder ohne jeglichen Befund. Ich dachte: Läuft bei dir, Alter. Jetzt bist du schon so weit, dass du trotz Verletzung eingeladen wirst. Es war dann ein kalter, trister Abend im menschenleeren Stadion in Leipzig und ein kaltes, tristes 1:0 gegen Tschechien. Haken dran, weitermachen.

Mit meiner Wade wurde es aber einfach nicht besser, und so packte ich noch vor dem Spiel gegen die Ukraine meine Sachen und reiste wieder ab. So großartig es im Kreise der Nationalmannschaft auch war, die Saison mit Atalanta würde noch werden. In der Liga lagen gerade mal 7 von 38 Spieltagen hinter uns. Also tschüss, macht’s gut, ich fuhr zurück nach Bergamo. Percassi, Atalantas Präsident, hatte bereits mehrmals mit mir telefoniert und mich aufgefordert, mich unverzüglich auf den Rückweg zu begeben, wenn ich sowieso nicht spielen konnte. Schon rührend irgendwie, aber auch irgendwie nicht. Ziemlich schade, weil ich das Gefühl hatte, die Behandlung beim DFB würde gerade Früchte tragen. Er hätte mich ja mal fragen können, wie es mir ging und was ich am liebsten machen würde. Aber nein, wo kämen wir denn hin im Fußball, wenn wir jetzt auch noch miteinander reden würden? Klar, er war derjenige, der mich bezahlte. Aus seiner Sicht war es also verständlich, dass er meine Reise zur Nationalmannschaft als unnötiges Risiko ansah.

Das Spiel gegen die Ukraine gewannen die Jungs mit 3:1, drei Tage später ging es gegen Spanien, da war die Herausforderung eine ganz andere. Gegen Spanien hatte ich im Hinspiel mein Debüt gefeiert, und jetzt ärgerte ich mich, dass ich mich nicht für dieses völlig unnötige Gegentor in der Nachspielzeit damals revanchieren konnte. Wie so viele Menschen saß ich also vor dem Fernseher, und musste mitansehen, wie von Anfang an alles den Bach runterging. Morata, klatsch. Ferran Torres, klatsch. Rodrigo, klatsch. 0:3 zur Halbzeit, und ich verschwand erst mal auf den Balkon. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich auch jetzt wieder nicht etwas froh darüber war, diese Schmach nicht hautnah miterleben zu müssen. Ich hätte ganz bestimmt auch nicht dafür gesorgt, dass unser Spiel vielleicht etwas weniger erbärmlich aussah. Aber es ging mir sehr auf den Keks, wie der Kommentator einen Spieler nach dem anderen zerrupfte. Er schoss von Anfang an völlig übers Ziel hinaus, bereits vor dem ersten Gegentor. Ich möchte ihm nicht unterstellen, er habe sich gefreut, dass wir eine Hütte nach der anderen hinnehmen mussten, aber irgendwie bekam ich genau das Gefühl. Als ob ein Kommentator nicht die Pflicht hätte, möglichst objektiv zu agieren. Ich finde, er gab den Zuschauern da draußen das Gefühl, dass keiner von uns Fußball spielen kann. Das sah an dem Abend vielleicht auch so aus, aber aus meiner Sicht, mit der rosaroten DFB-Spielerbrille auf, klang es hämisch, die Spieler dermaßen in Grund und Boden zu stampfen. Bitte versteht mich nicht falsch: jegliche Kritik nach so einem Auftritt ist berechtigt, aber es geht, finde ich, immer um die Art und Weise. Der Ton macht die Musik, mein lieber Sportsfreund, pflegte mein Opa immer zu sagen!

Es stimmt ja, dass wir, und da spreche ich jetzt einfach mal im Namen der Nationalmannschaft, uns im Jahr 2020 nicht mit Ruhm bekleckert haben. 2019 und 2018 leider auch nicht. Ganz klar: Die Grundstimmung in Deutschland war nicht die gleiche wie noch 2014. Das Problem ist nur, dass viele Menschen es offenbar nicht akzeptieren können, wenn es mal etwas schlechter läuft. Sie scheinen zu denken, dass man einfach immer so weitermachen kann. „Ihr seid doch Weltmeister, jetzt macht doch mal!“ Okay, klar. Kein Problem. Hat man ja vier Jahre später in Russland gesehen, wie einfach so eine Titelverteidigung ist.

Wobei ich den Frust natürlich verstehen kann. Aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählen, wie scheiße doch alle geworden sind und dass „die da“ endlich mal wegmüssen, ist auch keine Lösung. Ich hatte bisweilen das Gefühl, dass manche Fans und Journalisten sich förmlich daran aufgeilten, eine am Boden liegende Nationalmannschaft mit Füßen zu treten. In Sevilla entlud sich die aufgestaute Antipathie über den Köpfen der Jungs, die ohne Zweifel einen ganz fürchterlichen Tag erwischt hatten. Ich bin mir sicher, dass Toni Kroos und Manuel Neuer in der Kabine durchaus laut geworden sind, genau wie Joachim Löw. Nur wurde es auf dem Platz leider nicht besser, im Gegenteil. Ferran Torres, klatsch. Ferran Torres, klatsch. Oyarzabal, klatsch. Irgendwann zwischendurch schrie Manuel Neuer einfach mal den Pfosten an. Gut so, Manu. Der Dampf muss raus.

Rabea schaute mich mit großen Augen an: Wie kann so etwas passieren? Ich hätte gerne Andi Brehme zitiert: Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß. Nur hätte Rabea das vermutlich nicht weitergebracht. Aber was sollte ich sagen? Was sollten die Jungs nach dem Spiel sagen? „Jeder hat mal einen schlechten Tag“, wäre wohl zu einfach gewesen. Und trotzdem wahr. Ein paar Wochen zuvor hatte die Übermannschaft Liverpool 2:7 bei Aston Villa verloren. Was hatte sie sich nicht alles anhören müssen! Es gibt Tage im Leben, da läuft einfach alles gegen dich. Da schmeckt morgens das Müsli nicht, und abends wirst du von elf Spaniern vermöbelt. Ist nicht schön, ist aber so. Da braucht mir keiner mit Taktik zu kommen. Wenn du 0:6 verliert, hast du es schlichtweg vergeigt. Da will ich gar keine Analyse hören, ehrlich gesagt. Die Journalisten allerdings schon. Nach dem Schlusspfiff schaltete ich den Fernseher daher schnell ab. Toni Kroos, oder wer auch immer sich den Fragen stellen würde, konnte einem leidtun. Aber irgendwer musste es machen.

Am nächsten Morgen wurde mir bei WhatsApp eine Nachricht weitergeleitet, die auf der Facebook-Seite „Lügenpressing“ ihren Ursprung hatte. Es war eine „Einzelkritik“ für die deutschen Starter gegen Spanien. Ich muss aufpassen, was ich jetzt sage. Aber hoffentlich traut ihr euch auch mal vor die Kamera und lasst euch dann genauso bewerten. Da wurden Sachen geschrieben – wirklich unter aller Sau. Toni Kroos wurde für seinen Podcast kritisiert, selbst sein „nichtsnutziger Bruder“ geriet in die Schusslinie. Ist das cool, die Familie zu beleidigen, und sich dabei feige hinter einem Facebook-Account zu verstecken? Aber hey, dafür gibt’s ja ein paar Likes. Was macht man nicht alles für ein bisschen Anerkennung im Internet! Die Jungs sind ja Millionäre, denen wird’s schon nicht so schlecht gehen! Da haue ich mal drauf, damit jemand seinen Kumpel markieren und lachen kann! Haha, geil!

Hört auf, die Fehler und Schwächen anderer für ein paar Lacher zu missbrauchen! Ja, die Jungs haben das Spiel in den Sand gesetzt. Sehr tief sogar. Aber deshalb darf man sie noch lange nicht als „Hurensohn“ beleidigen oder Familienmitglieder in den Schmutz ziehen. Wo bleibt da die Menschlichkeit? Vielleicht sollte man mal eine Sekunde darüber nachdenken, dass die Betroffenen das möglicherweise lesen. Dass sich die Spieler auch so schon schlecht genug fühlen. Ist es abwegig, nach so einer Niederlage darüber nachzudenken, es vielleicht mal mit ein paar aufmunternden Worte zu probieren? Offenbar. Lieber noch mal nachtreten, vor allem, wenn man sich hinter der Anonymität verstecken kann. Großes Kino.

Ich will dieses 0:6 nicht schönreden und auch nicht behaupten, dass die Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren alles richtig gemacht hat. Das liegt mir fern. Aber lasst uns bitte nicht vergessen, dass Fußballer auch nur Menschen sind. Beleidigungen prallen auch an uns nicht ab. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre bei diesem Spiel dabei gewesen und jemand hätte meine Schwester nachher als nichtsnutzig beschrieben …

Dass es im Fußball nicht immer nett zugeht, ist ja keine neue Erkenntnis. Aber doch eine, für die es allzu viele Beispiele gibt. Zum Beispiel 2017, als über meinen Kopf hinweg beschlossen wurde, dass ich von Almelo nach Bergamo wechseln sollte. Niemand hat mich damals gefragt, ob ich Lust dazu hatte oder mir das zutrauen würde. Nein, da raschelten die Geldscheine, und der Mensch Robin wurde zum Transferobjekt Gosens.

Zwei Jahre später sagte Luca Percassi , als er mich nicht zu Schalke ziehen ließ, zu mir: „Ich führe ein Wirtschaftsunternehmen.“ Und in diesem Wirtschaftsunternehmen war ich nun mal eine Ware, die ihren Wert hatte. Nicht Robin, der sich gerne seinen Kindheitstraum erfüllt hätte. Das ist wohl so, aber das heißt nicht, dass ich mich daran gewöhnen möchte. Oder werde. Ich würde ohne mit der Wimper zu zucken auf die Hälfte meiner Einnahmen verzichten, wenn es im Fußball wieder menschlicher zugehen würde. Mit „menschlicher werden“ meine ich nicht die Tatsache, dass wir im Prinzip Objekte mit einem Preisschild sind. Zu wissen, dass man in der Bilanz eines Vereins als immaterieller Vermögensgegenstand aufgeführt wird, der jedes Jahr an Wert gewinnt oder verliert, ist nicht schön, aber na ja, so läuft der Hase eben. Das wusste ich vorher. Letztlich profitiere ich ja auch durch einen mehr als ordentlichen Vertrag vom System, gar keine Frage. Ich schwimme auf dieser Welle mit und sage nicht: „Nein, ich unterschreibe diesen so hoch dotierten Vertrag nicht, weil ich nicht als Objekt gesehen werden möchte.“ Mit jedem Vertrag, den ich unterschreibe, akzeptiere ich, dass sich an diesem System wenig ändert. Aber darüber hinaus meine ich schon, dass zu oft vergessen wird, dass da eben doch ein Mensch hinter dem Spieler-Objekt steckt, siehe oben. Bleiben wir beim Beispiel Wadenverletzung: Denkt ihr, ich wurde während der ganzen Zeit einmal gefragt, was ich selbst am liebsten gemacht hätte, was mein Gefühl bei der Sache war? Ob ich lieber beim DFB bleiben oder zurück nach Bergamo wollte? Keiner hatte eine Ahnung, um was für eine Verletzung es sich eigentlich handelte, aber Atalanta wollte mich unbedingt in seiner Obhut haben, damit ich nicht auf die Idee komme, ein Spiel für die Nationalmannschaft zu bestreiten und wieder etwas zu riskieren. Verständlich? Ja, denn ich stehe bei Atalanta auf der Gehaltsliste. Nervt es mich? Ja, weil ich das Gefühl hatte, dass mir beim DFB besser geholfen worden wäre. Es geht mir um Kleinigkeiten, die einem Spieler zeigen, dass er als Person wichtig ist und wertgeschätzt wird. Dass nicht nur die Leistung auf dem Platz zählt, damit der Profit beim Weiterverkauf maximal hoch ausfällt. Die Frage ist doch: Warum muss denn das eine das andere ausschließen? Das Wertschätzen einer Person kann doch problemlos mit dem maximalen Ertrag beim Verkauf eines Spielers einhergehen.

Ein anderes Beispiel. Oma und Opa, Mama und Papa sind die besten Menschen, die ich kenne. Mit Abstand. Sie haben alles für mich getan, mir alles ermöglicht, mir alles beigebracht. Auch wenn das beim Fußball manchmal zu Tränen führte. (Ach, Papa, warum musstest du mich auswechseln?) Sie haben es verdient, auf ihren Sohn und Enkel stolz sein zu dürfen, der ja doch ein ganz passabler Kicker geworden ist. Aber das scheinen nicht alle so zu sehen. Ich bin von Mama und Papa so erzogen, anderen Menschen ihre Erfolge zu gönnen. Ich mag es nicht, wenn ich am Wochenende nicht spiele. Aber ich freue mich für meinen Ersatzmann, wenn er ein Tor macht und wir dadurch das Spiel gewinnen. Ich finde es nicht gut, wenn die Bayern zum 14. Mal hintereinander Deutscher Meister werden. Aber ich finde es großartig, wie sich gute Jungs wie Joshua Kimmich oder Leon Goretzka dafür den Hintern aufreißen. Gönnjamin, heißt das heute. Oder Sampdoria Gönnua.

Dass ich mich als Fußballprofi in einer privilegierten Lage befinde, weiß jeder. Deswegen habe ich überhaupt kein Problem damit, für meine Freunde mal ein Essen zu bezahlen, einen auszugeben oder jemandem mit einem Geschenk eine Freude zu machen, im Gegenteil – das bereitet mir große Freude. Mich ärgert aber, wenn ich das Gefühl habe, dass es von den Menschen eingefordert oder verlangt wird, weil ich doch im Geld schwimme. Dass ich mich dafür rechtfertigen soll, das große Glück zu haben und viel Geld zu verdienen. Wenn man mir, direkt oder indirekt, vorwirft, dass ich meine privilegierte Lage nicht zu schätzen wisse und dass es im Vergleich zu anderen Berufen sehr leicht verdientes Geld sei. Vielleicht ist das so. Aber nur weil ich Fußballprofi bin, muss ich nicht zwangsläufig abgehoben sein. Wenn ich mir etwas gönne, möchte ich dafür nicht reflexartig kritische Blicke und abschätzige Worte kassieren, weil ich dafür nicht hart gearbeitet habe.

Dieser Neid frisst Menschen auf.