Der Zettel mit der unmissverständlichen Frage nach der Beute entglitt meinen Fingern und segelte sanft zu Boden. Innerlich verfluchte ich Konstanze, weil sie so bereitwillig meine Adresse herausgegeben hatte. Jedes Schulkind würde erkennen, dass ein Einfaltspinsel wie die Blitzbirne kein Journalist sein konnte. Aber Konstanze waren andere Menschen schon immer reichlich egal gewesen.
Zumindest hatte ich nun Gewissheit. Der Komplize von »Ronnie« war hinter mir her und sogar an meinem Haus gewesen. Daran gab es keinerlei Zweifel mehr. Dann war er wohl auch die Gestalt gewesen, die ihr Gesicht ans Fenster des Qigongstudios gepresst hatte.
Ich sah zu Pablo hinüber. »Du hast den Falschen gebissen«, erklärte ich, und er hob fragend den Kopf. »Warum hast du dir nicht den Bankräuber geschnappt?«
Das war natürlich ungerecht, schließlich hatte Pablo keine Ahnung, wer von den beiden gefährlich war. Oder vielleicht doch? Angenommen, die Blitzbirne war kurz vor dem Postboten ums Haus geschlichen und hatte den Umschlag eingeworfen, und Pablo hatte gewittert, dass dieser Fremde nichts Gutes im Schilde führte. Dann war jedoch der Postbote dazwischengekommen, und mein Verfolger hatte sich schnell hinter der Garage versteckt. Und als der Postbote seine Hand durch den Schlitz gestreckt hatte, war mein Hund der Meinung gewesen, dies sei der Gefährliche von den beiden, und hatte zugeschnappt. Ja, so konnte es gewesen sein.
Ich erschrak, als mir klar wurde, was das bedeutete. Es konnte durchaus sein, dass der Bankräuber immer noch in der Nähe meines Hauses herumlungerte. Mit angehaltenem Atem ging ich zum Wohnzimmerfenster und spähte in den Garten hinaus. Auf den ersten Blick war niemand zu sehen. Vorsichtshalber zog ich dennoch überall die Vorhänge zu und schloss ein gekipptes Fenster.
»Guter Hund«, sagte ich in Richtung Pablo, doch er hatte sich schon wieder zusammengerollt und verstand nun natürlich gar nichts mehr.
Eine unbändige Wut kroch in mir hoch. Was fiel der Blitzbirne ein, einfach hierherzukommen und mein Grundstück zu betreten? Ich beschloss, mich nicht zu verstecken, sondern ihm mit meiner Präsenz zu beweisen, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Wenn es auch überhaupt nicht stimmte.
Also lief ich in den Flur, schlüpfte in Stiefel und Mantel, nahm die Hundeleine vom Garderobenhaken und ging damit zurück ins Wohnzimmer, wo Pablo jetzt hellwach in seinem Bett saß. Gute Ohren schien er ja zu haben, denn er hatte offenbar das leise Klappern der Leine wahrgenommen. Das war beruhigend, da er dann vermutlich auch einen Eindringling hören würde.
Ich leinte den Hund an, der nun erwartungsvoll um mich herumtänzelte, tätschelte seinen Kopf und lobte ihn noch einmal für seine Wachsamkeit. Dann verließen wir zusammen das Haus.
Der Frühling sandte seine allerersten Boten in Gestalt von wärmenden Sonnenstrahlen auf die Erde. Doch ich war viel zu angespannt, um es zu genießen. Lauernd blickte ich mich in der Hofeinfahrt um. Zum Glück war weit und breit kein Bankräuber zu sehen. Und da Pablo keinerlei Anzeichen für eine Irritation zeigte, versteckte er sich vermutlich auch nicht in der Nähe.
Daher wagte ich es, mein Grundstück zu verlassen und ging mutig auf die Straße hinaus. Pablo trippelte beschwingt neben mir her, und erst jetzt fiel mir auf, dass dies unser erster gemeinsamer Spaziergang war, seit er bei mir lebte. Ich war froh, dass ich mich für einen so großen Hund entschieden hatte, dem man nicht ansah, dass er eigentlich das Wesen eines bretonischen Zwergschafs hatte. Einmal abgesehen von Begegnungen mit unangenehmen Männern.
Immer wieder drehte ich mich um und vergewisserte mich, dass niemand uns folgte. Nach ein paar Metern entspannte ich mich zusehends und lenkte unsere Schritte in den nahe gelegenen Stadtpark. Außer uns waren noch ein halbes Dutzend weitere Menschen mit ihren Hunden unterwegs, die offenbar das schöne Wetter nutzen wollten. Ich stellte befriedigt fest, dass alle respektvoll Abstand hielten, doch Pablo war so begeistert darüber, Artgenossen zu treffen, dass er mich an der Leine zu jeder Bulldogge, jedem Labrador und jedem Australian Shepherd zog und diese beglückt beschnupperte. Ich versicherte den jeweiligen Tierhaltern stets, dass Pablo ein ganz Lieber sei und nichts tun würde, was ja nicht ganz der Wahrheit entsprach. Pablo war kein niedliches Hündchen, sondern ein kräftiges Tier, das Ehrfurcht erweckte. Das war mir natürlich nur recht. Wenn die Hundehalter dann merkten, dass er einen gutmütigen Charakter hatte, tauten sie auf, und manche strichen ihm sogar übers Fell, was er sich gern gefallen ließ.
Interessanterweise hatte Pablo nicht mit allen Männern Schwierigkeiten, denn nur bei einem fing er an zu knurren, als dieser mir nahe kam, um mir ein Foto seines früheren Hundes, einer Dogge, auf dem Handy zu zeigen. Offenbar hatte Pablo einen ausgeprägten Beschützerinstinkt. Ich war dennoch froh, wenn männliche Hundebesitzer sich bald wieder auf den Weg machten, schließlich wollte ich nicht noch eine weitere Arztrechnung bezahlen. Die Haftpflichtversicherung um den Punkt Hund zu erweitern, würde ich unbedingt als Erstes erledigen.
Der Stadtpark war noch kahl, nur ein paar Fichten setzten Farbtupfer in dem Grau aus blattlosen Ästen und wintermüdem Gras. Dennoch tat mir die klare, sonnige Luft gut. Ich atmete tief ein und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
Es war klar, dass ich mich ab jetzt tatsächlich in Gefahr befand. Pablo würde mir einen gewissen Schutz bieten, aber hundertprozentig sicher war ich nicht. Denn der Bankräuber würde keine Ruhe geben, bis er sein Geld hatte, so viel war sicher.
Das Einfachste wäre natürlich gewesen, ihm seine Beute zurückzugeben, aber so weit war ich noch nicht. Immerhin hatte ich eine Menge Verpflichtungen, und in die Galerie zurückkehren wollte ich im Moment auf keinen Fall. Zu gut gefiel mir die Freiheit, lauter neue Dinge auszuprobieren.
Ich überlegte, ob ich dem Bankräuber einen Deal anbieten sollte, verwarf den Gedanken aber wieder, als ich mir seinen impulsiven Charakter in Erinnerung rief. Das Wort Kompromiss hielt er vermutlich für einen Ausdruck menschlicher Schwäche gegenüber einem Gegner, den man genauso gut mit einem gezielten Faustschlag niederstrecken konnte.
Pablo blieb gelegentlich stehen, beschnupperte einen knorrigen Fichtenstamm oder ein Grasbüschel, fand offenbar hier und da interessante Duftmarken und hob geschäftig sein Bein, um selbst einige Stellen zu markieren.
Ich ließ ihn gewähren, blickte währenddessen nachdenklich in den klarblauen Winterhimmel, und plötzlich wusste ich, was zu tun war.
Pablo war gerade in eine aufregende Schnüffelspur versunken und ließ sich erst nach heftigem Ziehen an der Leine und einem weiteren Leckerli dazu bewegen, mit mir zu kommen. Wir gingen auf direktem Weg nach Hause, da ich meinen Plan so schnell wie möglich in die Tat umsetzen wollte. Und wie immer, wenn man in eine neue Idee verliebt ist, war auch ich in diesem Moment davon überzeugt, dass sie mich aus meiner Zwickmühle herausführen würde.
Der Nachhauseweg erschien mir deutlich länger als der Hinweg. Selbstverständlich kam mir in meiner Wohnstraße, kurz bevor ich das rettende Haus erreicht hatte, auch noch Herr Pauly entgegen, ein älterer, an sich liebenswerter Herr, der jedoch den Nachteil hatte, dass er über Zeit verfügte. Sehr viel Zeit. Und bereit war, diese mit allen Nachbarn zu teilen.
Zunächst einmal bewunderte Herr Pauly ausgiebig meinen neuen Mitbewohner, während ich ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trippelte.
Er wollte wissen, was für eine Rasse es sei, wie viel so ein großer Hund fraß, was das Futter kostete und ob er denn schon auf seinen neuen Namen hören würde.
Ich beantwortete seine Fragen höflich, aber mit wachsender Ungeduld. Als Herr Pauly sich auch noch äußerst wissbegierig zeigte, wie so ein Tier heutzutage abgerichtet wurde, und mir ausgiebig von seinem früheren Jagdhund berichtete, der seinerzeit der beste Aufstöberer von Enten gewesen sei, den die Stadt je gesehen hatte, verabschiedete ich mich schroff mit der Bemerkung, dass ich Vegetarierin sei (was nicht ganz stimmte), meinen Hund gewaltfrei erziehen würde (was noch zu beweisen war) und ich im Übrigen gerade überhaupt keine Zeit hatte. So ließ ich einen verstört dreinblickenden alten Nachbarn zurück, der sicher nicht oft Gelegenheit hatte, mit anderen Menschen zu sprechen. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Da ich es mir aber mit dem an sich netten und harmlosen Herrn Pauly nicht verscherzen wollte, drehte ich mich im Weggehen noch einmal um und rief: »Kommen Sie uns doch mal auf einen Kaffee besuchen, da freut sich Pablo bestimmt!«
Sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Morgen? Morgen Nachmittag hätte ich Zeit!«
Ich seufzte innerlich, nickte ihm aber zu und beeilte mich, zu meinem Haus zu kommen.
Wenn du selbst einmal alt und einsam bist, würdest du dich auch freuen, wenn irgendjemand dich mal einlädt, sagte ich mir und hatte gleich wieder bessere Laune. Schließlich wollte ich in meinem Sabbatjahr auch meine sozialen Kompetenzen verstärken, zumal meine Mutter ohnehin etwas Besseres zu tun hatte. Und damit einfach in der Nachbarschaft anzufangen und nicht gleich nach Bolivien oder Äthiopien zu fahren, schien mir als Ausgangspunkt naheliegend.
Im Haus ließ ich Pablo von der Leine, legte Mantel und Schuhe ab und folgte meinem Hund in die Küche. Nachdem ich eine große Portion seines Futters in den Napf gefüllt und er sich darüber hergemacht hatte, schnappte ich mir das Smartphone und setzte mich damit in einen Sessel mit Blick auf den japanischen Garten. Die Nummer, die ich wählen wollte, war noch gespeichert.
Die Kommissarin meldete sich sofort.
»Guten Tag, Frau Ritter, hier ist Vera van den Broek«, sagte ich mit fester Stimme.
»Frau van den Broek, wie geht es Ihnen?« Da war es wieder, das warme, verständnisvolle Timbre der Kommissarinnenstimme, das jeden Verbrecher sofort geständig machte. Nur hoffentlich nicht mich. Ich erschrak, dass ich mich offenbar schon ganz selbstverständlich zu den Verbrechern zählte.
»Danke, an sich geht es mir gut, nur …« Ich tat, als zögerte ich, einen ungeheuerlichen Gedanken auszusprechen.
»Nur?«, hakte die Kommissarin aufmerksam nach.
»Nun ja, ich weiß nicht … wahrscheinlich ist es totaler Blödsinn.«
Ich hörte regelrecht, wie die Kommissarin hellhörig wurde und sich aufrecht hinsetzte. »Nein, nein, erzählen Sie ruhig.«
»Also, ich … ich fühle mich … verfolgt«, fuhr ich fort.
»Gibt es irgendeinen Anlass dafür?«
Ich erzählte ihr von meinem Qigongkurs und der Gestalt, die ich am Fenster gesehen hatte. Und dass ich glaubte, es wäre der Bankräuber gewesen. Und wie sehr ich seitdem irritiert war. Den Zettel in meinem Briefkasten erwähnte ich natürlich nicht.
Kommissarin Ritter hörte sich alles ruhig an und schwieg. Zumindest so lange, bis ich mich ungeduldig räusperte. Dann deckte sie mit einem Satz treffsicher den Schwachpunkt meines dünnen Konstrukts auf: »Aber warum sollte er das tun?«
Ich war so überrascht davon, meinen Plan offensichtlich nicht ganz zu Ende gedacht zu haben, dass ich nur dümmlich ein einziges Wort hervorbrachte. »Was?«
»Warum der Bankräuber Sie verfolgen sollte?«, präzisierte die Kommissarin ruhig, aber mit leicht gereiztem Unterton. Sie schien misstrauisch geworden zu sein, und ich ärgerte mich über meinen unnötigen Leichtsinn. »Welchen Grund sollte er dafür haben?«
»Nun, äh … ich … Wissen Sie denn schon, wer er ist?«, versuchte ich, von meinem unzulänglichen Plan abzulenken.
»Nein, der andere Bankräuber schweigt wie ein ganzes Familiengrab«, meinte die Kommissarin genervt. Dieses Mal aber nicht von mir, sondern von der Tatsache, dass Ronnie seinen Komplizen partout nicht preisgeben wollte.
»Sehen Sie«, rief ich, vielleicht eine Spur zu erleichtert. »Das ist es! Er fürchtet, dass ich ihn erkennen könnte. Beim Wegrennen hat er sich doch die Maske vom Kopf gerissen. Ich habe zwar nur sein Zöpfchen erspäht, aber das weiß er ja nicht. Ich könnte ihn womöglich identifizieren, wenn es zu einer Gegenüberstellung kommt. Das will er vielleicht verhindern, indem er mich einschüchtert.«
Ich hatte einmal gelesen, dass Verdächtige sich vor allem dadurch suspekt machen, dass sie besonders viele Details zum Tathergang erzählen, während Unschuldige einfach stringent den Ablauf erzählen. Demzufolge war ich gerade auf dem besten Weg, mich durch mein Geplapper als Verdächtige auszuweisen. Also schwieg ich lieber und betrachtete Pablo, der gerade aus der Küche ins Wohnzimmer getrottet war und sich zufrieden das Maul schleckte.
Das Problem war, dass die Kommissarin ebenfalls schwieg und ich daher ausreichend Zeit hatte, nervös zu werden. Ich war wirklich ein Trottel. Zu gerne hätte ich zu meiner Beruhigung eine Qigongübung gemacht, aber ich konnte das Telefon nicht aus der Hand legen. Der Schweiß trat mir aus allen Poren, und ich stand kurz davor, alles zu gestehen und das Geld zurückzugeben, als die Kommissarin tief durchatmete und endlich wieder sprach. »Könnte was dran sein.«
Ich versuchte, mir dieses Mal nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert ich war. Tatsächlich schaffte ich es ausnahmsweise, einfach gar nichts dazu zu sagen, was zuweilen ohnehin das Beste ist, wie ich mit zunehmendem Alter feststelle. Das Gegenüber neigt dann dazu, das zu ergänzen, was es in diesem Moment am liebsten hören würde. Doch was die Kommissarin dann zum Besten gab, gefiel mir auch wieder nicht.
»Wir könnten ihm natürlich eine Falle stellen. Aber das würde Sie eventuell in Gefahr bringen …«
Erwartete sie etwa, dass ich zustimmen würde? Kein Problem. Das macht gar nichts! Nehmen Sie mich ruhig als Zielscheibe, wenn es der Allgemeinheit dient!
Und im Grunde genommen war es für mich ohnehin am besten, wenn der zweite Bankräuber weiter frei herumlief, denn ansonsten würde er bei seiner Vernehmung vermutlich den Verlust seiner Beute offenbaren. Und die Kommissarin war schlau genug, um sich dann zusammenreimen zu können, wo das Geld war.
»Das möchte ich … nicht so gerne. Ich muss mich … auch noch von der Geiselnahme erholen«, stammelte ich herum.
»Sie haben recht, eine blöde Idee«, antwortete Frau Ritter. »Das wäre Ihnen nicht zuzumuten.«
Täuschte ich mich, oder war da ein leicht ironischer Unterton in ihrer Stimme? Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte?
Ich war als Verbrecherin wirklich vollkommen ungeeignet! Und Geld machte tatsächlich nicht glücklich, schon gar nicht, wenn es illegales Geld war.
»Aber wir lassen öfter mal eine Streife durch Ihre Straße fahren. Dann fühlen Sie sich sicherer. Aber melden Sie sich sofort, wenn Ihnen irgendetwas auffällt. Ich gebe Ihnen meine Handynummer.«
Ich notierte mir die Zahlen und verabschiedete mich unter so vielen Dankesbezeugungen, dass es schon wieder auffällig war. Wäre das Gespräch nicht bald zu Ende gewesen, hätte ich mich noch um Kopf und Kragen geredet.
Immerhin hatte ich das bekommen, was ich beabsichtigt hatte: einen gewissen Schutz vor dem Bankräuber durch vorbeifahrende Streifen. Der Bankräuber würde sich natürlich denken können, dass ich diesen Schutz angefordert hatte, und hoffentlich daraus folgern, dass ich die Beute gar nicht hatte. Denn würde ich sonst die Polizei rufen? Es konnte ja aus seiner Sicht genauso gut sein, dass die Polizei sie in meinem Auto gefunden hatte, dies aber nicht an die große Glocke hängen wollte, da es Täterwissen war.
Allerdings war es fraglich, ob die Blitzbirne überhaupt so viel nachdachte.
In der nächsten Zeit blieb mir daher nichts anderes übrig, als abzuwarten, auf Pablo als meinen natürlichen Beschützer und die Wirkung der Polizeistreifen zu vertrauen und meine angekratzten Nerven durch die neu erlernten Qigongübungen zu besänftigen.